Innerhalb der Diplomarbeit beschäftige ich mich mit dem Thema der Autonomie
innerhalb des oben genannten „innovativen Umgang“ mit Personen mit Demenz und
dem Autonomiebegriff im Zusammenhang mit einer Demenz im Allgemeinen. Die zu
beantwortende Fragestellung, mit der ich mich innerhalb dieses Themenkomplexes
während meiner Diplomarbeit beschäftige, ist folgende: Welche Autonomiekonzepte
werden beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz zugrunde gelegt und
wie muss ein Autonomiebegriff beschaffen sein, der für Menschen mit Demenz
zugrunde gelegt werden sollte?
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Vorstellung der Fragestellung und Erläuterung der Fragestellung
2. Erläuterungen zum methodischen Vorgehen innerhalb der Diplomarbeit
2.1 Auswahl der Literaturbeispiele anhand eines Kategoriensystems
2.1.1 Kategoriensystem zur Auswahl
2.1.2 Darstellung des theoretischen Bezugsrahmens des Kategoriensystems
2.2 Rekonstruktion der Grund gelegten Autonomiekonzepte
2.2.1 Die Methode der objektiven Hermeneutik
3. Darstellung des theoretischen Bezugsrahmens der Diplomarbeit
3.1 Psychologische Aspekte des Alterns
3.1.1 Skizzierung psychosozialer Theorien des Alterns
3.1.2 Theoretische Auseinandersetzung mit Persönlichkeit und Altern
3.1.3 Skizzierung der Validation als Entwicklungstheorie
3.2 Soziologische Aspekte des Alterns
3.2.1 Makroperspektivische Aspekte: Alte Menschen in der Gesellschaft
3.2.2 Mesoperspektivische Aspekte: Alte Menschen in Heimen
3.3 Darstellung des Phänomens der Demenz nach Kitwood
3.4 Das Konzept der dezentrierten Autonomie Honneths
3.5 Skizzierung der Theorie der Anerkennung Honneths
4. Erste Schlussfolgerungen aus den theoretischen Auseinandersetzungen
5. Rekonstruktion der Grund gelegten Autonomiekonzepte der ausgewählten Literatur
5.1 Akzeptierende, gefühlsorientierte Konzepte in Beiträgen zum Umgang und zur Kommunikation mit Menschen mit Demenz
5.1.1 Kommunikationsregeln nach Mueck
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse der Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
5.1.2 Das ABC Motto nach Powell
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse der Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
5.1.3 Das Konzept der Validation nach Feil
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse der Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
5.2 Konzept der Organisation „innovativer Dementenbetreuung“ des Demenz-Vereins Saarlouis
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse des Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
5.3 Konzepte in Beiträgen zur Architektur für Menschen mit Demenz
5.3.1 Konzept der „Dementengerechte Architektur“ vom Demenz-Verein Saarlouis
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse des Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
5.3.2 Das Konzept „Vergiss-mein-nicht-Garten“ von Pollock
a) Darstellung des Konzeptes und dessen Kontext
b) Analyse des Konzeptes in Bezug auf das zugrunde liegende Autonomiekonzept
6. Beantwortung der Fragestellung
6. 1 Entwurf eines Autonomiekonzeptes für die Soziale Arbeit mit Menschen mit Demenz auf Grundlage der Rekonstruktion und der vorgestellten Theorien Honneths
6.2 Zusammenfassendes Ergebnis der Rekonstruktionen der Grund gelegten Autonomiekonzepte beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz
7. Literaturverzeichnis
Anhang
„Mit Demenz-Kranken kommunizieren (Teil 1: leichte Demenz)“
„ABC Motto“
„Techniken für Stadium IV. Vegetieren“
„Die Organisation `innovativer Dementenbetreuung´“
„Dementengerechte Architektur“
„Vergiss-mein-nicht-Garten“
1. Einführung
Aufgrund der ideologischen Umdeutung im Zeitalter der Aufklärung wurden „die kognitiven Fähigkeiten bzw. ihre Bedeutung auf ein Podest gestellt, auf dem sie heute noch thronen.“ (Wetzstein o. J., S. 1) Diese Aussage erklärt für Wetzstein, weshalb ein Abweichen vom postulierten Ideal der kognitiven Leistungsfähigkeit so leicht pathologisiert wird und im Zuge dessen in die fast alleinige Zuständigkeit der Medizin fällt. Zudem erfährt medizinische Forschung immer eine Einbettung in den aktuellen gesellschaftlichen Kontext, gestaltet diesen durch Wechselwirkungen mit und nimmt auf ihn Einfluss. Diese Feststellung begründet, im Zusammenhang mit der Idealisierung der kognitiven Leistungen, das Bedürfnis, die Demenz von natürlichen physiologischen Vorgängen im Umfeld des Alterungsprozesses abzuspalten. (vgl. a.a.O., S. 2f)
Menschen die von einer Demenz betroffen sind, sind nicht mehr in der Lage, neue Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Sie haben demnach die Fähigkeit verloren, etwas Neues zu lernen. Im Verlauf des Fortschreitens der Demenz tritt das Bewusstsein über den Gedächtnisabbau zwar in den Hintergrund, die Betroffenen leiden dennoch unter den daraus resultierenden Folgen. Auch im Langzeitgedächtnis verankerte Erinnerungen gehen mit fortschreitender Demenz verloren. Aufgrund dieser Gedächtnisstörungen kommt es zum Verlust der Urteilsfähigkeit und des Denkvermögens, als logische Konsequenz der Lücken in der Erinnerung. Demente Menschen sind ab einer gewissen Phase der Demenz nicht mehr in der Lage logische Schlussfolgerungen zu vollziehen oder auch nur nachzuvollziehen. So kommt es zu Fehldeutungen alltäglicher Situationen, die auch in der mangelnden Fähigkeit Sinneseindrücke zu ordnen oder zu bewerten begründet sind. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Erlebnisfähigkeit und Gefühlswelt der dementen Menschen jedoch erhalten bleiben. Dabei sind die Betroffenen ihrer Gefühlswelt „ausgeliefert“, da die Regulation durch logische Schlüsse nicht mehr möglich ist. Die Lebenswelt von dementen Menschen ist durch Verlustängste geprägt, da sich das Leben als eine Kette von Verlusten (Fähigkeiten, Angehörige, Freunde) darstellt, der keine Hoffnung entgegengesetzt werden kann. Hoffnung würde nämlich bedeuten, den negativen Erlebnissen, positive Erinnerungen entgegen zu setzen, die zeigen, dass es wieder bessere Zeiten geben wird. (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 26-32)
Durch die gestörte Merkfähigkeit und den Gedächtnisabbau, den Verlust der Urteilsfähigkeit und des Denkvermögens und die nicht zu regulierenden Wechselwirkungen von Denken und Fühlen erklärt man sich das Aufkommen spezifischer Handlungsweisen bei Menschen mit Demenz. Es wird beobachtet, dass demente Menschen immer gleiche Fragen, Floskeln oder Handlungen wiederholen, da ihnen nicht bewusst ist, dass die Frage bereits gestellt, die Floskel bereits gesagt oder die Handlung schon vollzogen wurde. Durch die entstehende Nervosität und Anspannung, die in der fehlenden Orientierung begründet werden, kommt es zu Unruhen, welche sich meist durch Hin- und Herlaufen ausdrücken. Das Wandern ist dabei nicht nur Ausdruck der Unruhen, sondern eine Strategie, um diesen zu begegnen. Durch das Laufen wird die Anspannung gelindert da die Menschen das Gefühl haben, sie können das Laufen aktiv kontrollieren und damit den Ängsten, die nicht kontrollierbar sind, aktiv etwas entgegensetzen. Durch den Abbau der kognitiven Fähigkeiten kann es aufgrund der Fehldeutungen im Alltag zu wirklichkeitsfremden Überzeugungen und Sinnestäuschungen kommen. Aufgrund der Angst, die die dementen Menschen verspüren und der sie ausgeliefert sind, sind auch aggressive Verhaltensweisen zu beobachten. (vgl. a.a.O., S. 32-39)
Die „alte Kultur“ der Pflege und Betreuung dieser Menschen, die von der medizinischen Sicht dominiert wurde und die die oben aufgeführten Defizite in den Fokus der Betrachtungen rückte, wird heute von der „neuen Kultur“, dem psychosozialen Modell der Demenz abgelöst. Dem vormals linearen Denken wird nun ein ganzheitliches Denken gegenübergestellt das von der Vorannahme ausgeht, dass jeder Mensch mit Demenz eine einzigartige Ganzheit aus Geist, Seele und Körper ist. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Person mit ihrer Individualität in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Der „innovative Umgang“ mit Menschen mit Demenz huldigt dieser „neuen Kultur“ und verfolgt somit einen person-orientierten Ansatz, der in der Konsequenz einen milieuorientierten Ansatz nach sich zieht.
1.1 Vorstellung der Fragestellung und Erläuterung der Fragestellung
Innerhalb der Diplomarbeit beschäftige ich mich mit dem Thema der Autonomie innerhalb des oben genannten „innovativen Umgang“ mit Personen mit Demenz und dem Autonomiebegriff im Zusammenhang mit einer Demenz im Allgemeinen. Die zu beantwortende Fragestellung, mit der ich mich innerhalb dieses Themenkomplexes während meiner Diplomarbeit beschäftige, ist folgende: Welche Autonomiekonzepte werden beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz zugrunde gelegt und wie muss ein Autonomiebegriff beschaffen sein, der für Menschen mit Demenz zugrunde gelegt werden sollte?
Bei der Lektüre verschiedener Beiträge zur Pflege von und Sozialarbeit mit dementen Menschen fällt auf, dass die Stärkung der Autonomie und die Erhaltung der Selbstbestimmung als zentrale Ziele der Arbeit mit dementen Menschen benannt werden. Innerhalb dieser Beiträge werden im Gegenzug dazu aber die Defizite dieser Menschen im Zusammenhang mit dem Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten und die daraus resultierenden Folgen in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt[1]. An dieser Stelle drängt sich nach meiner Auffassung, die Frage nach den zugrunde liegenden Konzepten von Autonomie auf, unterstellt man nicht eine sinnleere Verwendung des Begriffes Autonomie. In einem ersten Schritt werde ich deshalb die in der Literatur zugrunde liegenden Autonomiekonzepte beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz rekonstruieren, um damit den ersten Teil meiner Fragestellung zu beantworten.
