Mit der Institution Grundherrschaft ist eine agrikole Betriebsform angesprochen, die die Lebensweise unzähliger Menschen des Mittelalters in ganz unmittelbarer Weise bestimmt hat und weit mehr darstellt als eine bloße Wirtschafts- und Herrschaftsorganisation auf agrarischer Basis.
Die Arbeit verfolgt die These, dass die frühmittelalterliche 'klassische' Ausprägung der Grundherrschaft, die Villikation, den ländlichen Alltag in einem Ausmaß prägte, das das spätere Mittelalter nicht mehr kennen sollte. Auf der Basis zweier Quellen ("Capitulare de villis et curtis imperialibus" sowie der "Hofbeschreibung Rommersheim" aus dem Prümer Urbar) wird die Villikationsverfassung als gesellschaftliche und rechtliche Organisationsform, als Wirtschaftsform und als Kultgemeinschaft - mit den entsprechenden Konsequenzen für den bäuerlichen Alltag - untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1.) Vorwort
2.) Das Karolingerreich im 9. Jahrhundert
3.) Die Grundherrschaft – eine Begriffsbestimmung
3.1.) Grundherrschaft als Organisationsform der mittelalterlichen Gesellschaft
(Stagnierende bäuerliche Schichten oder gesellschaftliche Mobilität?)
3.1.1.) Die villa als lokaler Schauplatz grundherrlichen Handelns
3.1.2.) Die familia als Verbandsform
3.1.3.) Der mansus in seinen verschiedenen Formen
3.2.) Grundherrschaft als agrarische Wirtschaftsform
(Bäuerliche Arbeit in ihren Facetten)
3.2.1.) Census et servitium – Der m ansus als Kernzelle des grundherrlichen Systems
3.2.2.) Grundherrschaft als Rahmen (technischer) Innovation
3.2.3.) Karolingische Renaissance der (Hand)arbeit
3.3.) Grundherrschaft als Kultgemeinschaft
(Verchristlichung oder Volksmassen in „heidnischer Folklore“ ?)
3.3.1.) Prüm – eine klösterliche Grundherrschaft
3.3.2.) Grundherrliche Bestrebungen zur Verchristlichung der familia
3.4.) Grundherrschaft als rechtlicher Rahmen
(Potentes und pauperes)
3.4.1.) Schutz und Schirm
3.4.2.) Konflikte und grundherrliche Immunität
4.) Fazit/Ausblick
Literaturverzeichnis
1) Vorwort
„Mit der Institution «Grundherrschaft» ist eine agrikole Betriebsform angesprochen, die zugleich die Lebensweise unzähliger Menschen des Mittelalters in ganz unmittelbarer Weise bestimmt hat – nur vergleichbar der industriellen Produktionsweise in der Neuzeit.“[1] Diese Aussage des Mediävisten Dieter Hägermann offenbart, dass sich hinter dem modernen wissenschaftlichen Begriff ‚Grundherrschaft’ mehr verbirgt als eine bloße Wirtschafts- und Herrschaftsorganisation auf agrarischer Basis[2].
So setzt sich die folgende Arbeit das Ziel, Hägermanns Zitat mit Blick auf die frühmittelalterliche Ausprägung der Grundherrschaft, die Villikation[3], zu konkretisieren und folgender These nachzugehen: Die ‚klassische’ bipartite Grundherrschaft prägte den ländlichen Alltag in einem derart universalen Ausmaß, das das spätere Mittelalter nicht mehr kennen sollte, zudem ließ ihre „Basisgesellschaft“[4] noch keinen einheitlichen ‚Bauernstand’ zu. Dieser Thesenbildung gemäß ergibt sich eine Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf das ausgehende 8. und das 9. Jahrhundert, gerade letzterem schreibt die Forschung eine Schlüsselposition bei der Ausbreitung der ‚klassischen’ Grundherrschaft zu[5].
Nicht allein der Forschungsstand zum ländlichen Alltag dieser Epoche soll referiert, dessen Ergebnisse – wo möglich - an ausgewählten Quellen überprüft werden. Der Erforschung frühmittelalterlichen Lebens werden jedoch Grenzen gesetzt durch eine bruchstückhafte Überlieferung an Text- und Bildquellen; überkommene Quellen kranken überdies an einer ‚Einseitigkeit’ der Perspektive: literat und literarisch produktiv waren im frühen Mittelalter nur die (geistlichen) Grundherren[6].
