Die Attributionstheorien und artverwandten Konzepte bilden den vorläufigen Abschluss einer langen Tradition des Kausalerkennens, welche seit jeher von besonderer Bedeutung für das menschliche Dasein ist. Es stellt sich die Frage, wie sich ein Wirkungszusammenhang erkennen lässt. Schon immer fragten sich die Menschen, welche Ursache für ein beobachtbares, rätselhaftes Ereignis verantwortlich sei oder welche Wirkungen ein bestimmter Sachverhalt zukünftig evoziere. Der wohl berühmtesten Satz des Ursache-Wirkungsprinzips bzw. der gesamten Philosophiegeschichte stammt von dem französischen Philosophen René Descartes (1596-1650): "Je pense, donc je suis." Da jedoch Latein zu jener Zeit die lingua franka war, trifft man in der Fachliteratur häufig auf die lateinische Übersetzung "Cogito ergo sum." Auf deutsch: "Ich denke, also bin ich" (vgl. Schwanitz, 1999, S. 329).
Kausalität spielt auch in unserem heutigen Denken eine tragende Rolle. So spricht man von der Verantwortlichkeit, die eine Person für ein durch sie ausgelöstes Ereignis trägt, von der kausalen Notwendigkeit, mit der bestimmte Geschehnisse zwangsläufig eintreten müssen, oder von den Gründen, die jemanden zu einer Handlung bewegen. Das Wissen um kausale Beziehungen ist aber nicht nur im alltäglichen Leben relevant; die möglichst vollständige Erfassung objektiv vorhandener Verursachungszusammenhänge stellt das eigentliche Programm fast aller zeitgenössischen Wissenschaften dar. Die Wissenschaftler sind darum bemüht, beobachtbare Phänomene zu beschreiben, zu interpretieren und die Zusammenhänge zwischen Einzelereignissen aufzudecken. Ihr Ziel ist es, Dispositionen zu formulieren, um auf diese Weise allmählich zu verstehen, was die Welt "im Innersten zusammenhält" (vgl. Goethes Faust: Nachtszene). Diese Omnipräsenz und besondere Bedeutung von Verursachungsbeziehungen hat dazu geführt, dass seit der Antike zahlreiche Philosophen den Fragen der Kausalität auf den Grund zu gehen versuchten. Wenn so oft von Gründen, Ursachen und Effekten, Wirkungen, Ergebnissen und von kausalen Gesetzen, Erklärungen sowie Hypothesen die Rede ist, dann stellt sich die Frage, welche grundlegende Konzeption steckt hinter all diesen Begriffen und Redewendungen. Von Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) bis zum heutigen Tag zählen solche Fragen zu den grundsätzlichen und umstrittenen Themen philosophischer Debatten.
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Inhaltsverzeichnis
- Die Anfänge: phänomenale Kausalität
- Einleitung
- Gestaltpsychologie: Die Wahrnehmung von Verursachungszusammenhängen
- Karl Duncker (1903-1940)
- Albert Michotte (1881-1965)
- Entwicklungspsychologie: Die Entwicklungsstufen der Intelligenz
- Jean Piaget (1896-1980)
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit den Anfängen der phänomenalen Kausalität und beleuchtet die historischen Wurzeln und die grundlegenden Konzepte, die zur Erforschung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in der Psychologie geführt haben.
- Die Rolle der Kausalität im menschlichen Denken und Verhalten
- Die Entwicklung des Kausalerkennens in der Gestaltpsychologie
- Die Bedeutung von Attributionstheorien für das Verständnis von Kausalzuschreibungen
- Der Einfluss der Entwicklungspsychologie auf die Erforschung der Kausalität
- Die Frage nach der subjektiven Konstruktion von Ursache und Wirkung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Anfänge: phänomenale Kausalität
Das erste Kapitel führt in das Thema der phänomenalen Kausalität ein und beleuchtet die historische Bedeutung von Kausalerkenntnissen für das menschliche Dasein. Es werden wichtige Philosophen wie René Descartes und Aristoteles erwähnt und die Bedeutung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in der wissenschaftlichen und alltäglichen Welt hervorgehoben.
Gestaltpsychologie: Die Wahrnehmung von Verursachungszusammenhängen
Dieses Kapitel widmet sich der Gestaltpsychologie und ihren Beiträgen zur Erforschung der Wahrnehmung von Kausalität. Es werden die Arbeiten von Karl Duncker und Albert Michotte vorgestellt, die sich mit der Wahrnehmung von Bewegung und den damit verbundenen Kausalzuschreibungen auseinandersetzten.
Entwicklungspsychologie: Die Entwicklungsstufen der Intelligenz
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Entwicklungspsychologie und der Rolle von Jean Piaget in der Erforschung der Entwicklung des Kausalerkennens. Es werden die verschiedenen Stufen der kognitiven Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Fähigkeit, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu verstehen, erläutert.
Schlüsselwörter
Phänomenale Kausalität, Gestaltpsychologie, Entwicklungspsychologie, Attributionstheorien, Kausalerkennen, Wahrnehmung, Intelligenzentwicklung, Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, subjektive Konstruktion.
- Quote paper
- Heiko Sieben (Author), 2002, Die Anfänge: Phänomenale Kausalität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7955