Jeder literarische Vergleich benötigt Konstanten, die allgemeiner sind als einzelne "Meisterwerke" und zugleich spezieller als Themen, Topoi, Stilarten etc. Wenn Komparatistik mehr untersuchen will als Ideen- und Stilgeschichte, muss sie sich an dem Phänomen der literarischen Gattungen orientieren. Die "Fundamentalpoetik", entstand nach dem 2. Weltkrieg im deutschsprachigen Raum, wurde aber durch die "soziologische" Richtung bald wieder verdrängt. Dabei lässt sich zeigen, dass beide sich gegenseitig ergänzen und somit die historische mit der "synthetischen" (oder systematischen) Betrachtungsweise verbinden können. Die Fundamentalpoetik ist in vielem missverstanden worden, z.B. hinsichtlich der Verbindung von dichterischen "Grundhaltungen" mit ihren Ausprägungen in sprachlichen Merkmalen. Diese bisher unklar gesehenen Zusammenhänge (zwischen Autor, Gattung, Werk und Publikum) werden durch die "Schichtenpoetik", die sich etwas früher ausgebildet hatte, erklärt. Vor einer Nutzbarmachung der Fundamentalpoetik für eine Theorie der Komparatistik müssen diese Missverständnisse ausgeräumt werden. Teilweise ist die Fundamentalpoetik auch revisionsbedürftig, wie z.B. hinsichtlich der Zahl der sogen. "Grundhaltungen". Analog der strukturellen Linguistik sucht eine auf Fundamentalpoetik basierende Komparatistik nach "Grundmustern" in unserer sprachlichen Bewältigung der Welt, indem sie einen Mittelkurs zwischen dogmatischem Formalismus und theoriefeindlichem Historismus steuert.
(Vortrag vor dem Jap. Germanistenverband, Okinawa Kokusai Daigaku, 6.12.1997)
Hat die "Fundamentalpoetik" wirklich ausgespielt?
Anwendungen für eine Theorie der Komparatistik. [i]
Zusammenfassung:
Jeder literarische Vergleich benötigt Konstanten, die allgemeiner sind als einzelne "Meisterwerke" und zugleich spezieller als Themen, Topoi, Stilarten etc. Wenn Komparatistik mehr untersuchen will als Ideen- und Stilgeschichte, muss sie sich an dem Phänomen der literarischen Gattungen orientieren. Die "Fundamentalpoetik", entstand nach dem 2. Weltkrieg im deutschsprachigen Raum, wurde aber durch die "soziologische" Richtung bald wieder verdrängt.[ii] Dabei lässt sich zeigen, dass beide sich gegenseitig ergänzen und somit die historische mit der "synthetischen" (oder systematischen) Betrachtungsweise verbinden können.Die Fundamentalpoetik ist in vielem missverstanden worden, z.B. hinsichtlich der Verbindung von dichterischen "Grundhaltungen" mit ihren Ausprägungen in sprachlichen Merkmalen. Diese bisher unklar gesehenen Zusammenhänge (zwischen Autor, Gattung, Werk und Publikum) werden durch die "Schichtenpoetik", die sich etwas früher ausgebildet hatte, erklärt. Vor einer Nutzbarmachung der Fundamentalpoetik für eine Theorie der Komparatistik müssen diese Missverständnisse ausgeräumt werden. Teilweise ist die Fundamentalpoetik auch revisionsbedürftig, wie z.B. hinsichtlich der Zahl der sogen. "Grundhaltungen".Analog der strukturellen Linguistik sucht eine auf Fundamentalpoetik basierende Komparatistik nach "Grundmustern" in unserer sprachlichen Bewältigung der Welt, indem sie einen Mittelkurs zwischen dogmatischem Formalismus und theoriefeindlichem Historismus steuert.
Seit ihrer "Unabhängigkeitserklärung" vor etwa einem Jahrhundert haben die Komparatisten verzweifelt nach einer umfassenden Theorie gesucht._ Die folgenden Überlegungen mögen als Versuch aufgefasst werden, einige Ideen und Modelle, die in Deutschland nach dem letzten Weltkrieg entworfen wurden, auf ihre Tauglichkeit für eine solche Theorie zu untersuchen, zumindest für eine Basis, auf der eine solche Theorie zu errichten wäre.
Für jegliche Art von Vergleich brauchen wir Konstanten als Vergleichsmaßstäbe für die Beobachtung von Variationen. Dies trifft natürlich besonders für die Vergleichende Literaturwissenschaft zu, eine Disziplin, die das Vergleichen zu ihrem Grundprinzip gemacht hat. - Derartige Konstanten können entweder konkrete Werke sein, die als "Modelle" dienen (z.B. Dantes Divina Comedia oder Goethes Faust), oder auch literarische Konventionen verschiedenster Art (Themen, Motive, Topoi, Stilarten etc.). Als Konstante kann jedoch auch etwas dienen, das sich zwischen konkreten Modellen und allgemeinen Konventionen hält: literarische Gattungen.