So ist in den gängigen Forschungsquellen - den Urbaren, Urkunden oder Güter- und Abgabenregistern - vorrangig die Bestandsaufnahme, der Beweis und die Organisation des grundherrlichen Besitzes von Interesse und dokumentationswürdig, den agrarischen Alltag muss der Historiker gewissermaßen ‚zwischen den Zeilen’ aufspüren. Diese Problematik vor Augen, fiel die Wahl auf folgende zwei Quellen:
1) Das „Capitulare de villis et curtis imperialibus“, die berühmte Verordnung Karls des Großen über die Verwaltung, Wirtschaft und Rechtsordnung der kaiserlichen Landgüter (um 792/93), liefert eine Fülle an Informationen zur Betriebsgrundherrschaft, stellt aber als Idealfall lediglich einen ‚Sollzustand’ dar und bezieht sich überregional auf alle Domänen des Frankenreichs.
2) Ergänzend wird die Hofbeschreibung von Rommersheim aus dem Prümer Urbar (um 893) hinzugezogen, die der grundherrlichen Realität wohl näher kommt – spiegelt sie doch den ‚Ist-Zustand’ einer regional genau bestimmbaren villa der Grundherrschaft des Benediktinerklosters Prüm in der Eifel.
Doch was eigentlich ist ‚Alltag’? Zu dem methodologischen Problem der Quellenarmut tritt ein terminologisches: eine eindeutige, weithin akzeptierte Definition des Begriffs liegt nicht vor.[7] Will man aber unter Alltag routinemäßiges, sich tagtäglich wiederholendes Dasein und Tun im gewohnten sozialen und lokalen Umfeld verstehen, so ergibt sich folgender Aufbau des Untersuchungsgangs:
Nach einer kurzen Verortung der Grundherrschaft im 9. Jahrhundert (historischer Background und nähere Begriffsbestimmung) soll das soziale und lokale Umfeld einer frühmittelalterlichen Grundherrschaft betrachtet werden. Die Schlüsselbegriffe lauten hier villa, familia und mansus[8]. Wie stark die Grundherrschaft ländliches Tun – in Form von Arbeit für die eigene Existenz und die Versorgung des ‚Herrn’ - reglementierte, schildert das darauf folgende Kapitel. Der Abschnitt ‚Grundherrschaft als Kultgemeinschaft’ zeigt auf, dass Grundherrschaft mehr bedeutete als „vaterrechtliche Großfamilie und soziale Wirtschaftsgemeinde“[9].
Den Hauptteil der Arbeit beschließt dann die Vermessung des rechtlichen Rahmens. Im Fazit sollen die wichtigsten Ergebnisse in aller Kürze zusammengefasst werden; ausblicksartig und kontrastierend wird diesen der für den ländlichen Alltag bedeutsame Wandel der Grundherrschaft ab dem 11. Jahrhundert gegenübergestellt.
2.) Das Karolingerreich im 9. Jahrhundert
Als Karl der Große 814 starb, hinterließ er seinen Nachfolgern ein Reich, das sich „von Hamburg im Norden bis Barcelona im Süden über 1500 Kilometer, und von Nantes im Westen bis nach Magdeburg im Osten über 1200 Kilometer erstreckte.“[10] Welchen materiellen und kulturellen Bedingungen waren die Bewohner dieses gewaltigen Reichs im 9. Jahrhundert unterworfen?
Das Frühmittelalter wurde (und wird) im allgemeinen Verständnis oft als ‚dunkles’ Zeitalter bezeichnet, mit Stagnation, Krise und Not assoziiert[11]. Für das ausgehende 8. und das überwiegende 9. Jahrhundert - zumindest bis zu den Normannen- und Ungarneinfällen zu Ausgang des 9. Jahrhunderts - hingegen lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen konstatieren: zum einen der produktionswirksame Fortschritt in der Agrartechnik, zum anderen die so genannte ‚karolingische Renaissance’[12].
Die verbesserte Agrartechnik, die sich vor allem in der Einführung und Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft, der Verwendung des schweren Bodenwendepflugs[13] sowie der Verbreitung von Wassermühlen niederschlug, zeitigte eine „gewaltige wirtschaftliche Dynamik“[14] ; Vergetreidung und Steigerung der Ernteerträge ließen Europas Bevölkerung von 18 Millionen um die Mitte des 7. Jahrhunderts auf 38 Millionen um die Jahrtausendwende wachsen[15], den unbewohnten oder dünn besiedelten Regionen (vor allem des östlichen Frankenreichs) mussten neue Lebens- und Kulturräume abgetrotzt werden.
