Die Kathedrale Notre-Dame in Chartres bietet neben ihrem architektonischen und bauplastischen Reichtum die heute noch größte Ansammlung von Originalverglasungen in einer gotischen Kirche. Somit können die Glasfenster wichtige Hinweise zum Verständnis von Funktion und Aufgabe der Glasmalereien zu ihrer Entstehungszeit in Chartres liefern. Gleichwohl ist eine Untersuchung der Glasfenster in Chartres auch mit Schwierigkeiten verbunden, da es keine schriftlichen Quellen über die Absicht der Auftraggeber, die Motivation der Stifter und über das Vorgehen bei der Wahl der Inhalte gibt. Die Einordnung kann somit nur nach den Lebensdaten der Stifter, den historischen Ereignissen, die Anlass für Stiftungen gewesen sein konnten, dem Fortschreiten des Baus und der Verglasung sowie nach künstlerischem Ausdruck der Werkgruppen vorgenommen werden. Trotz des Fehlens einer künstlerischen und chronologischen Einheit ist die Verglasung der Kathedrale in sich geschlossen, da es ein weitgehend einheitliches, formales Konzept gibt. Im Erdgeschoss befinden sich erzählerische Zyklen und in den Obergaden monumentale Einzelfiguren, die eine gute Lesbarkeit gewährleisten.
Gut „lesen“ lässt sich daher auch eine ungewöhnliche Darstellung über dem mittleren Portal des südlichen Querhauses. In vier hohen Lanzettfenstern sitzen die Evangelisten auf den Schultern der vier großen Propheten des Alten Testaments. In einer weiteren Lanzette zwischen den Propheten-Evangelisten-Paaren steht die Madonna. Im Zentrum der großen Fensterrose, die sich unmittelbar über den Lanzetten befindet, tauchen die Evangelisten als Tetramorph und Christus als thronender Weltenherrscher wieder auf. Was haben Propheten des Alten Testaments jedoch mit den Evangelisten des Neuen Testaments zu tun und wie können diese in einen Kontext mit der Südrose gebracht werden? Ziel dieser Studienarbeit ist es zu zeigen, welche Vorstellung vom Verhältnis von Altem und Neuem Testament den Darstellungen des südlichen Querhauses zu Grunde gelegt worden sind und welche Aufgabe solchen Darstellungen in einer Kathedrale zukamen. Zu diesem Zwecke sollen die Entstehungsumstände kurz umrissen und die formalen Wesensmerkmale der Glasmalereien von Südrose und Lanzetten in einer Beschreibung herausgearbeitet und in einen gemeinsamen Kontext gebracht werden, um die Fenster in ihrer Bedeutung angemessen zu erfassen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Werkbetrachtung
2.1 Entstehung und Stiftung
2.2 Beschreibung
2.3 Interpretation
2.4 Verhältnis von Prophet und Evangelist
3 Schlussbetrachtung
4 Literatur
5 Anhang
5.1 Bibelauszüge
5.2 Abbildungen
6 Abbildungsnachweis:
1 Einleitung
Die Kathedrale Notre-Dame in Chartres bietet neben ihrem architektonischen und bauplastischen Reichtum die heute noch größte Ansammlung von Originalverglasungen in einer gotischen Kirche.[1] Somit können die Glasfenster wichtige Hinweise zum Verständnis von Funktion und Aufgabe der Glasmalereien zu ihrer Entstehungszeit in Chartres liefern. Gleichwohl ist eine Untersuchung der Glasfenster in Chartres auch mit Schwierigkeiten verbunden, da es keine schriftlichen Quellen über die Absicht der Auftraggeber, die Motivation der Stifter und über das Vorgehen bei der Wahl der Inhalte gibt.[2] Die Einordnung kann somit nur nach den Lebensdaten der Stifter, den historischen Ereignissen, die Anlass für Stiftungen gewesen sein konnten, dem Fortschreiten des Baus und der Verglasung sowie nach künstlerischem Ausdruck der Werkgruppen vorgenommen werden.[3] Trotz des Fehlens einer künstlerischen und chronologischen Einheit ist die Verglasung der Kathedrale in sich geschlossen, da es ein weitgehend einheitliches, formales Konzept gibt. Im Erdgeschoss befinden sich erzählerische Zyklen und in den Obergaden monumentale Einzelfiguren,[4] die eine gute Lesbarkeit gewährleisten.[5]