Ein mir vertrautes Autonomiekonzept ist das Konzept der „dezentrierten Autonomie“ von Honneth. In seinem Text „Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik“ umreißt Honneth ein Persönlichkeitsmodell, bei dem die nicht zu steuernden Kräfte des Unbewussten und des vorgegebenen Sprachsystems nicht als Grenzen der Individualität gesehen werden, sondern als „Konstitutionsbedingungen der Entwicklungen von Ich-Identität“ (Honneth 1993, S. 157). Dazu muss ein Autonomiemodell skizziert werden, welches postulierte Fähigkeiten und Eigenschaften des klassischen Autonomieideals zusammenbringt und abschwächt. Diese Skizzierung erfolgt in drei Dimensionen: das individuelle Verhältnis zur inneren Natur, das individuelle Verhältnis zum eigenen Leben im Ganzen und das individuelle Verhältnis zur sozialen Natur. Honneth ersetzt bei seinem Modell die vormals geforderte Bedürfnistransparenz mit der „Vorstellung der sprachlichen Artikulationsfähigkeit“ (a.a.O., S. 158), das Postulat der „biographischen Konsistenz des Lebens“ (ebd.) mit der „Vorstellung einer narrativen Kohärenz“ (ebd.) des eigenen Lebens und die Prinzipienorientierung durch eine „moralische Kontextsensibilität“. (ebd.) Durch seine Erläuterungen gelangt Honneth zu dem Schluss, dass durch diese Fähigkeiten auch nach den Einwänden der Subjektkritik, die normative Idee der individuellen Autonomie aufrecht zu erhalten ist. (vgl. Honneth 1993, S. 161f)
Im Zusammenhang mit Demenz, deren herausgestelltes Kernelemente heute der Abbau kognitiver Leistungsfähigkeit ist (vgl. Wetzstein o. J., S. 1), stellt sich mir die Frage, ob im Zusammenhang von Demenz von einer Autonomie gesprochen werden kann, der das Modell der dezentrierten Autonomie Honneths zugrunde gelegt wird, da oberflächlich betrachtet alle bei Honneth genannten Eigenschaften oder Fähigkeiten Ergebnis einer kognitiven Leistung des Individuums sind. „Demente leben, [aber] vereinfacht gesagt, zunehmend auf der Gefühlsebene“ (Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 30). Aus diesem Grund muss die affektive Dimension bei Honneths Darstellungen intensiver betrachtet werden, da dort der Ausgangspunkt für den angestrebten Entwurf eines Autonomiekonzepts, das auch Menschen mit Demenz einschließt, gefunden werden könnte.
Darüber hinaus, sieht Honneth nicht nur die Kräfte des Unbewussten als Ermöglichungsbedingung für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gelangung zur Autonomie. Zentral bei Honneth ist auch die soziale Anerkennung. In seiner Theorie der Anerkennung unterscheidet Honneth drei zentrale Anerkennungsweisen, die in ihrer Folge dazu beitragen, dass das Subjekt zu einer positiven Einstellung zu sich selbst gelangt. Dabei sind die grundlegenden Anerkennungsweisen emotionale Zuwendung, kognitive Achtung und soziale Wertschätzung, die das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Selbstschätzung des Subjekts mitkonstituieren. „Weil die Erfahrung sozialer Anerkennung eine Bedingung darstellt, an der die Identitätsentwicklung des Menschen im ganzen hängt, geht mit deren Ausbleiben, der Missachtung also, notwendigerweise die Empfindung eines drohenden Persönlichkeitsverlustes einher.“ (Honneth 1994, S. 86) Betrachtet man die Theorie der Anerkennung Honneths, so rückt unter oben genanntem Aspekt zunächst die Dimension der kognitiven Achtung in den Blick, durch welche die Menschen bestätigt werden in der Annahme, dass ihre eigenen Urteile wertvoll sind. Zentrale Anerkennungsform ist hier die Rechtsgleichheit und die damit verbundene Selbsterfahrung, die gleichen Rechten und Pflichten zu haben wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. Ähnlich wie bei den Ausführungen zur dezentrierten Autonomie stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob durch das Einsetzen eines Betreuers[2] für demente Menschen, gemäß des Betreuungsgesetzes und die damit verbundene Einschränkung der Rechte, die Anerkennungsweise der kognitiven Achtung, wie sie bei Honneth beschrieben ist, überhaupt statt finden kann. Auch die Anerkennung in Form der Sozialen Wertschätzung die an Leistungen gebunden ist, also die Anerkennung der Leistung des anderen als wichtig, wirft im Zusammenhang mit der Darstellung des Verlustes der kognitiven Fähigkeiten der Person mit Demenz und den daraus resultierenden Folgen, die Frage auf, auf welche Leistungen der Menschen mit Demenz sich diese Form der Anerkennung beziehen kann und muss. Der ersten Anerkennungsform, der emotionalen Zuwendung, die sowohl sprachlich, als auch nicht sprachlich erfolgt und die Persönlichkeitsdimension der Bedürfnis- und Affektstruktur betrifft, kommt im Zusammenhang mit einer Demenz eine zentrale Bedeutung zu, so dass dieser Aspekt der Theorie der sozialen Anerkennung im professionellen Kontext meiner Auffassung nach innerhalb der Diplomarbeit näher betrachtet werden muss.
Auf Grundlage der rekonstruierten Autonomiemodelle in der Literatur und des Modells der denzentrierten Autonomie Honneths im Zusammenhang mit den zentralen Anerkennungsweisen bei Honneth wird der zweite Teil der Fragestellung der Diplomarbeit durch die Formulierung eines Autonomiebegriffs, der auch Menschen mit Demenz einschließt beantwortet.
2. Erläuterungen zum methodischen Vorgehen innerhalb der Diplomarbeit
Im Folgenden wird das Vorgehen bei der Datenerhebung, genauer der Datenauswahl und das Vorgehen bei der Datenanalyse beschrieben. Zunächst erfolgt in Kapitel 2.1 die Beschreibung des Vorgehens bei der Auswahl der Literaturbeispiele. Das Kategoriensystems für die Auswahl des zu analysierenden Datenmaterials wird dargestellt und in einem nächsten Schritt der theoretische Bezugsrahmen des Kategoriensystems näher erläutert, um das Material später einbetten zu können. In einem nächsten Schritt wird das Vorgehen bei der Datenanalyse in Anlehnung an das Verfahren der Objektiven Hermeneutik vorgestellt.
2.1 Auswahl der Literaturbeispiele anhand eines Kategoriensystems
Um die zu betrachtende Literatur zu kategorisieren, lehne ich mich an die Darstellung des Demenz-Vereins Saarlouis in seinem Fachbuch „innovativer Umgang mit Dementen“ aus dem Jahr 2000 an. Betrachtet werden hier lediglich Konzepte innerhalb des person-orientierten Ansatzes, „eine[m] Paradigma, in dem der Mensch zuerst kommt …“ (Kitwood 1997, zitiert nach Demenz-Verein Saarlouis, 2000, S. 14), da die Wende zu dieser Einstellung heute noch als epochal gilt und „den gesunden Menschenverstand von Tausenden von Pflegenden und ihre[] alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Dementen [bestätigt].“ (Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 14) Folge der im person-orientierten Ansatz propagierten ganzheitlichen Betrachtung des Menschen mit Demenz ist die Milieuorientierung. Dabei werden die Grundhaltung und die Kommunikation, die Organisation und die Architektur genauer in den Blick genommen. Die Literatur, die ich im Hinblick auf die zugrunde liegenden Autonomiekonzepte analysieren werde, stammt folglich aus oben genannten Bereichen. Es werden Beiträge zur räumlichen Umgebung der dementen Menschen und zur Organisation eines angemessenen Milieus betrachtet und darüber hinaus Beiträge zum Umgang und der Kommunikation mit Personen mit Demenz untersucht. Bei letzterem Punkt wird im Fachbuch des Demenz-Vereins Saarlouis erneut eine Differenzierung vorgenommen. Es wird unterschieden zwischen akzeptierenden, gefühlsorientierten Konzepten und veränderten, geistorientierten Konzepten. (vgl. Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 38-53) Die verändernden, geistorientierten Konzepte werden in aktivierende Angebote und kognitive Ansätze untergliedert. Diese Konzepte werden allerdings nur selten als Gesamtkonzept verwandt und sind nur der Vollständigkeit halber aufgeführt. Nach dem Demenz-Verein Saarlouis handelt es sich bei diesen Konzepten zwar um Klassiker und sie wurden von akademischer Seite in die Diskussion mit eingebracht und begleitet, sie führen aber bereits nach dem ersten Stadium einer Demenz zu Überforderungen und Unwohlsein bei den dementen Personen. (vgl. a.a.O., S. 53) Darüber hinaus folgen sie mit ihren formulierten Zielen und der angewandten Methodik, meiner Einschätzung nach nicht den Forderungen, die beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz formuliert werden (vgl. Kapitel 2.1.1) und werden deshalb von mir nicht berücksichtigt.
Innerhalb der akzeptierenden, gefühlsorientierten Konzepte wird zunächst das Kommunikationskonzept von Mueck betrachtet. Er formuliert in seiner Veröffentlichung Kommunikationsregeln für die Kommunikation mit Menschen mit Demenz, wobei er dabei zwischen drei Stadien der Demenz unterscheidet und ihnen ein je spezifisches Regelwerk für die Kommunikation zuordnet. Das ABC Motto von Powell, welches als Kommunikationshilfe überschrieben ist, ist das zweite Konzept, dass innerhalb meiner Arbeit Beachtung findet. Powell veröffentlicht in ihrem Werk eine, von ihr als Motto bezeichnete Anleitung für Betreuende, die es möglich machen soll, die Kommunikation mit dementen Menschen aufrecht zu erhalten und positiv zu gestalten. Dabei unterscheidet sie nicht zwischen verschiedenen Stadien der Demenz, sondern unterscheidet während der Darstellung des Kommunikationsvorgangs Phasen, innerhalb derer der Kommunikationsvorgang gestört sein kann. Die Darstellung der Phasen ist dem eigentlichen ABC Motto jedoch vorgeschoben und die Anwendung dieses Prinzips damit auf den ersten Blick auch unabhängig davon, in welcher Phase die Kommunikation scheitert. Trotz ihrem eigenen Einwand, es gäbe keine Patentrezepte für die gelingende Kommunikation mit Menschen mit Demenz, formuliert sie ein scheinbar universalistisches Prinzip, welches zur gelingenden Kommunikation mit Menschen mit einer Demenz beitragen soll.
Darüber hinaus ist der Herausgeber dieses Heftes das Kuratorium für Deutsche Altenhilfe. Es wird demnach von einem führenden Institut innerhalb der Altenhilfe als sinnvoll propagiert, was mich ebenfalls dazu bewogen hat, diesen Beitrag zu betrachten. Abschließend wird in dieser Kategorie das Konzept der Validation nach Feil betrachtet. Dieses Konzept gilt, nicht zuletzt wegen seiner Radikalität, als Klassiker unter den Konzepten in Bezug auf den Umgang mit dementen Personen und markiert die epochale Wende innerhalb der Dementenpflege hin zum person-zentrierten Ansatz. Aus diesen Gründen habe ich mich dazu entschieden, dieses Konzept näher zu betrachten.
