Waren die Neunzigerjahre noch von der Theorie des Endes der Geschichte von Francis Fukuyama geprägt, so kehrte die totgesagte Geschichte am 09/11 zurück – und mit ihr die Religion. Die religiöse – präziser: islamische – Legitimation der Attentate hat zu einer Rückkehr der Religion in die Weltpolitik, und folglich in die Medien, geführt. Die unsichtbare Religion von Thomas Luckmann ist wieder sichtbar geworden, die privatisierte Religion ist zurück in die politische Öffentlichkeit geraten. Die Frage lautet: Erleben wir seit 09/11 eine Rückkehr der Religion – oder lediglich ihre mediale Thematisierung? Oder ist dies, wenn wir Religion nach Niklas Luhmann als kommunikatives Geschehen definieren, letztlich dasselbe? In der Arbeit wird empirisch nachgewiesen, dass in ausgewählten Printmedien seit 09/11 Begriffe wie 'Religion', 'Islam' und 'Christentum' signifikant häufiger verwendet werden. Wenn also Identität vermehrt über religiöse Codes – und weniger über ethnische, nationale, geschlechtliche etc. – abgehandelt wird, dann ist dies eine Referenz, mit der, so lautet die Annahme, Identität gestiftet wird. Denn nach G. H. Mead ist das Ich gewissermassen das, womit wir uns identifizieren. Die Fremdzuschreibung religiöser Identität z. B. bei Moslems, hat Rückwirkungen auf die eigene Identität. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied darin, ob Osama bin Laden den Westen als säkulare oder als christliche Gesellschaft angreift. Es besteht ein Unterschied darin, ob der Westen säkulare oder eben christliche Werte verteidigt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Aspekte der Religion
2.1 Definition von Religion
2.2 Säkularisierung
2.3 Privatisierung der Religion
2.4 Fundamentalismus
2.4.1 Protestantischer Fundamentalismus
2.4.2 Islamischer Fundamentalismus
3 Medien, Religion und der Kampf der Kulturen
3.1 Mediale Thematisierung der Religion
3.1.1 Quantitative Perspektive
3.1.1.1 "Religion" in den Medien
3.1.1.2 "Religion" und "Politik" in den Medien
3.1.1.3 "Religion" und "Konflikt" in den Medien
3.1.1.2 "Religion" und "Terror" in den Medien
4.1.3 Qualitative Perspektive
3.2 Der Kampf der Kulturen
4 Die mediale Konstruktion religiöser Identität
4.1 Medien und islamische Identität
4.2 Medien und christliche Identität
5 Zusammenfassung und Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
"Der 11. September des Jahres 2001 ist weit mehr als das Datum eines furchtbaren Terrorangriffs: Nine-Eleven ist ein Symbol, eine Kennmarke für eine Zeitenwende…" berichtet der 'Spiegel' (Follath/Spörl 2006: 74). Waren die Neunzigerjahre von der Theorie des Endes der Geschichte von Francis Fukuyama geprägt, so kehrte die totgesagte Geschichte am 11. September 2001 zurück – und mit ihr die Religion. Die religiöse – präziser: islamische – Legitimation der Attentate hat zu einer Rückkehr der Religion in die Weltpolitik –und folglich in die Medien – geführt. Das betrifft in erster Linie den Islam, aber auch die beiden anderen auf Abraham basierenden Religionen. Die Religion ist aus der Privatsphäre wieder an die Öffentlichkeit geraten – wie der Kopftuch-Streit, die Minarett-Debatte und der Karikaturen-Streit exemplarisch zeigen.
Die Frage lautet: Erleben wir seit dem 11. September 2001 eine Rückkehr der Religion? Nicht wenige Intellektuelle vertreten den Standpunkt. Walter Kardinal Kasper behauptet in einem Interview in der 'Zeit': "Es gibt eine enorme Zunahme der Pilger- und Touristenströme [nach Rom]. An Sonntagen sind zwischen 50'000 und 60'000 Menschen auf dem Petersplatz, der Papst kann mittwochs seine Audienzen gar nicht mehr in der Audienzhalle halten" (Kasper 2007: 15). Ähnliches sagt Wolfram Weimer im Magazin 'Cicero': "Das ironische Zeitalter tut seinen letzten Seufzer, denn Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht – im doppelten Sinne des Wortes. Nicht nur als philosophische Kategorie, revitalisierte Tradition oder spirituelle Kraft. Er kommt mitten hinein in den politischen Raum" (Weimer 2006: 94). Und Jürgen Habermas meint: "Als hätte das verblendete Attentat [vom 11. September 2001] im innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Schwingung versetzt, füllten sich überall die Synagogen, die Kirchen und die Moscheen" (Habermas 2001: 10). Diese Liste liesse sich freilich fortführen.