Gut „lesen“ lässt sich daher auch eine ungewöhnliche Darstellung über dem mittleren Portal des südlichen Querhauses. In vier hohen Lanzettfenstern sitzen die Evangelisten auf den Schultern der vier großen Propheten des Alten Testaments. In einer weiteren Lanzette zwischen den Propheten-Evangelisten-Paaren steht die Madonna. Im Zentrum der großen Fensterrose, die sich unmittelbar über den Lanzetten befindet, tauchen die Evangelisten als Tetramorph und Christus als thronender Weltenherrscher wieder auf (Abb. 1). Was haben Propheten des Alten Testaments jedoch mit den Evangelisten des Neuen Testaments zu tun und wie können diese in einen Kontext mit der Südrose gebracht werden? Ziel dieser Studienarbeit ist es zu zeigen, welche Vorstellung vom Verhältnis von Altem und Neuem Testament den Darstellungen des südlichen Querhauses zu Grunde gelegt worden sind und welche Aufgabe solchen Darstellungen in einer Kathedrale zukamen. Zu diesem Zwecke sollen die Entstehungsumstände kurz umrissen und die formalen Wesensmerkmale der Glasmalereien von Südrose und Lanzetten in einer Beschreibung herausgearbeitet und in einen gemeinsamen Kontext gebracht werden, um die Fenster in ihrer Bedeutung angemessen zu erfassen.
2 Werkbetrachtung
2.1 Entstehung und Stiftung
Die Fenster der Fassade des südlichen Querhauses werden dem „Atelier de Saint Chéron“, das nach einem seiner Werke in der Kathedrale benannt wurde, zugeschrieben[6] und zusammen mit den Obergadenfenstern des südlichen Querhauses gegen 1230 datiert.[7] Eindeutig zu identifizieren ist die Stifterfamilie de Dreux an ihrem Wappenbild, das sowohl in der Fensterrose, den fünf Lanzetten als auch in den Obergadenfenstern des darauf folgenden Querhausjoches zu finden ist.[8] Im Allgemeinen bemühten sich die Kanoniker Verbindungen zwischen dem Inhalt der Scheiben und den jeweiligen Stiftern herzustellen,[9] jedoch für den Anbringungsort keinen Einfluss zuzulassen.[10] In diesem Fall war vielleicht der prominente Anbringungsort und weniger die Thematik der Glasfenster ausschlaggebend für die Stiftung, da es keine zumindest offenkundige Verbindung zwischen dem Inhalt und den Stiftern gibt.[11] Als adelige Stifter[12] erhielt die Familie de Dreux die Möglichkeit ihre Standesabzeichen prachtvoll darzustellen[13] und „pro remedio animae“[14] (zum Heil der Seele) zu handeln.
2.2 Beschreibung
Um ein zwölfpässiges Medaillon ordnen sich vier Kränze, die aus jeweils zwölf Elementen bestehen, konzentrisch an (Abb. 2). Im Zentrum sitzt Christus auf einem Thron in einem roten Kreis. Während er seine rechte Hand segnend erhebt, hält er mit seiner linken Hand einen großen, goldenen Kelch. Der sich anschließende Kranz besteht aus Kreisflächen, die in eine rotgegitterte, blaue, schneußähnliche Form eingelassen sind. In den Kreisen befinden sich vor blauen Grund im Wechsel je zwei Engel mit Weihrauchfässern und eines der vier Evangelistensymbole. Im Uhrzeigersinn sind dies Adler, Stier, Löwe und Engel. Der nächste Kranz setzt sich zusammen aus vier achtpässigen Medaillons, die sich mit je zwei runden Medaillons abwechseln. In diesen Medaillons sitzen in blauen Kreisflächen 12 der 24 Ältesten auf je einem Thron und halten in ihren Händen jeweils ein Saiteninstrument und ein bauchiges Gefäß . Den darauf folgenden Kranz bilden gelb-blau gewürfelte Vierpässe. Hierbei handelt es sich um das Wappenbild der Familie de Dreux. Kreissegmente, deren Schnittflächen nach außen gerichtet sind, schließen die Fensterrose ab. Auch hier werden die verbleibenden 12 Ältesten in gleicher Weise wie die anderen Ältesten dargestellt. Den Abschluss bildet ein kräftiges Schmuckband, das von der Mauereinfassung jedoch zwölf Mal unterbrochen wird (Abb. 2).