Dieser Vorgang, von der Forschung als ‚mittelalterlicher Landesausbau’[16] bezeichnet, eröffnete den bäuerlichen Schichten Perspektiven materieller und sozialer Natur, erforderte aber auch ein ‚System’ zur Bewältigung der Aufgabe – Grund für den Prozess der zunehmenden Verhufung im 9. Jahrhundert.[17]
Flankiert wurden die Fortschritte in der landwirtschaftlichen Technik von der ‚karolingischen Renaissance’, die - als „Ideologie der produktiven Anstrengung“[18] - nicht nur die geistig-künstlerische Sphäre, sondern auch den wirtschaftlichen Bereich betraf: zu nennen sind die extensive Rodungstätigkeit, die Erhöhung der ‚Produktivität’ (die Dreifelderwirtschaft bedingte agrarische ‚Mehrarbeit’ und führte zur Zunahme der Ernteerträge) sowie die qualitative Steigerung der ‚Produkte’ durch Veredelung, Neuzüchtung, usf.
Trotz dieser Phase wirtschaftlicher, technischer und demographischer Entwicklung darf nicht vergessen werden, dass der (ländliche) Alltag jener Epoche stets Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt war: Naturkatastrophen - Seuchen bei Mensch und Tier, Überschwemmungen, Dürren und damit verbundene Hungersnöte - bedrohten die Bevölkerung des Karolingerreichs ebenso wie kriegerische Völker (hier ist besonders an die Einfälle und Plünderungen der Normannen, Ungarn und Sarazenen zu denken, die sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts häuften).
Wie und in welchem Maß das ‚System’ der Grundherrschaft unter den genannten Bedingungen zum (Über)leben der bäuerlichen Schichten beitrug, wird im Folgenden zu zeigen sein.
3.) Die Grundherrschaft – eine Begriffsbestimmung
‚Grundherrschaft’ ist kein zeitgenössischer Begriff, sondern ein moderner wissenschaftlicher Terminus, für dessen vielfältige Phänomene und Auswirkungen keine eindeutige, von allen Historikern gleichermaßen akzeptierte Definition vorliegt[19].
Unumstritten hingegen ist, dass Grundherrschaft auf dem Besitz von Grund und Boden als konstitutivem Element in Verbindung mit einem „personenbezogenen Aspekt «Herrschaft über Land und Leute» (G. Seliger)“[20] basierte. Die Herrschaft (‚ dominatio ’) der geistlichen, königlichen oder adeligen Grundherren über die abhängigen Grundholden oder Hintersassen beinhaltete eine wirtschaftliche (Landleihe seitens des Grundherren, Abgaben und Dienste seitens der Grundholden) und eine rechtliche Komponente: „Das Obereigentum des Herrn über den Boden, konkret den Bauernhof samt Liegenschaften, verband sich mit direkter Zwangsausübung, etwa der niederen Gerichtsbarkeit, über den Beherrschten.“[21]. Die Besitzverhältnisse am Boden kennzeichneten sich schließlich durch das Obereigentum (dominium directum) des Grundherrn und das Untereigentum (dominium utile) der Beliehenen.
Im 9. Jahrhundert hatten sich nur wenige freie Bauern auf eigenem Land ihre Autarkie bewahren können, 90 % der Bevölkerung waren grundherrlich gebunden.[22] Wirtschaftliche Not, das Bedürfnis nach wirksamen Schutz, drohende Heeresfolge[23] und/oder die fehlende Möglichkeit der Hofübernahme, mit der sich ‚überzählige’, nachgeborene Söhne konfrontiert sahen, waren denkbare Gründe für freie Bauern, sich – als Hufner (mansuarius) - in grundherrliche Abhängigkeit zu begeben. Im Zusammenhang mit dem Prozess der Verhufung, der sich im Frankenreich das ganze 9. Jahrhundert über in unterschiedlicher Intensität vollzog[24], stand die Ausbildung der ‚klassischen’ Agrarverfassung des Frühmittelalters, der Villikation. Dieser Typ der grundherrlichen Verfassung sah eine Teilung der Güter in Herrenland und Bauernland, sowie eine Verzahnung derselben vor: die Hufner konnten das ihnen zur Verfügung gestellte Land, ihre Bauernstellen, selbständig bewirtschaften, gar vererben, mussten im Gegenzug die ihnen auferlegten Abgaben entrichten und wurden in der Regel zum Arbeitsdienst auf dem Herrenland (Salland oder terra indominicata) herangezogen[25].
[...]