Bei der Frage, ob wir eine Rückkehr der Religion oder gar eine Entsäkularisierung erleben, gilt es zuerst festzulegen, wer 'wir' sind bzw. auf welchen beobachteten Rahmen dieses 'wir' sich bezieht? Betrachten wir die gesamte Weltgesellschaft, die zu einem sehr grossen Teil aus Gesellschaften besteht, in denen die Säkularisierung – aus Gründen, die im Kapitel 2.2 behandelt werden –nie stattgefunden hat und es folglich zu keiner Rückkehr der Religionen kommen kann? Betrachten wir die westliche Gesellschaft, die aus den religiösen und religiös toleranten USA und dem relativ unreligiösen Europa mit laizistischen Kernstaaten wie Frankreich besteht? Betrachten wir arabischen Gesellschaften, wo die Versuche im 20. Jahrhundert, das säkulare Modell in politische Systeme zu implementieren, als Imperialismus interpretiert wurden – und es als Folge zur Formierung eines politischen Islams gekommen ist, der sich gegen den Westen aufbäumt? Oder betrachten wir den fernen Osten, bei dem schon China und Japan zwei völlig verschiedene historische Hintergründe haben, was ihre Religion angeht?
Der panreligiöse Universalismus, der in den Neunzigerjahren die Gemeinsamkeiten der Weltreligionen betonte, ist heute in den Medien durch Ansätze ersetzt worden, die kulturelle und religiöse Differenz betonen. Das von Samuel Huntington in den Neunzigerjahren geschriebene und damals kaum beachtete Buch 'Kampf der Kulturen' ist zu Popularität und Spitzenplätzen auf Bestsellerlisten gekommen. Einst noch stiefmütterlich von der Frankfurter Schule behandelt, ist die Religion wieder ein grosses Thema der Soziologie – wie sie es bei Max Weber und Emile Durkheim war, den Gründungsvätern der modernen Soziologie. "Noch vor 30 Jahren prophezeiten viele Sozialwissenschaftler, dass die Religion in der modernen Welt verschwinden und durch die Naturwissenschaften ersetzt werden würde. Sie prophezeiten, dass Stämme verschwinden und durch Individuen ersetzt werden würden. Sie haben geirrt: Das ist nicht geschehen und wird nicht geschehen, weder auf globaler noch auf lokaler Ebene" (Shweder 2004: 251).
Bei einer Rückkehr der Religion muss ebenfalls geklärt werden, wohin die Religion denn zurückkehrt? In die Gesellschaft? In die Medien? Oder ist dies letztlich dasselbe? "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" (Luhmann 2004: 9). Wenn die Medien Religion abhandeln, dann konstruieren sie ein Muster, mit dem Identität gestiftet wird. Das bedeutet kommunikationssoziologisch: Die Medien konstruieren Religion. Es stellt sich die Frage, welches die Konsequenzen der religiösen Codierung von Identität und der medialen Thematisierung von Religion sind? Entspricht die mediale Thematisierung von Religion einer sich selbst erfüllenden Prophetie von Robert K. Merton (vgl. Coser 2002: 162)?
Die Medien nehmen eine zentrale Funktion in den aktuellen Konflikten ein. "Die Anschläge werden in der Regel so durchgeführt, dass sie durch die Berichterstattung über sie eine grösstmögliche Öffentlichkeit erreicht wird. Die Instrumentalisierung der Medien dient auch der Rektrutierung. Al-Qaida hat Pressesprecher und Medienstrategen" (Abou-Taam/Bigalke 2006: 80). Im Kapitel 3.1.1 wird die Hypothese der medialen Zunahme von Religion empirisch überprüft. Als Grundlage wird die quantitative Verwendung der folgenden Begriffe bzw. Begriffspaare
- Religion
- Religion+Politik
- Religion+Konflikt
- Religion+Terror
- Samuel Huntington
- Islam
- Christentum
in den Zeiträumen
- 12. September 2000 bis 11. September 2001
- 12. September 2001 bis 11. September 2002
- 01. Januar 1996 bis 31. Dezember 1996
- 01. Januar 2006 bis 31. Dezember 2006
in den Medien
- Blick
- Facts
- Magazin (des Tagesanzeigers)
- NZZ
- Spiegel
- Tagesanzeiger
- Weltwoche
- Zeit
untersucht.