Den Beitrag zur Organisation des Milieus liefert das Fachbuch „innovativer Umgang“ mit Dementen“ (2000) des Demenz-Vereins Saarlouis selbst, da dort die als wesentlich erachteten Punkte älterer Beiträge zu diesem Thema zusammengefasst sind.
In Bezug auf die Architektur für Menschen mit Demenz entscheide ich mich einmal für die Darstellung des Konzeptes „Dementengerechte Architektur“ des Demenz-Vereins Saarlouis, da dort, wie schon in dem Beitrag über die Organisation, die wesentlichen Punkte verschiedener Publikationen zusammengefasst sind und für den Beitrag von Pollock „Gärten für Menschen mit Demenz“ (2001), da die Anlegung von Gärten für demente Menschen zur Zeit als viel versprechender Ansatz gesehen wird, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu steigern. Das Werk von Pollock wird darüber hinaus in derselben Reihe wie das Werk von Powell „Hilfen zur Kommunikation bei Demenz“ (2000) vom Kuratorium für Deutsche Altenhilfe herausgegeben.
Die Begründung der Auswahl der einzelnen Textsequenzen und deren Position und Funktion innerhalb des zu betrachtenden Konzeptes, erfolgt unter Kapitel 5 im jeweiligen b)-Teil und wird der Analyse vorangestellt.
2.1.1 Kategoriensystem zur Auswahl
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.1.2 Darstellung des theoretischen Bezugsrahmens des Kategoriensystems
Die Einbettung des zu analysierenden Materials macht es notwendig an dieser Stelle den person-orientierten Ansatz innerhalb der Dementenpflege vorzustellen, auch deshalb, da dieser die Logik des oben vorgestellten Kategoriensystems vorgibt. Darüber hinaus fragt das Arbeitsthema explizit nach den zugrunde liegenden Autonomiekonzepten beim „innovativen Umgang“ mit Menschen mit Demenz. „Innovativer Umgang“ mit Personen mit Demenz bedeutet die kompromisslose Zugrundelegung des person-orientierten Ansatzes, sowohl bei der Arbeit mit der dementen Person selbst, als auch bei der Organisation der Einrichtung und der architektonischen Gestaltung der baulichen Rahmenbedingungen. Neben dem theoretischen Bezugsrahmen des Kategoriensystems bildet dieses Kapitel also auch eine der drei grundlegenden theoretischen Auseinandersetzungen der gesamten Arbeit und wird in Kapitel 3 nicht gesondert aufgeführt.
In den sechziger Jahren legte Naomie Feil mit ihrem Konzept der Validation den Grundstein für den person-orientierten Ansatz bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz, in dem sie forderte, dass sich die Person mit Demenz nicht länger an die Realität der kognitiv Leistungsfähigen anzupassen hat, sondern sich die geistig leistungsfähigen Menschen flexibel an die subjektive Welt des Menschen mit Demenz anzupassen haben. Zentral war nun der einzelne Mensch mit seiner Geschichte, seinen Gefühlen und Bedürfnissen und nicht länger der Versuch, den Menschen mit Demenz in Orientierung zu zwingen. (vgl. Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 14f)
Die person-orientierte Pflege von Menschen mit Demenz folgt zehn Grundprinzipien, die als Imperative an die Pflegenden formuliert sind. Die willkürliche Trennung der westlichen Philosophie des Menschen in Körper und Geist darf nicht zur Basis einer ganzheitlichen Pflege des Menschen werden. Die „Satt, Sauber, Still-Pflege“ (Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 15), die aus einer solchen Spaltung resultiert und die, über die körperlichen Bedürfnisse hinausgehende, weitere Grundbedürfnisse des Menschen, wie Sicherheit, Zuwendung und Liebe etc. vernachlässigt, kann gerade im Zusammenhang mit einer Demenz schwerwiegende Folgen haben. Daher lautet der erste Imperativ: „Beachte die ganze Person!“ (ebd.)
„Sieh jeden Menschen als einzigartig an!“ (a.a.O., S. 16) Durch Vorstellungskraft, Empathie und Biografiekenntnisse sollen die Hindernisse des Pflegealltags dahingehend überwunden werden, den Mensch mit Demenz als einzigartige Person mit einer eigenen Subjektivität wahr zu nehmen, um damit diesem zweiten Imperativ Folge zu leisten.
Der dritte Imperativ betont erneut die Notwendig der Kenntnis der Biografie des dementen Menschen. „Berücksichtige die Biographie!“ (ebd.), fordert der person-zentrierte Ansatz an dieser Stelle, da ansonsten eine wichtige Ressource im Umgang mit dem dementen Menschen verloren geht.
Die Betonung des Positiven und damit verbunden die Grundannahme, dass jeder Mensch über ein gewisses Maß an Ressourcen verfügt, die es zunächst zu erkennen und anschließend zu pflegen und zu stärken gilt, ist die Forderung des vierten Imperatives des person-orientierten Ansatzes, „Betone das Positive!“. (ebd.)
Die Annahme, Menschen mit Demenz würden ihre Kommunikationsfähigkeit gänzlich einbüßen, die Überbewertung der verbalen Kommunikation und die damit einhergehende Nichtbetrachtung der nonverbalen Kommunikation machen es notwendig im fünften Imperativ zu fordern: „Kommuniziere!“ (ebd.), da die Kommunikation das wichtigste „Arbeitsmittel“ (a.a.O., S. 16) der Pflegenden ist.
Die soziale Dimension in Bezug auf den Menschen mit einer Demenz wird in den nächsten beiden Imperativen aufgegriffen. Die sechste Aufforderung bezieht sich darauf Bindungen zu pflegen, da sie unverzichtbar für das Grundbedürfnis nach Sicherheit sind. In diesem Zusammenhang spielt die Angehörigenarbeit eine wichtige Rolle. Der Aufbau eines Gemeinschaftsgefühls und damit das Einbinden des einzelnen Menschen mit Demenz in eine Gemeinschaft, innerhalb der er, neben der Rolle des Kranken, eine Rolle innehat, werden im siebten Grundprinzip des Ansatzes gefordert. (vgl. Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 17)
Der Balanceakt zwischen Ermöglichung von Selbstbestimmung und der Verantwortung für die Gesundheit des dementen Person wird hier durch den Anspruch „Maximiere Freiheit, minimiere Kontrolle!“ (Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 17) tangiert. Es wird gefordert in jedem konkreten Fall individuell die Entscheidung zwischen den beiden Polen Freiheit und Kontrolle anzusiedeln und dies mit allen Beteiligten zu besprechen, damit Einigkeit über die aufgestellten Grenzen oder Freiheitsermöglichungen besteht.
Mit der veränderten Sichtweise auf den Menschen mit Demenz, weg von der passiven Rolle des Gepflegten hin zu einer aktiven Rolle eines Menschen, der trotz seiner beeinträchtigten kognitiven Leistungen etwas zurückgeben kann, geht der neunte Imperativ einher, der lautet: „Nimm auch, gib nicht nur!“ (ebd.) Die Pflegenden erfahren im Umgang mit den Personen mit Demenz auch emotionale Zuwendung, die es nicht abzulehnen gilt, sondern die als bereichernd erfahren werden kann.
Der letzte Imperativ fordert die Bewahrung der Moralität. Demente Menschen verarbeiten die gespürte „moralische Qualität“ (a.a.O., S. 18) des sie umgebenden Milieus und handeln entsprechend. Es ist deshalb notwendig den Menschen mit einer Demenz respektvoll durch den Tag zu begleiten und eine Atmosphäre zu schaffen, in der er sich aufgehoben, sicher und akzeptiert fühlt. (vgl. Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 18)
Um nun einen Menschen, wie in diesem Ansatz gefordert ganzheitlich zu betrachten, ist es notwendig auch seine Umgebung mit zu berücksichtigen, sein Milieu. Der Milieubegriff umfasst hier neben dem zwischenmenschlichen Milieu, die Bereiche Organisation und Architektur. Innerhalb des zwischenmenschlichen Milieus sind die Grundhaltung und die Kommunikation die gestaltenden Elemente der Umgebung. Die Strukturierung des Alltags und die Setzung von Schwerpunkten innerhalb eines Tages machen die Organisation des Milieus erfahrbar. Die Architektur des Umfeldes schafft Möglichkeiten und Grenzen vor denen sich die konkrete Arbeit mit dem Menschen mit Demenz entfaltet. „Das milieutherapeutische Ziel für Demente ist es … ein Klima zu schaffen, das eine gute Mischung zwischen freundlicher Stimulation und beruhigender Reizabschirmung bietet.“ (Demenz-Verein Saarlouis 2000, S. 30) Um dies zu erreichen ist es unabdingbar, dass alle drei Komponenten, die das Milieu gestalten, in dieselbe Richtung weisen. Dennoch ist ein förderliches Milieu mehr als die Addition eines förderlichen Umgangs, einer förderlichen Architektur und einer förderlichen Organisation. „Es muss die Vision eines person-orientierten Verständnisses zuerst da sein, erst dann können fachliche Details im Bereich Organisation und Architektur erfühlbar zusammenwirken.“ (a.a.O., S. 31)
In Bezug auf die Milieuorientierung lässt sich festhalten, dass sowohl die Anliegen der Bewohner, als auch der Pflegekräfte angemessen berücksichtigt sein müssen. Das macht es erforderlich, alle Bereiche die das Milieu betreffen, wie Organisation, Kommunikation und Grundhaltungen und Architektur, konzeptionell zu erfassen, so dass sie zusammenwirken können. Innerhalb des zwischenmenschlichen Milieus müssen die Ressourcen des einzelnen dementen Menschen im Vordergrund stehen und nicht seine Defizite. Für die Organisation lässt sich resümieren, dass die Bedürfnisse des einzelnen Menschen mit Demenz vor den körperlichen Pflegeaspekten anzusiedeln sind. Architektonisch soll die Umgebung wohnlich gestaltet sein, so dass sowohl das Langzeitgedächtnis, als auch die emotionale Empfindlichkeit angesprochen werden.