[...]
[1] Vgl. Paul Popesco: Die Kathedrale von Chartres. Glasmalereien einer bedeutenden Kathedrale, (=Berühmte Glasmalereien in Europa), übers. aus dem Franz., 2. Aufl., Augsburg [ca 1978], S. 55. Im Folgenden als Popesco, 1978 zitiert.
[2] Vgl. Brigitte Kurmann-Schwarz/ Peter Kurmann: Chartres : die Kathedrale, (=Monumente der Gotik; 3), Regensburg 2001, S. 104. Im Folgenden als Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001 zitiert.
[3] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 122-142.
[4] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 103. Für die Forschung ist damit allerdings noch nicht geklärt, ob es auch ein übergreifendes ikonografisches Gesamtprogramm gibt. Zur Diskussion: Wolfgang Kemp: Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987; Francoise Perrot: Le vitrail, la croisade et la Champagne. Réflexion sur le fenêtres hautes du choeur à la cathédrale de Chartres, in: Les Champenois et la croisade, actes des quatrièmes Journées Rémoises 27-28 novembre 1987, hrsg. v. Yvonne Bellenger und Danielle Queruel, Paris 1989, S. 109-128; Beat Brenk: Bildprogrammatik und Geschichtsverständnis der Kapetinger im Querhaus der Kathedrale von Chartres, in: Arte medievale, 2. Serie 5, 1991, S.71-96. Im Folgenden als Brenk, 1991 zitiert; Colette Manhes-Deremble: Les vitraux narratifs de la cathédrale de Chartres. Etude iconographique. Corpus Vitraerum [Medii Aevi] France, Série Études 2, Paris 1993. Im Folgenden als Manhes-Deremble, 1993 zitiert; Wilhelm Schlink: Der Stifter schleicht sich in die Heilsgeschichte ein. Zum Chartreser Samariterfenster, in: Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn. Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst, hrsg. v. Hans-Rudolf Meier, Berlin 1995, S. 203-211.
[5] Vgl. Christian Freigang: Vom Mythos mystischer Lichtarchitektur. Die Kathedrale von Chartres, in: Die großen Kathedralen. Gotische Baukunst in Europa, hrsg. v. Uwe A. Oster, Darmstadt 2003, S. 19-28; hier S. 26.
[6] Vgl. Kurmann-Schwarz, 2000, S. 9. Strittig ist in der Forschung allerdings der Zeitpunkt, wann dieses Atelier erstmals in Chartres auftrat. Zudem geht Kurmann-Schwarz davon aus, dass der Figurenstil der Glasmalerei eher von dem Skulpturenstil der nach Chartres gekommenen Bildhauer als von den Glasmalern selbst angeregt wurde.
[7] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 142. Die Datierung von Grodecki und Brisac schlägt eine frühere Entstehungszeit zwischen 1217 und 1225 vor. Vgl. Louis Grodecki/ Cathérine Brisac: Le vitrail gothique au XIIe siècle, Paris 1984, S. 61.
[8] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 190.
[9] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 113.
[10] Vgl. Popesco, 1978, S. 58.
[11] Dennoch stellt sich die Frage nach der Beziehung von den de Dreux und Chartres und ihrer Rolle im kirchlichen Leben, die ihnen die Positionierung ihrer Stiftung im Südquerhaus, nahe dem Chor ermöglichte. Möglicherweise können die Aufsätze von Meredith Parsons Lillich: Early heraldry. How to crack the code, in: Gesta, Vol. 30 (1991) Nr. 1, S. 41-47 und Brenk, 1991, S.71-96 Hinweise dafür liefern.
[12] Pierre Mauclerc war Herzog der Bretagne, Enkel Ludwigs VI und verwandt mit König Ludwig VIII .Vgl. Ladwein, 1998, S. 147.
[13] Vgl. Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 122.
[14] Kurmann-Schwarz/ Kurmann, 2001, S. 149.
- Quote paper
- Nga Tran (Author), 2006, Notre-Dame in Chartres: Zur Funktion der Propheten-Evangelisten-Darstellungen in den Glasmalereien des Südquerhauses, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79111
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