[1] D. Hägermann/H. Schneider: Landbau und Technik, S. 338
[2] Schon 1939 definierte Otto Brunner in: „Land und Herrschaft“ die Grundherrschaft auch als einen (politischen) Verband, der die Lebenswirklichkeit der Betroffenen strukturiert. Nach dem Krieg wurde der sozialgeschichtliche Ansatz ausgearbeitet, zu nennen ist hier insbesondere Karl Bosl – vergl. L. Kuchenbuch: Grundherrschaft im früheren Mittelalter. Einführung, S. 12 – 16.
[3] auch bipartites System, Domanialbetrieb oder Betriebsgrundherrschaft genannt
[4] F. Prinz: Grundlagen und Anfänge, S. 280 f. – So nennt Prinz das Volk, das - in sich differenziert, aber gleichsam abhängig - den „Unterbau der Grundherrschaft“ bildete und zum größten Teil bäuerlicher Natur war.
[5] vergl. Johannes Fried: Die Formierung Europas, S. 145
[6] Abgesehen von den fränkischen Königen mit ihren Kapitularien – allen voran Karl der Große – begegnen weltliche Grundherren in frühmittelalterlichen Textquellen meist nur dann, wenn sie ihre Habe zu ihrem Seelenheil geistlichen Institutionen schenkten.
[7] vergl. Fried: Die Formierung Europas, Seite 138: Fried nennt als Felder der Alltagsforschung vor allem die materielle Sachkultur, die Ernährung und magische bzw. religiöse Riten.
[8] Durch die enge Verzahnung der Bereiche Arbeit, gesellschaftlicher Status, Recht und Glaube im System der Grundherrschaft kann es vorkommen, dass Begrifflichkeiten (wie z. B. mansus) in verschiedenen Punkten (unter jeweils anderen Aspekten) aufgegriffen werden.
[9] vergl. Bosl: Die „Familia“ als Grundstruktur der mittelalterlichen Gesellschaft, S. 410
[10] Riché: Die Welt der Karolinger, S. 15
[11] vergl. Hägermann: Landbau und Handwerk, S. 321; (auch Fried weist darauf hin: Die Formierung, S. 109)
[12] Unterstrichene Begriffe sind erläutert im Glossar – siehe Anhang
[13] Gleichzeitig war mancherorts auch der ältere Hakenpflug in Benutzung, Ausdruck der Ungleichzeitigkeit des technischen Niveaus und der unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten.
[14] ebd.: S. 321
[15] ebd.: S. 321
[16] vergl. Fried: Die Formierung Europas, S. 15. Fried sieht entsprechende Indikatoren bereits im 9. Jh, - nicht erst 11./12. Jh.
[17] ebd.: S. 146. – Dort wird die Hufe als Instrument der Kolonisierung (des fränkischen Ostens) und als Versuch, eine unüberschaubar gewordene Vielfalt zu ordnen (im fränkischen Westen) gesehen.
[18] Le Goff: Für ein anderes Mittelalter, S. 70. Der nun folgende Abschnitt zur karolingischen Renaissance stützt sich ebenfalls auf Le Goffs Ausführungen (S. 70/71).
[19] vergl.Fried: Die Formierung Europas, S. 142
[20] Hägermann: Landbau und Technik, S. 338)
[21] ebenda, S. 338 – Hägermann weist aber auch darauf hin, dass der Grundherr nicht willkürlich Recht sprechen konnte, sondern an Normen und Gebräuche gebunden war, damit das System die Akzeptanz auch der Grundholden finden konnte.
[22] vergl. Prinz: Die Formierung Europas, S. 272; auch Schneider: Geschichte der Arbeit, S. 157
[23] Freie Bauern waren zur Heeresfolge verpflichtet – Hägermann führt aus, dass „ruinöse Kriegsfahrten“ (besonders die Kriegsaktivitäten Karls des Großen) zur Verarmung großer Teile der freien Bauern führte, die sich in der Folge zur Subsistenzsicherung in den Schutz (und die Gewalt) eines Grundherrn begeben mussten. Vergl.Hägermann: Landbau und Technik, S. 341.
[24] vergl. Fried: Die Formierung Europas, S. 146
[25] Im Gegensatz zu den zwei anderen Typen der Grundherrschaft: a) der Rentengrundherrschaft (Bauern sind ausschließliche Nutzer des Landes, die durch das Schwinden des Herrenlandes nutzlos gewordenen Dienste wurden durch Abgaben ersetzt) und b) der Gutsherrschaft (Hier sind Land und Gutskomplexe komplett in herrschaftlicher Hand und Arbeitsregie.)
- Quote paper
- Claudia Scheel (Author), 2007, Hufenbauer der "klassischen" karolingischen Grundherrschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79131
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