2.2 Rekonstruktion der Grund gelegten Autonomiekonzepte
Die Auswahl der Literaturbeispiele und das zugrunde gelegte Kategoriensystem mitsamt theoretischem Bezugsrahmen wurden in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt. Die Rekonstruktion der Autonomiekonzepte innerhalb der Literaturbeispiele erfolgt später in einem Zweischritt. Zunächst wird die ausgewählte Literatur paraphrasiert, um die später zu analysierenden Textstellen auszuwählen und diese für die Analyse kontextualisieren zu können. Die Auswahl der Textstellen wird jeweils separat im entsprechenden Kapitel begründet. In einem zweiten Schritt werden ausgewählte Sequenzen der gewählten Texte dann, in Anlehnung an die Methode der objektiven Hermeneutik, auf ihre latenten Sinnstrukturen, in Bezug auf die zugrunde liegenden Autonomiekonzepte, hin analysiert.
2.2.1 Die Methode der objektiven Hermeneutik
Die objektive Hermeneutik ist sowohl eine Wissenschaftstheorie als auch eine Methodologie, soziologische Grundlagentheorie und forschungspraktische Kunstlehre. Grundsätzlich bezeichnet der Begriff der objektiven Hermeneutik nicht vorrangig eine konkrete Methode der Analyse. Es geht vielmehr darum über die soziale Wirklichkeit zu sprechen durch das Material der sozialen Wirklichkeit (Protokolle), um dadurch die objektive Bedeutung erfassen zu können.
Oevermann legt der objektiven Hermeneutik folgende Theorien mit den dazugehörigen Thesen zugrunde. Er bezieht sich einerseits auf Marxs Kritik der politischen Ökonomie und das Postulat, dass sich der Mensch an das Material hält und nicht an Ideen. Darin ist die Zuordnung der objektiven Hermeneutik zur materialen Soziologie zu begründen. Des Weiteren bezieht er sich auf die Psychoanalyse Freuds und die Entwicklungstheorie Piagets und deren Erkenntnisse, der phasenhaften Entwicklung, die Anerkennung der psychischen Instanzen und der Koppelung der Entwicklungsphasen an die psychomotorische Entwicklung. Darüber hinaus legt er die These der elementaren Strukturiertheit von Sozialität von Lévi-Strauss, sowie Bernsteins und Chomskys Theorien sprachlicher Sozialisation mit ihren milieuspezifischen und schichtspezifischen Sprachmuster und den Theorien zum Erwerb der Transformationsregeln der Sprache, zugrunde. Oevermann stellt bei seinen Betrachtungen das autonome Subjekt in den Mittelpunkt und bezieht sich dabei auf das Identitätsmodell Meads. All diese Theorien weisen zwei Gemeinsamkeiten auf: sie verweisen zum einen auf die genetische Struktur der Sozialität und zum anderen auf die Strukturen, die durch Sozialisation hervorgebracht werden. (vgl. Oevermann 1976, S. 34)
Zentrale Annahme der objektiven Hermeneutik ist die objektivitätserzeugende Funktion von Sprache und Symbolen, die als Vermittlungsmedien stets zwischen zwei Subjekten stehen. Da alles einer sprachlichen Verfasstheit folgt, ist die zentrale Idee der objektiven Hermeneutik, die Welt als Text zu betrachten.
Gegenstand der objektiven Hermeneutik sind latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten. Unter dem Begriff Ausdrucksgestalten werden alle Daten zusammengefasst, innerhalb derer sich die Welt für die Geisteswissenschaften präsentiert, wobei das nicht im Sinne von praktisch zugänglich geschieht, sondern im Sinne von rekonstruierbar. „Unter dem Gesichtspunkt der Strukturierung von Sinn und Bedeutung, also dessen, was sie symbolisieren, werden Ausdrucksgestalten als Texte behandelt.“ (Oevermann 2002, S. 2) Latente Sinnstrukturen bilden innerhalb der Praxis der Ausdrucksgestalten ihre objektive Bedeutung und konstituieren damit die zu untersuchende Wirklichkeit. Es wird bei der Analyse differenziert zwischen den manifest eröffneten und geschlossenen Handlungen, die tatsächlich in der Lebenspraxis vollzogen werden und der objektiven Bedeutung des Datums, welche verdeckt aber dennoch wirksam, also latent ist. (vgl. Kraimer 2007, S. 40-42)
Nach Oevermann unterscheidet sich die objektive Hermeneutik von anderen Methoden der Sozialforschung durch ihr Analyseverfahren, die Sequenzanalyse. Dabei folgt die Sequenzanalyse der Sequenzialität des menschlichen Handelns und des Sozialen an sich. Sequenzialität ist hier verstanden, als „die mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte Schließung vor ausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft.“ (Oevermann 2002, S. 7) Protokolle der Wirklichkeit spiegeln als Ausdrucksgestalt der Lebenspraxis auch immer die Sequenzialität, in der sie entstanden sind wider. Die Sequenzanalyse zollt darüber hinaus, der Einsicht Tribut dass nur dann wirklich gehandelt werden kann, wenn eine Eröffnung und Schließung einer je konkreten Handlung stattgefunden hat. Damit ist die gesonderte Fokussierung der objektiven Hermeneutik auf Öffnungs- und Schließungspraktiken zu erklären. Dennoch ist die Struktur von Öffnung und Schließung nicht ausschließlich bei Textstellen zu beachten, die ausdrücklich in ihrer Bedeutung Öffnungs- oder Schließungssequenzen sind. „An jeder Sequenzstelle werden bis dahin noch offene Möglichkeiten geschlossen und neue Möglichkeiten eröffnet.“ (ebd.)
Durch die gedankenexperimentelle Explikation aller weiterführenden Möglichkeiten, die durch die Eröffnungssequenz möglich werden, entsteht die Grundlage auf der die tatsächlich getroffene Entscheidung zu betrachten ist. Die Sequenzanalyse wird als Methode nicht an das Material herangetragen, sondern korrespondiert mit dem Material. „Tatsächlich muß im praktischen Leben auch im Prinzip an jeder Sequenzstelle unter den noch offenen Optionen in eine offene Zukunft entschieden werden.“ (vgl. Oevermann 2002, S. 8) Innerhalb der Sequenzanalyse ist durch ihr Vorgehen bereits die Gefahr gebannt, dass aufgestellte, nicht zutreffende Strukturhypothesen über die gesamte Analyse hinweg aufrechterhalten werden, da sich die tatsächliche Entscheidung für eine Öffnungs- oder Schließungssequenz unmittelbar im Anschluss zeigt und damit die Hypothese umgehend falsifiziert werden kann. (vgl. a.a.O., S. 8f)
Die Analyse beginnt zwangsläufig mit der Rekonstruktion des objektiven Sinns des Datums. Andernfalls entsteht eine Zirkularität, die ausgehend von dem subjektiv gemeinten Sinn über den objektiven Sinn, der bereits durch die subjektiven Vorannahmen gefärbt wäre, immer wieder auf das Vorverständnis zurück geworfen wäre. Diese Gefahr wird umgangen, indem man bei der objektiven Hermeneutik den Kontext des Materials vorerst außen vor lässt und lediglich betrachtet, was die Ausdrucksgestalt an objektiver Sinnstruktur beinhaltet „und erst dann, auf dieser Folie versucht, begründete Schlüsse über den Kontext zu ziehen, wozu wesentlich der subjektiv gemeinte Sinn der Akteure zu zählen ist.“ (Oevermann 1997, S. 7)
Innerhalb der objektiven Hermeneutik wird zwischen vier Arten von Protokollen der Wirklichkeit unterschieden.
„1. Protokolle in Gestalt von Editionen von Texten als bewußt vorgenommenen Gestaltungen für ein spezifiziertes Publikum und verbunden mit einer Darstellungsabsicht. Dazu gehören auch Beschreibungen.
2. Protokolle auf der Basis technischer Aufzeichnungen einer protokollierten Handlungspraxis. Ohne solche Protokolle würde die protokollierte Wirklichkeit bestenfalls nur noch in der Erinnerung oder in unbeabsichtigten Spuren, Symptomen oder Indizien aufbewahrt sein.
3. Protokolle in Form von Erinnerungen, die in spontanen Erzählungen vergegenwärtigt werden oder psychisch intern reimaginiert werden können. Dazu gehören auch Träume.
4. Protokolle in Form von unbeabsichtigten Objektivierungen von Handlungen und Handlungsfolgen in Symptomen, Spuren und Indizien.“ (a.a.O., S.14)
Diese Texte haben auch unterschiedliche Bestimmungen. Sie dienen zum Konservieren von Wissen über Ereignisse und Personen, zum Nachweis und zur Begründung folgenreicher Entscheidungen, der Weitergabe von Erkenntnissen und Nachrichten, der Verehrung und Anbetung, zur Kommunikation räumlich getrennter Kommunikationspartner, der Unterhaltung und dem Genuss (Kunstformen) und „als Ausdruck um [ihrer] selbst willen“ (a.a.O., S. 15).
Für all diese Texte, unabhängig welcher Klasse sie angehören oder welchen Zweck sie verfolgen, gelten die theoretischen Bestimmungen der objektiven Hermeneutik, auch in Bezug auf ihren Grad an „Alltäglichkeit bzw. Außeralltäglichkeit“ (a.a.O., S. 16).