In den meisten Fällen, wenn wir meinen, einen direkten Einfluss von einem spezifischen Werk auf andere Literaturen zu beobachten, untersuchen wir in Wirklichkeit den Einfluss von einigen exemplarischen (und aus was immer für Gründen eindrucksvollen) Zügen dieses Werks. Das Vorbild kann niemals in seiner ganzen, vielfältigen und einmaligen Textur einen Einfluss über die Sprachgrenzen ausüben. Nur die Züge, die tatsächlich "übersetzbar" sind, können einen Impakt haben, und unter diesen wiederum nur jene, welche den Bedürfnissen und dem Verständnis der Empfänger entgegenkommen. Im Übertragungsprozess von einer Sprache zur anderen können sich sowohl formale wie inhaltliche Züge entscheidend verändern. Dieser Vorgang ähnelt in seinem halb-abstrakten Charakter stark unserer Beobachtung literarischer Gattungen. Denn woran denken wir, wenn wir etwa den Einfluss des "petrarchischen Sonetts" über die Grenzen Europas oder die Wirkung der englischen "Gespensterballade" auf die deutschen Sturm und Drang-Dichter verfolgen? - Wir denken an relativ allgemeine formale und/oder gehaltliche Eigenschaften, die sich auf so viele Weisen ausprägen können. Vom Standpunkt des Komparatisten haben exemplarische Werke (also solche, die in einer oder anderer Form nachgeahmt werden) eine Wirkung, die der der literarischer Gattungen ähnelt. Methodologisch besteht kein allzu großer Unterschied beispielsweise zwischen der Untersuchung einer Nachahmung von Goethes Werther aus der frühen Meiji-Zeit und einer Analyse des Briefromans mit tragischem Ende im allgemeinen.
Wenn wir uns allerdings auf das Verfolgen von Motiven über Sprachgrenzen hinweg beschränken, brauchen wir keine Gattungstheorie[iii]. Wenn wir jedoch beanspruchen, literarische Werke nicht nur als philosophische Dokumente sondern als Kunstwerke zu betrachten, dann müssen wir diese in ihrer jeweils besonderen Verbindung von Sprachform und emotionalem oder geistigem Gehalt sehen, selbst wenn diese Verbindung sich von Sprache zu Sprache anders darstellt. Gattungsbegriffe zielen auf relativ konstante Faktoren in solchen Verbindungen. (Wie das geschieht, untersucht die sogen. "Schichtenpoetik".) Gattungsbegriffe sind deshalb unverzichtbar für die Komparatistik. Gebraucht wird eine Abklärung des Chaos von Begriffen und zugehörigen Vorstellungen, das sich hier eingebürgert hat.
[...]
[i] Zuerst als Vortrag bei der Nihon-Dokubun-Gakkai am 6.12.1997 an der Okinawa Kokusai Universität vorgetragen; dann in engl. Sprache unter dem Titel „On the Relationship of Comparative Literature to ‚Strata Poetics’, and ‚Fundamental Poetics’“ in: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis, Humanities Series No. 27 (March 2000) 221-241.
[ii] Vergl. meinen Artikel „Nachträgliche Überlegungen zur soziologischen Methode“ in Acta Humanistica 18/4, Humanities Series No. 16 (1989) 156-182.
[iii] Vergl. Gerhard Bauer: „Theorie der Literatur in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft“ in: Horst Rüdiger, ed.: Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft (Berlin 1971) 15-40; Hugo Dyserinck: Komparatistik (Bonn 1977); Werner P. Friedrich: The Challenge of Comparative Literature and Other Adresses (Chapel Hill 1970); Paul Hernadi: Beyond Genre. New Directions in Literary Classification (Cornell University Press 1972); Erwin Koppen: „Hat die Vergleichende Literaturwissenschaft eine eigene Theorie?“ in Rüdiger (1971) 41-64; Henry H. Remak: „Definitionen und Funktion der Vergleichenden Literaturwissenschaft“ in Horst Rüdiger, hg.: Komparatistik, Aufgaben und Methoden (Stuttgart 1973) 11-54; Horst Rüdiger: „Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Literaturwissenschaft“ in Rüdiger (1971) 11-14; Istv’an Söter: The Dilemma of Literary Science (Budapest 1973); Joseph Strelka: Vergleichende Literaturkritik: Drei Essays zur Methodologie der Literaturwissenschaft (Bern 1970); Ulrich Weisstein: Comparative Literature and Literary Theory: Survey and Introduction (Stuttgart 1960; Indiana University 1973); Rene Wellek: Discrimination: Further Concepts of Criticism (Yale 1970).
- Quote paper
- Dr. Wolfgang Ruttkowski (Author), 2000, Hat die Fundamentalpoetik wirklich ausgespielt? Anwendungen für eine Theorie der Komparatistik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7918
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