Die Methode der objektiven Hermeneutik folgt folgenden Prinzipien: der Kontextfreiheit, der Wörtlichkeit, der Sequenzialität, der Extensivität, der Totalität und der Sparsamkeit. Kontextfreiheit als Prinzip bedeutet, dass sich der Analysierende in Bezug auf den Kontext künstlich „naiv“ stellt, um die oben erwähnte Zirkularität zu vermeiden. Es wird versucht den Text an sich, ohne seinen Kontext zu betrachten und nur das vorliegende Material zum Sprechen zu bringen. Es werden unabhängig vom Kontext alle möglichen Lesarten gebildet, um zu einer Aussage bezüglich der Struktur der Sequenz zu gelangen. Das Wörtlichkeitsprinzip besagt, dass nur das interpretiert wird, was tatsächlich vorliegt und lesbar ist. Bei der Lesartenbildung sind solche Lesarten unzulässig, die zwar an das Datum herangetragen werden können, ihm aber nicht selbst entspringen. Nach dem Prinzip der Sequenzialität werden die Ausdrucksgestalten strikt in der Reihenfolge interpretiert, in der sie auftreten. Nachfolgende Textstellen werden bei der Analyse einer zuvorliegenden Textstelle nicht miteinbezogen, sondern es werden lediglich die Begriffe einer Sequenz in ihrem tatsächlichen Bedeutungsgehalt betrachtet. Darüber hinaus werden in einem Protokoll alle, „das heißt jeder noch so kleine und unscheinbare Partikel, in die Sequenzanalyse einbezogen und als sinnlogisch motiviert bestimmt, [wobei keine Äußerungen] durch eine Vorselektion von der Fragestellung her ausgelassen werden, weil es angeblich nicht von Bedeutung sei« (Kraimer 2000, S. 100). Das Prinzip der Extensivität verlangt, dass kleine Textmengen bis zur sinnlogischen Erschöpfung en Detail analysiert werden, wobei nach dem Prinzip der Totalität dies bei bis zu vier Textstellen unabhängig voneinander geschieht, um den Text in seiner Ganzheit zu erfassen. Nach der Sparsamkeitsregel wird bei der Analyse immer Normalität vorausgesetzt, auf deren Folie dann die Fallstrukturhypothese gebildet und am Text nachgeprüft wird. (vgl. Kraimer 2007, S. 18-31)
Die Texte, die ich innerhalb meiner Diplomarbeit betrachte, fallen nach der Beschreibung von Oevermann in die Klasse der Ausdrucksgestalten, die bewusst für ein bestimmtes Publikum gestaltet wurden und haben den Zweck, Erkenntnisse auf einem bestimmten Gebiet weiterzugeben. Sie sind einerseits außeralltäglich, da es sich um Fachliteratur handelt und sie sich mit einem gesonderten, spezialisierten Bereich befassen, der nicht zur Lebenspraxis einer jeden Person gehört. Andererseits sind sie innerhalb des Expertenkreises alltäglich und zählen zur Kategorie des natürlichen Materials, da sie nicht eigens für die Forschung erhoben wurden. Die Analyse der Texte erfolgt in Anlehnung an die Methode der objektiven Hermeneutik, der Sequenzanalyse. Einzelne Teile der Texte werden sequenziell und entlang der oben aufgeführten Prinzipien analysiert. Die Rückkoppelung zur Fragestellung erfolgt also erst dann, wenn die Sequenz unabhängig von ihrem Kontext und unabhängig vom Fokus der Gesamtarbeit analysiert wurde. Manifestiert sich eine aufgestellte Strukturhypothese, so wird diese am weiteren Text überprüft und an dieser Stelle die weitere detailreiche Analyse zu Gunsten einer besseren Praktikabilität aufgegeben. Wird aufgrund der erfolgten Rückkoppelung nach den einzelnen Textstellen an die Fragestellung festgestellt, dass durch die manifestierte Struktur des Textes eine weiterführende Erkenntnis ausgeschlossen ist, wird der Kontext bereits zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis hinzugezogen, nachdem die Suche nach speziell für die Fragestellung fruchtbaren Sequenzen abgeschlossen wurde. Die Aufstellung der Lesarten erfolgt, wie gefordert innerhalb einer Gruppe, um eine Vielzahl von Lesarten und damit die sinnlogische Erschöpfung zu gewährleisten[3].
3. Darstellung des theoretischen Bezugsrahmens der Diplomarbeit
Durch die Fragestellung meiner Diplomarbeit ergeben sich zunächst drei große Themen, die theoretisch betrachtet werden müssen: das Phänomen der Demenz, das Konzept des „innovativen Umgangs“ mit Menschen mit Demenz und der Autonomiebegriff.
Einen der grundlegenden theoretischen Bezugsrahmen meiner Arbeit bildet die Auseinandersetzung Kitwoods mit dem Phänomen Demenz, bei der er das Personsein des dementen Menschen in den Fokus nimmt. Ich habe mich für seine Art der Darstellung des Phänomens der Demenz entschieden und bewusst Abstand von einer medizinisch dominierten Sichtweise auf das Phänomen Demenz genommen, da der Autonomiebegriff und die Anerkennung meiner Auffassung nach eng mit dem Personsein bzw. Personwerden und -bleiben verbunden sind. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass es für einen Professionellen, der im Kontext Sozialer Arbeit mit Menschen mit einer Demenz arbeitet, unwesentlich ist, worin genau die Ursache für die Demenz des Klienten liegt. Wesentlich für seine Arbeit ist lediglich die Lebenswelt des Klienten mit seiner Demenz, wie sie erlitten, erlebt und erfahren wird und wie er innerhalb dieser Lebenswelt zum Gelingen einer, so weit wie möglich, selbst bestimmten Lebensführung beitragen kann.
Die Darstellung des Konzeptes des „innovativen Umgangs“ mit Menschen mit Demenz erfolgt nach dem Demenz-Verein Saarlouis. (vgl. Kapitel 2.1.2) Durch die von dem Verein geforderte ganzheitliche Betrachtung des Menschen mit Demenz erwachsen Anforderungen an das Konzept des „innovativen Umgangs“ mit dementen Personen, die das Potenzial haben, Menschen mit Demenz im Sinne Kitwoods als Personen wahrzunehmen und damit einen Umgang zu ermöglichen, dem ein geeignetes Autonomiekonzept für Personen mit Demenz zugrunde liegt.
Die Grundlage meiner Arbeit in Bezug auf die menschliche Autonomie, bildet Honneths Konzept einer „dezentrierten Autonomie“. Ich habe mich für sein Konzept entschieden, da es die klassischen Vorstellungen von Autonomie und die damit verbundenen Anforderungen erweitert, so dass der Autonomiebegriff trotz der modernen Subjektkritik Bestand hat.
Honneths Theorie der Anerkennung bildet eine weitere Theorie, die grundlegend betrachtet wird, da Anerkennung eine zentrale Bedingung für das Personwerden und die Erlangung von Autonomie ist.
Aufgrund dessen, dass ein wichtiger Aspekt bei dem Konzept der „dezentrierten Autonomie“ von Honneth die narrative Kohärenz ist und auch Feil diesen Aspekt mit ihren Ausführungen zu den verschiedenen Aufgaben in den verschiedenen Lebensphasen aufgreift, ist es wichtig sich in diesem Zusammenhang allgemein mit Phänomen des Alterns auseinanderzusetzen, auch nicht zuletzt, weil Demenz meist im hohen Alter erst auftritt. Bei diesen Betrachtungen setze ich den Fokus einerseits auf psychosoziale Theorien des Alterns, die sich mit der Entwicklung und dem Erleben im Alter befassen und Theorien, die sich die Persönlichkeit im Alter zum Thema machen. Innerhalb dieser Theorien befasse ich mich weiter mit der Validation als Entwicklungstheorie für sehr alte Menschen, da dort auch ein nicht medizinisch dominierter Fokus auf die Gründe für die Verwirrung alter Menschen gesetzt ist. Andererseits fokussiere ich soziologische Theorien, die sich grundlegend mit der Situation älterer Menschen in der Gesellschaft befassen und speziell mit den Strukturen in Heimkontexten, da sich die oben angesprochene Entwicklung und das Erleben innerhalb dieses Makro- und Mesobereiches vollziehen. Grundlage dafür bildet bei meiner Diplomarbeit die soziologische Sicht auf das Altern nach Tews und Witterstätt und die psychologische Perspektive auf Altern nach Lehr. Damit ist gewährleistet, dass das Phänomen des Alterns hier, innerhalb des Rahmens der Arbeit, sowohl auf der individuellen und gesellschaftlichen, als auch auf Mikro-, Meso- und Makroebene betrachtet wird.
3.1 Psychologische Aspekte des Alterns
Die Gerontopsychologie machte sich zunächst die Veränderungen im Alter aus intra- und interindividueller Sicht zum Gegenstand ihrer Betrachtungen und geriet in die Kritik, aufgrund der Defizitorientierung und der Fokussierung des Nachweises des Abbaus von Intelligenz und Leistungsfähigkeit, generell einem biologistischen und technokratischen Menschenbild zu folgen. Es erfolgte ein grundlegendes Umdenken, welches sich in der neuerlichen Fokussierung auf die „Konstanz und Kontinuität im Lebenslauf“ (Tews 1979, S. 11) zeigte. Der Einbezug von sozialen Einflüssen und Einflüssen der Umwelt und die Einsicht in die lebenslange Entwicklung des Menschen öffnete die Gerontopsychologie für Einflüsse der Sozialpsychologie und den Einbezug der Lebenslaufsorientierung. So konnten auch Krisensituationen, die rein strukturell bedingt waren, wie die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit oder der Verlust sozialer Kontakte, zum Gegenstand der Betrachtungen der Gerontopsychologie werden. (vgl. Tews 1979, S. 11f)
3.1.1 Skizzierung psychosozialer Theorien des Alterns
Die psychosozialen Theorien des Alterns sind bei Lehr, in Anlehnung und Verbindung der Einteilungen von Weinert und Schroots, in sechs Gruppen untergliedert. Die Unterteilung erfolgt einerseits nach chronologischen Gesichtspunkten und andererseits nach der Art des, der Theorie zugrunde liegenden, Menschenbildes. Unter chronologischen Aspekten wählt Schroots die Überbegriffe „klassische“, „moderne“ und „neue Theorien“, die Lehr mit den von Weinert eingeführten dispositionierenden Eigenschaften „mechanistisch“; „organistisch“ und „humanistisch“ verbindet. So sind nach Lehr die psychosozialen Theorien des Alterns folgendermaßen zu ordnen: Man gliedert sie in „mechanistische“ Defizitmodelle, die sich mit den altersbedingten Verlusten befassen, Phasen- und Verlaufsmodelle, deren Gegenstand das veränderte Erleben im Alter ist, Theorien erfolgreichen Alterns, die sich mit der Möglichkeit der Steigerung der Lebensqualität im Alter befassen, Wachstumstheorien, die auch im hohen Alter noch Entwicklungspotenzial postulieren, Coping-Modelle, die die spezifischen Formen der Bewältigung und Auseinandersetzung im Alter in den Fokus ihrer Betrachtung rücken, Theorien, die aus kulturanthropologischen Modellen erwachsen sind und letztlich die Theorien, die von einer Multikausalität des Wohlbefindens im Alter ausgehen. (vgl. Lehr 2000, S. 45f)
Den Defizitmodellen und den dazuführenden Studien wurde von Beginn an die Prämisse zugrunde gelegt, dass Altern als ein Veränderungsvorgang begriffen werden muss, während dem sämtliche physiologische Funktionen verloren gehen. So wurden sämtliche Tests und Versuche vor dem Hintergrund dieser Folie betrachtet und unterliegen somit einer biologistischen Perspektive. Die Auswertungen der verschiedenen Versuchsreihen[4] zeigte, dass man in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen formulieren kann, dass es kognitive Komponenten gibt, die sich als konstant, also „altersbeständig“ (Lehr 2000, S. 50) erweisen und Komponenten, die als altersunbeständig bezeichnet werden können. Zu der ersten Kategorie gehören sowohl der Wissensbestand, die Fähigkeit Urteile zu bilden, die Orientierung im Alltag, die Konzentrationsfähigkeit, die Sprachkenntnis und das Bewertungsvermögen. Altersunbeständig, und damit in der zweiten Kategorie anzusiedeln, sind nach den Ergebnissen der Studien das Gedächtnis, die gedankliche Flexibilität, die Fähigkeit zum abstakten und logischen Denken und die Fähigkeit zu kombinieren. Das deutliche Einsetzen dieser Verluste datierten die Forscher auf die Mitte der 5. Lebensdekade. Viele Versuche[5] dieses Phänomen zu erklären blieben in der biologischen Sichtweise verhaftet und erklärten den Intelligenzabbau zur Folge körperlicher Veränderungen und Verluste. Jones führt den Zusammenhang von körperlichen und geistigen Abbauerscheinungen in die Diskussion ein und erwähnt erstmals die Möglichkeit eines Zusammenhangs von sozioökonomischen Gegebenheiten und dem Abbau der Intelligenz im Alter. Die Verbindung von „endogenen und exogenen Faktoren“ (a.a.O., S. 11) werden hier aber dennoch nur in der Form verstanden, dass die sozioökonomischen Faktoren Einfluss auf die körperliche Verfassung und in der Folge einen Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit haben. So kann man hier zwar von einer erweiterten Sichtweise sprechen, die aber dennoch auf die biologische Sicht beschränkt bleibt. (vgl. Lehr 2000, S. 50f) In ihrer Kausalität vermögen diese Theorien demnach die Zusammenhänge von körperlichen Verlusten und Minderung der Intelligenz sichtbar zu machen, sind jedoch nicht in der Lage das Erleben alter Menschen zu verstehen.
Die qualitativen Verlaufsmodelle, zu denen Lehr das Entwicklungsstadienmodell Eriksons, die Theorie des geschlechtsspezifischen Alterns von Gutmann und die Gerodynamik nach Schroots zählt, widmen sich eben diesem Erleben und fragen nach der „Kennzeichnung … [der] qualitativen Veränderungen und nicht [nach] deren Ursachen“ (Lehr 2000, S. 52). Erikson erkennt in seiner Theorie der Lebensphasen auch im Alter an archimedischen Punkten noch „Umstrukturierungen“, ohne die die Bewältigung der Aufgaben des Alters nicht vorzunehmen wäre. Als zentrale Aufgabe im Stadium des Alters nennt er die Erlangung von „Ich-Integrität“, welche als Leitbild verstanden werden muss, das es zu erreichen gilt. Am Grad ihrer Erreichung wird „jede erwachsene Persönlichkeit gemessen“. (ebd.) Entwicklung wird hier begriffen als Auseinandersetzung mit Lebensaufgaben, wobei die Lebensaufgaben aus den physiologischen Voraussetzungen, den kulturellen Werten und gesellschaftlichen Erwartungen und den individuellen Erwartungen und Wertvorstellungen erwachsen. Entwicklung ist demnach ein lebenslanger Prozess und ist mehr als die Ausformung biologischer Entwicklungspotenziale, die Prägung durch die Umwelt oder ein Ergebnis, das sich aus dem Selbstverwirklichungstreben ergibt. Entwicklung ist das Resultat des Zusammenspiels und der wechselseitigen Beeinflussung dieser drei Komponenten. Dabei muss sich der Mensch durch veränderte Situationen stets umorientieren und sich der Situation anpassen, woraus neue Aufgaben erwachsen. Ist die Bewältigung der Aufgabe dominant und lässt andere Facetten des Lebens in den Hintergrund treten, wird sie nach Havighurst zu einer Thematik. Diese wiederum kann sich zu einer Problematik entwickeln, falls sich die Lösung der neuen Aufgabe als zunehmend schwierig gestaltet. In Fällen, bei denen die Aufgabenlösung sich als wahre Entscheidungssituation entpuppt, kann sie zur Konfliktsituation werden. Unabhängig davon, wie sehr sich die Lösung der Aufgabe in der Lebensführung manifestiert, handelt es sich bei allen, Veränderung auslösenden Ereignissen oder Erlebnissen um Stress erzeugende Faktoren. (vgl. Lehr 2000, S. 52-54) Gutmanns Theorie des geschlechtspezifischen Alters beinhaltet die These, dass sich die Persönlichkeitsmerkmale von Frauen und Männer im Alter stark angleichen. Diese Hypothese hat nach Gutmann den Anspruch auf Universalität und hängt direkt mit dem Elterndasein zusammen. Die unterdrückten Impulse beider Elternteile, deren Unterdrückung dazu diente, Kindererziehung zu gewährleisten, treten nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus wieder zu Tage. Die Frau wird aktiver und aggressiver, wohin gegen der Mann sich in die Passivität zurückzieht und es zulässt auf andere angewiesen zu sein. Nach Lehr handelt es sich bei dieser Theorie, um eine recht spekulative, nicht zuletzt da Untersuchungen von Persönlichkeitsveränderungen von älteren Menschen ohne Kinder noch ausstehen. (vgl. a.a.O., S. 54) Schroots gründet seine Theorie der Gerodynamik auf der Chaostheorie und der Systemtheorie und stellt die Hypothese auf, dass es mit zunehmendem Alter in den Systemen zu Unordnung kommt, die letztlich zum Tod dieser Systeme führt. Die Prozesse des zunehmenden Chaos können an einem „Transformationspunkt“ (Lehr 2000, S. 55) durch Selbstorganisation in Ordnung überführt werden. Durch die andauernde Überführung von Chaos in Ordnung durch Selbstorganisation, bildet sich die so genannte „Veränderungsstruktur“ heraus. Die Selbstorganisation vollzieht sich durch „Verzweigungen oder Gabelungen“ (ebd.) an Transformationspunkten, an denen die Entwicklung in eine höhere oder niedrige Ordnung transformiert wird. Dabei sind niedrigere Ordnungen Prozesse, die zu Unwohlsein und letzten Endes zum Tod führen, wohin gegen höhere Ordnungen Verläufe sind, die zu Wohlbefinden und gesteigerter Lebensqualität führen. So kann die Überführung des Chaos in eine höhere Ordnung, an einem Transformationspunkt, der bedrohlich für den Menschen ist, dazu führen, dass der Mensch gestärkt aus dieser Krise heraustritt.
Die Theorie des erfolgreichen Alterns geht von der Annahme aus, dass durch den Eintritt in ein hohes Alter eine Krise ausgelöst wird. Eine hohe Lebensqualität im Alter ist damit Ausdruck der gelungenen Abstimmung mit den veränderten Lebensbedingungen und damit dem Überwinden dieser Krise. Die Theoretiker gehen dabei von einer gefestigten Lebenssituation zum Zeitpunkt des Eintritts in das hohe Alter aus. Als auslösende Momente für die Krise sehen die Forscher, den Eintritt in den Ruhestand, den Wegzug der Kinder, das Auftreten von Krankheiten und den Verlust sozialer Kontakte. Damit haben sie nach Lehr eine wirklichkeitsnahe Vorstellung belastender Faktoren im Alter präsentiert, wobei sie jedoch normativ bewerten, dass das Sich-Arrangieren mit diesen Faktoren zur Erreichung hoher Lebensqualität im Alter, normal sei. Damit werden den Menschen im Alter Fähigkeiten zugestanden, die nicht zwingend in einem früheren Lebensstadium vorhanden waren. Damit ist das erfolgreiche Altern, als „innerer Zustand der Zufriedenheit und des Glücks“ (Havighurst 1963, zitiert nach Lehr 2000, S. 55) ein Anzeichen für gelungene Anpassung an veränderte Lebenssituationen im Alter. Über die Betrachtung der Frage, wie der alternde Mensch erfolgreich altert, haben sich zwei verschiedene Lager herausgebildet, die Anhänger der Aktivitätstheorie und die Anhänger der Disengagement-Theorie. Die Aktivitätstheoretiker gehen von der Annahme aus, dass nur derjenige zufrieden sein kann, der aktiv ist und in seinem Wunsch gebraucht zu werden, bestätigt wird. Havighurst postuliert, dass diejenigen Menschen erfolgreich altern, die lebenslang ausgeführte Aktivitäten auch im hohen Alter beibehalten oder sich zumindest alternative Aktivitäten suchen. Auch die Suche nach Ersatz für geliebte und geschätzte Personen, die verloren wurden, gehört nach Havighurst zu den Voraussetzungen erfolgreichen Alterns. Lemon et al. sahen in Untersuchungen ihre Hypothese bestätigt, dass sich die Aktivität im Alter positiv auf das Selbstbild des alten Menschen auswirkt, wobei ein positives Selbstbild maßgeblich für die Zufriedenheit im Alter ist. Longino et. al. differenzierten die Aktivitäten bei ihren Untersuchungen in formelle, informelle und einsame Aktivitäten und kamen zu dem Ergebnis, dass die informelle Aktivität einen größeren Einfluss auf die Lebensqualität hat als die formelle Aktivität, wobei diese sich aber als förderlicher für die Zufriedenheit im Alter präsentiert als die einsame Aktivität. In diesem Ergebnis lag für Longino et. al. die Bestätigung der Aktivitätstheorie, wie Havighurst sie formulierte. Kritisiert wurde allerdings die Tatsache, dass den alten Menschen nicht immer andere Personen zur Verfügung stehen, auf die sich die Aktivitäten beziehen können und auch die Forderung, die älteren Menschen sollten sich Ersatzpersonen für ihre Aktivitäten suchen, wurde als nichtzumutbar beurteilt. So scheint die Aktivitätstheorie unbrauchbar, um einen Weg des erfolgreichen Alterns aufzuzeigen. (vgl. Lehr 2000, S. 56f) Die Disengagement-Theorie bildet den Gegenpol zu der hier dargestellten Aktivitätstheorie. Sie stellt die Hypothese auf, dass ältere Menschen sich einen Rückzug aus allen sozialen Kontakten wünschen und nur dadurch Zufriedenheit ermöglicht werden kann. Ältere Menschen, die in Aktivität gezwungen werden, geraten in eine Krise, da die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Anforderungen, nämlich denen aktiv zu werden und den eigenen Bedürfnissen, nämlich sich sozial zurück zuziehen, enorm ist. Darüber hinaus inhibieren die Aufrechterhaltung und damit auch die Ausdehnung sozialer Kontakte, die Auseinandersetzung mit dem nahen Tod. Durch die Reduktion der sozialen Kontakte, so die Hypothese der Disengagement-Theorie, erlangt der alte Mensch Freiheit, da er nicht mehr an die Erwartungen anderer gebunden ist. Die ursprüngliche Theorie mit ihren neun Postulaten von Cumming und Henry vermochte es nach Lehr, den soziopsychologischen Blick in die Diskussion miteinzubringen und zwang die Wissenschaft zur Diskussion und Modifikation. Heute lassen sich die Modifikationen in Anlehnung an Lehr folgendermaßen wiedergeben: Zu Beginn der Modifikation steht die Betrachtung des Disengagementsverlaufs als Prozess der Bildung des Selbst aus dem Selbst heraus und nicht länger als Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft. Modifiziert wird auch die Betrachtung der Aktivitäten insofern, als dass man nun die Qualität der sozialen Aktivitäten betrachtet und nicht die Anzahl der Kontakte. Die Einbeziehung individueller Faktoren, die für ein erfolgreiches Altern, als Zufriedenheit mit der vergangenen und aktuellen Lebenssituation, maßgeblich sind, gehört auch zum Versuch der Umgestaltung der Disengagement-Theorie. Dazu kommt die Einführung vom Begriff der „kompensierenden Aktivitäten“, die bereits in der Aktivitätstheorie von Cumming und Henry implizit enthalten waren. Weitergehende internationale Studien haben aufgezeigt, dass die Hypothesen von Cumming und Henry nicht aufrechterhalten werden können. Die Untersuchungen ergaben aber, dass Disengagement eine Reaktion auf den Stress sein kann, der durch eine Veränderung in der Lebenssituation hervorgerufen wird. Lehr et. al. konnten 1987 darstellen, dass, je nach spezifischer Rolle und individueller Konstitution der Person, eine der beiden Theorien zutrifft. Eine universelle, kausale Zuordnung zwischen Aktivität und Wohlbefinden im Alter ist nicht möglich. Die Kontinuitätstheorie nach Atchley formuliert, dass die Pflege innerer und äußerer Strukturen zu einem erfolgreichen Altern führt. Um die Strukturen zu bewahren, finden bekannte Muster Anwendung. In Bezug auf die Fortdauer der inneren Strukturen heißt das die Beibehaltung von Deutungsmustern, Fähigkeiten und individuellen Eigenschaften. Bezüglich der Fortdauer der äußeren Strukturen bedeutet dies die Aufrechterhaltung vertrauter Handlungsmuster, Beziehungen und Umgebung. Das setzt allerdings das Erleben der äußeren und inneren Strukturen als kontinuierlich voraus. Erfolgreiches Altern erfordert hier die „Kognition der Bewahrung der eigenen Identität über die innere oder äußere Veränderung hinweg.“ (Lehr 2000, S. 64) Das SOK-Modell nach Baltes und Baltes sieht die Möglichkeit des erfolgreichen Alterns in der Selektion, der Optimierung und Kompensation. Sie führen neben dem subjektiven Empfinden, als Indikator für ein erfolgreiches Altern, objektive Faktoren, die sich auf die Effizienz von Systemen und Funktionen beziehen, ins Feld. Die Auswahl (Selektion) von Aktivitäten die besonders selbstwertdienlich sind und die damit einhergehende Spezialisierung in diesen Aktivitäten, führen zur optimalen Effizienz auf diesem Gebiet. Am Ende des Optimierungspotenzials steht die Kompensation, als Entwicklung von Strategien, um die Begrenztheit der Effizienz zu verschleiern. Dieses Modell wirft zunächst die Frage auf, ob es als günstig propagiert werden darf, sich früh in der Phase des Alterns zu spezialisieren und sich damit einzuschränken. Darüber hinaus entwirft es ein negatives Bild vom Alterungsprozess, das von Einschränkungen gekennzeichnet ist. Zudem ist die Abwertung des subjektiven Erlebens als Indikator für gelungenes Altern fraglich und steht dem Anspruch eines qualitativen Entwicklungsmodells entgegen. (vgl. Lehr 2000, S. 64f)
Entgegen den Defizitmodellen gehen die Wachstumstheorien von der Zunahme von Reife und Weisheit bei alten Menschen aus. C. G. Jung postuliert, dass der Mensch in seiner Lebensmitte eine Krise überwindet, indem er sich mit den gesellschaftlichen Ansprüchen und den individuellen Bedürfnissen auseinandersetzt und so im Alter alle Emotionen und alle Beweggründe in sich vereinigen kann, was es ihm ermöglicht, jede Krise zu bewältigen. Rothacker sieht die Entwicklung des Menschen als eine fortschreitende Reifung des Geistes, die dem körperlichen Verfall entgegensteht. Goldstein sieht im Alter neue Verwirklichungspotenziale für den Trieb des Menschen nach Selbstverwirklichung. Diesen Trieb bezeichnet Maslow als „Wachstumsmotivation“ (Lehr 2000, S. 66), welche „zur psychischen Gesundheit führt.“ (ebd.) Den Zusammenhang zwischen Wachstum und Wohlbefinden greift Ryff auf, indem er fünf Kriterien des Wohlbefindens formuliert, die auch im Alter mit dem Wachstum zusammenhängen. Das erste Kriterium ist die Selbstzufriedenheit, gespeist durch das zweite Kriterium der positiven Beziehungen zu anderen. Die Autonomie, die Kontrolle über die Umgebung und das Gefühl, ein Ziel im Leben zu verfolgen, sind die letzten drei Kriterien seiner Auflistung. Wohlbefinden beinhaltet an dieser Stelle nicht nur den Besitz dieser fünf Momente, sondern auch die Möglichkeit, diese weiterzuentwickeln und zu modifizieren. Daraus erwächst das Potenzial Neues zu erleben und sich selbst als wertvoll zu empfinden. Sind die Zugänge zu dieser Entwicklung verwehrt kommt es zur Stagnation des Wachstums. (vgl. Lehr 2000, S. 62) Lehr rechnet die Theorien, die sich mit der Erlangung einer gewissen Weisheit im Alter beschäftigen, ebenfalls zu den Wachstumstheorien. Clayton bezeichnet diese Weisheit als eine Wissensform, die sich einerseits durch ihre praktische Komponente, dem Lösen von Alltagsproblemen innerhalb einer gewissen Matrix und andererseits durch die Suche nach dem Sinn des Lebens kennzeichnet. Birren sieht in ihr die Kombination aus Erfahrungen und der Neigung nicht vorschnell auf etwas zu reagieren. Die bei Erikson beschriebene Ich-Integrität, wird bei den Untersuchungen Orwolls und Permutters als Merkmal weiser Personen rekonstruiert. Auch Sinngott bezieht sich auf die Ich-Integrität Eriksons im Zusammenhang mit der Weisheit im Alter wenn er formuliert, dass Weisheit die „Fähigkeit zur Herstellung eines Gleichgewichts unter den verschiedenen Anforderungen und Dimensionen der jeweils individuellen Lebenswelt [ist] … in einer Weise dass sie integriert sind.“ (Lehr 2000, S. 67) Die Weisheit ist nach Baltes und Staudinger eine spezifische Form des Denkens, die der ältere Mensch im Gegensatz zum jungen Mensch beherrscht, die sich durch umfassendes Wissens über das Leben, den praktischen Umgang damit, das Inbezugsetzen von Normen und der Erkenntnis mit Unsicherheiten umgehen zu können, auszeichnet. Die Schwierigkeit bei dem Weisheitsbegriff sieht Lehr in der Tatsache, dass kulturvergleichende Studien ergaben, dass der Weisheitsbegriff im Zusammenhang mit der Übernahme allgemeingültiger Lösungs- und Organisationsmuster verwendet wird und damit die Dimension des je individuellen Kenntnisstandes verloren geht. Die Gerotranszendenz als Wachstumstheorie sieht die Entwicklung im Alter als von „kosmischen“ und „transzendalen“ Aspekten bestimmte Entwicklung an. Das wird nach Tornstam an den veränderten Raum-Zeit-Bezügen der Person, der gesteigerten Beziehung zu folgenden und vorangegangenen Generationen, der Überwindung der Angst vor dem Ende des Lebens und dem Einzug der „Geheimnis-Dimension“ (a.a.O, S. 68) ins Leben, sichtbar. Auf der endogenen Ebene bedeutet dies eine gesteigerte Ich-Integrität im eriksonschen Sinn und die Abnahme der Selbstbezogenheit. Exogen macht sich die Gerotranszendalität in der Abnahme oberflächlicher Sozialbeziehungen, dem abnehmenden Interesse an materiellen Dingen und dem inneren Rückzug bemerkbar. Das Gerotranszendenzkonzept unterscheidet sich jedoch von dem Integritätskonzept der Entwicklungstheorie Eriksons, da es nach vorne gerichtete und aktive Sichtweisen thematisiert und nicht wie bei Erikson auf Rückschau und Verarbeitung gerichtet ist. (vgl. Lehr 2000, S. 68)
Die kognitiven Theorien des Alterns haben alle die Ausführung gemeinsam, dass sich als für eine Handlung maßgeblich, nicht die objektiven Gegebenheiten einer Situation erweisen, sondern die Deutung dieser objektiven Gegebenheiten durch den Einzelnen. Von Bedeutung ist demnach nicht die Situation an sich, sondern die Kognition, die der Betroffene von der Situation hat. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gefühl „persönlicher Kontrolle“ (Lehr 2000, S. 68f), also die Kognition „persönlicher Kontrolle“, als einflussreich für die Anpassung an veränderte Situationen im Alter angesehen werden muss. Dabei kann die Steigerung des Kontrollgefühls eine positive Auswirkung auf den Selbstwert haben. Krause hat in seinen Untersuchungen jedoch aufgezeigt, dass beide Extrempole, das Gefühl absoluter und das Gefühl keinerlei Kontrolle, sich negativ auf den Menschen auswirken. Thomae hält fest, dass die Kognition das entscheidende und vermittelnde Element zwischen einer objektiven Begebenheit und der darauf bezogenen Handlung ist. Somit legt er den Grundstein für die Betrachtung des Zusammenspiels „kognitiver und motivationaler Prozesse der Entscheidungsfindung“ (a.a.O., S. 69). Dabei laufen diese Prozesse sowohl auf bewusster, als auch auf unbewusster Ebene ab. (vgl. Lehr 2000. S, 68f)
Die k ulturanthropologische Alternstheorie sieht einen Zusammenhang zwischen den Modernisierungsprozessen einer Gesellschaft und dem Status der alten Menschen innerhalb dieser Gesellschaft. Cowgill und Holmes vertreten die These, dass mit fortschreitender Modernisierung das Ansehen der älteren Menschen abnimmt. Fry gelangt zu der Auffassung, dass zu Beginn der Modernisierung das Ansehen älterer Menschen groß war, im Zuge des Fortschreitens der Industrialisierung abgenommen hat und eine Steigerung des Ansehens wieder zu erwarten ist. Er geht also von einer kreisförmigen Bewegung aus. Gesamtgesellschaftlich wird in der modernen Gesellschaft ein negatives Bild des alten Menschen entworfen, wohingegen die Vorstellung in Bezug auf das eigene Altsein, durch die Errungenschaften der Modernisierung, positiv gezeichnet wird. Die Modernisierungstheorie wird dahingehend kritisiert, dass kulturell zu viele Unterschiede feststellbar sind und man deshalb keine Parallele zwischen dem Modernisierungsgrad einer Gesellschaft und dem Bild des Alterns in dieser Gesellschaft ziehen kann. (vgl. a.a.O., S. 70f)
Die empirische Forschung hat aufgezeigt, dass die oben genannten Bedingungen für Zufriedenheit im Alter zusammengedacht werden müssen. Die dargestellten Theorien dienten zwar der Darstellung von Faktoren, die sich positiv auf die Langlebigkeit auswirken, sie bieten aber auch die Möglichkeit diese Faktoren im Sinne eines „psychischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens“ (Lehr 2000, S. 71) zu betrachten. Das Zusammenwirken der verschiedenen, herausgearbeiteten Faktoren fasst Lehr, wie folgt zusammen.
„Genetische, physiologische und biologische Faktoren beeinflussen einmal direkt die Langlebigkeit (1), beeinflussen aber auch (2) die Persönlichkeitsentwicklung. Diese wird außerdem durch Sozialisationsprozesse (Erziehungsweisen der Eltern, der Schule, der sozialen Umwelt) mitbestimmt (3), wobei auch epochale Faktoren wirksam werden. Doch auch ökologische Faktoren (die dingliche Umwelt, der Stimulationsgrad der Umgebung, klimatische Bedingungen) prägen die Persönlichkeit (4). Enge Korrelationen zwischen Aktivität und Langlebigkeit sind heute bewiesen (5). Ebenso wurde in einer Reihe von Studien ein direkter Zusammenhang zwischen ökologischen Faktoren und Langlebigkeit (6) festgestellt. - Die Persönlichkeit hat Einfluss auf die Schulbildung, die Berufsausbildung und die berufliche Tätigkeit und damit auf den sozialen Status (7) - wobei diese Faktoren wiederum die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Langlebigkeit (8) hat man anhand von Statistiken, aber auch von Längsschnittstudien durch einen Vergleich survivor-nonsurvivor nachweisen können, jedoch sind hier weitere intervenierende Variablen zu berücksichtigen. Sowohl der soziale Status (9), die Persönlichkeit (10) wie auch ökologische Faktoren (11) haben Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten. Ein direkter Zusammenhang zwischen Ernährung bzw. ernährungsbedingten Krankheiten und Langlebigkeit (12) steht heute außer Frage. Der Lebensstil, gesundheitsbewusstes Verhalten (neben Ernährung körperliche Aktivität, Hygiene, Gesundheitsvorsorge-Untersuchungen), ist außerdem einmal von genetisch-biologischen Faktoren (13), sodann auch von der Persönlichkeit (14) und von ökologischen Faktoren, Umweltgegebenheiten (15) mit beeinflusst. Schulbildung und sozialer Status (16) wirken sich ebenso auf den Lebensstil aus. Dieser wiederum zeigt eine enge Korrelation mit Langlebigkeit.“ (a.a.O., S. 71f)
Lehr erhebt mit ihrem Modell keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sieht in ihm aber das Potenzial für Vorhersagen in Bezug auf ein gelungenes Altern. (vgl. Lehr 2000, S. 72)
Eine weitere Variable in dem Modell des erfolgreichen Alterns bildet der „Subjektive Gesundheitszustand“ (Lehr 1997, zitiert nach Lehr 2000, S. 72), der im Alter maßgeblich von der Fähigkeit aktiv zu bleiben abhängig ist. Studien[6] haben nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen subjektivem Gesundheitsempfinden und Sterblichkeit gibt, der unabhängig vom objektiven Gesundheitszustand ist. (vgl. Lehr 2000, S. 73)
3.1.2 Theoretische Auseinandersetzung mit Persönlichkeit und Altern
Persönlichkeit wird hier verstanden als „Bezeichnung für alle Eigenschaften, Erlebnis- und Verhaltensprozesse, welche die individuelle Eigenart eines Menschen ausmachen“ (Lehr 2000, S. 131). Entgegen dem Wunsch vieler auf diesem Gebiet Forschenden, diese Eigentümlichkeit auf intellektuelle Fähigkeiten, Gedächtnisleistung und physiologische Anpassung zu reduzieren, betrachtet Lehr die Veränderungen der Eigenschaften, Gefühle und Antriebe und die Regulation dieser Komponenten als maßgeblich für die Betrachtung der Persönlichkeit. (vgl. Lehr 2000, S. 131)
Die Ergebnisse von neueren Untersuchungen[7] haben gezeigt, dass die These von der Unveränderlichkeit der Person nicht aufrechterhalten werden kann. Es gibt Belege dafür, dass sich Persönlichkeitsmerkmale mit zunehmendem Alter verändern. (vgl. a.a.O., S. 132)
Die untersuchten Eigenschaften in Bezug auf die Veränderung im Alter waren die Aktivität, die emotionale Stabilität, die Extraversion, die Stimmung und das subjektive Wohlbefinden. In Bezug auf die Aktivität konnte bei den vorgestellten Studien[8] keine Veränderung im Laufe des Alterungsprozesses festgemacht werden. Menschen, die bereits in jungen Jahre aktiv waren, hielten diese Aktivität bis ins hohe Alter hin bei, wohin gegen Menschen, die auch in vergangenen Lebensabschnitten keinen Aktivitäten nachgingen, im Alter nicht aktiver oder noch weniger aktiv wurden. Ein Zusammenhang von Aktivität und Zufriedenheit im Alter konnte bei diesen Studien nicht festgestellt werden. Die Untersuchungen[9], die die emotionale Stabilität thematisierten, ergaben ebenfalls keine Veränderlichkeit dieser Eigenschaft im Alter. Als alterunabhängig präsentierte sich in verschiedenen Studien[10] auch die Extraversion, die in Eigenschaften, wie gesprächig, offen und anregbar, operationalisiert wurde. Veränderungen konnten mehrere Studien in Bezug auf die Stimmung, als Eigenschaft der Persönlichkeit, herausarbeiten. Sie ergaben, dass sich die Stimmungslage mit zunehmendem Alter verschlechtert. Begründet wurden diese Veränderung mit den strukturellen Begebenheiten im Alter, dem Verlust geliebter Personen und körperlichen Fähigkeiten. Das subjektive Wohlbefinden wird innerhalb der vorgestellten Studien nicht als eigenständige Eigenschaft der Persönlichkeit betrachtet, sondern nur im Zusammenhang mit Extraversion und emotionaler Stabilität gesehen. Daraus folgt, dass auch in Bezug auf das subjektive Wohlbefinden von einer Konstanz, unabhängig vom Alter, ausgegangen werden kann. (vgl. a.a.O., S. 132-140) Als weiterer Bestandteil der Persönlichkeit, unter der Kategorie Eigenschaften, wurden Erlebnisstrukturen und Überzeugungen untersucht, wobei die Erkenntnisse der kognitiven Theorie des Verhaltens Thomaes zugrunde gelegt wurden. (vgl. Kapitel 3.1) Mit diesem Zugrundelegen ergab sich zwingend die Einbeziehung der Kognition der Erlebnisse, als maßgeblich für die darauf folgende Handlung und die daraus gewonnen Überzeugungen. Aufgrund dessen, dass die Kognitionen von einer generellen Grundhaltung geprägt sind, sind auch die Erlebnisse und Erlebnisstrukturen von einer solchen geprägt und damit konstant. (vgl. Lehr 2000, S. 146) Mit zunehmendem Alter sind dennoch Veränderungen in der Erlebnisqualität auszumachen, wenn es darum geht, wie Situationen in Bezug auf die Kontrollmöglichkeiten des Einzelnen erlebt werden. Mit zunehmendem Alter werden der Gesundheitszustand und die Körperfunktionen als nicht kontrollierbar erlebt. (vgl. a.a.O., S. 147) Das Selbstbild, als Eigenschaft die Persönlichkeit ausmacht, bildet die Folie, auf der das Altern reflektiert wird. Nur durch die Bezugnahme auf das Selbstbild ist es möglich, Unterschiede im Erleben und damit Unterschiede in der Kognition eines Ereignisses zu verstehen. (vgl. a.a.O., S. 150) Es bildet die oben angesprochene generelle Grundhaltung. Nach Atchley ist die Anpassung oder der Erhalt des Selbstbildes während des Prozesses des Alterns die Voraussetzung, für ein subjektives Kontinuitätsempfinden. Das Selbstbild zeigt sich hier also auch als variabler Bestandteil von Persönlichkeit. Als weitere Eigenschaft, die die Persönlichkeit beeinflusst, führt Lehr den Zukunftsbezug ein. Dabei lassen sich in Untersuchungen[11] Zusammenhänge zwischen dem Zukunftsbezug und den Variablen Stimmungslage, subjektives Kontrollempfinden und Aktivität erkennen. Die Zukunftsperspektive umfasst bei älteren Menschen, im Gegensatz zu jungen Menschen, eine geringere Zeitspanne. Diese Tatsache zollt einerseits einer realistischen Betrachtung des Lebens Tribut, wobei andererseits zu stark eingeschränkte Zukunftsperspektiven die Überwindung von Alltagsproblemen erschweren. (vgl. a.a.O., S. 157)
[...]
[1] vgl. hierzu: Darstellung des Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 26-39
[2] Aufgrund der besseren Lesbarkeit verwende ich innerhalb meiner Arbeit die maskuline Form, im Sinne eines neutralen Abstraktums, das selbstverständlich auch Frauen mit einschließt.
[3] An dieser Stelle bedanke ich mich ausdrücklich bei allen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die mich im Rahmen des Diplomandenkolloquiums und der Analysetreffen bei der Bildung der Lesarten unterstützt haben und bei Prof. Dr. Margareta Dörr, die die Möglichkeiten zur Analyse innerhalb des Diplomandenkolloquiums geschaffen und darüber hinaus ebenfalls zur Bildung der Lesarten beigetragen hat.
[4] Wechsler (1944)
[5] Kay (1959); Welford (1959)
[6] Idler und Kasl (1991); Menec, Chipperfeld und Perry (1999)
[7] Aldwin und Levenson (1994)
[8] Thomae (1983); George (1985); Field und Millsap (1991); Maas und Staudinger (1996)
[9] Costa et al. (1984); Ettrich und Fischer (1997), Ettrich (2000)
[10] Costa und McCrae (1984), Field und Millsap (1991)
[11] Schreiner (1969)
- Arbeit zitieren
- Heidrun Hau (Autor:in), 2007, Autonomie und Demenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79343
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