Wenn die Massenmedien Identität religiös abhandeln, dann hat das sehr wohl Folgen für die Gesellschaft: "Aus Ausländern/Gastarbeitern wurden Muslime" (Behloul 2007: ohne Seitenangabe). Identität ist nichts Festes, sondern sie wird zugeschrieben aufgrund bestehender Muster. "Die Individuation des Bewusstseins und des Gewissens eines historischen Individuums geschieht weniger durch eine originäre Neuschaffung von Weltansichten als durch eine Internalisierung einer schon vorkonstruierten Wirklichkeit" (Luckmann 1991: 109). Es kann bei dieser vorkonstruierten Wirklichkeit um religiöse, ethnische, nationale oder andere Muster handeln. Wenn Gastarbeiter zu Muslimen werden, dann nicht nur in der Fremdwahrnehmung, sondern sie werden sich selbst stärker mit dem ihnen zugeschrieben Islam identifizieren – oder sie werden sich stärker von ihm abgrenzen. "Man beobachtet in der muslimischen Bevölkerung die Tendenz, sich eher in Opposition zu dem zu definieren, was man nicht will, als durch Hervorhebung der positiven Elemente kultureller und religiöser Differenz" (Matteo 2005: 36).
Dieses Konstruktionsverhältnis verläuft jedoch reziprok. Wenn die Identität der 'Anderen' – der Moslems –religiös codiert wird, wird möglicherweise auch die eigene Identität religiös verstanden. Die Frage lautet deshalb, wie die nichtmuslimische Gesellschaft die eigene Identität der muslimischen Identität gegenüberstellt – als Christen oder Atheisten? Oder als beides –wie die islamophobe Journalistin Oriana Fallaci, die innerwestliche Parallelen zwischen der atheistischen und der römisch-katholischen Position sieht: "Ich bin Atheistin, aber wenn eine Atheistin und der Papst der gleichen Meinung sind, muss da etwas Wahres dran sein" (Fallaci 2005: 16)[1].
Diese Verschiebung der Identitätsreferenz wurde zum Beispiel deutlich, als der SVP-Präsident Ueli Maurer in der Fernsehsendung 'Arena' betonte, dass die Werte unserer Gesellschaft auf jüdisch-christlichen Traditionen beruhen. Vor dem 11. September 2001 hätte nicht einmal ein CVP-Politiker so argumentiert. Diese religiöse Rhetorik ist freilich in den sehr religiösen USA noch ausgeprägter, seitdem dort in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren Organisationen wie die christlich-konservative 'Moral Majority' politischen Druck ausüben. Also doch eine Rückkehr der Religion? Um diese Fragen klären zu können, wird im nächsten Kapitel zuerst eine plausible Definition von Religion dargelegt. Im Weiteren werden die Begriffe wie jener der Säkularisierung, der Privatisierung der Religion und des Fundamentalismus geklärt. Nach der Klärung dieser Begriffe und der empirischen Überprüfung der Zunahme religiöser Thematisierung in den Medien wird dann das Verhältnis von Medien und religiöser Identität betrachtet.
2 Aspekte der Religion
In diesem Kapitel werden Definitionen von der Religion, der Säkularisierung, der Privatisierung der Religion und des Fundamentalismus entwickelt. Damit ist die Voraussetzung erfüllt, um überhaupt die aktuelle Thematisierung und Politisierung der Religion und das komplexe Verhältnis zwischen religiöser Identität und den Medien differenzierter betrachten zu können.
2.1 Definition von Religion
Es gibt verschiedene Definitionen der Religion, die gelegentlich mehr über den Standpunkt des Betrachters als über die Religion selbst aussagen. Grundsätzlich kann man Religion 'funktionalistisch' oder 'substanziell' definieren, wobei das Begriffspaar variieren kann: Niklas Luhmann unterscheidet diesbezüglich eine soziologische und eine phänomenologische Ebene, wobei er für den ersten Ansatz Emile Durkheim als Referenz angibt und für den zweiten Rudolph Otto (vgl. Luhmann 2002: 8). Die soziologische Definition hat für diese Arbeit deutlich mehr Relevanz. Nach Niklas Luhmann können wir, im Kontext einer soziologischen Theorie, "Religion ausschliesslich als kommunikatives Geschehen auffassen" (Luhmann 2002: 40). Dies trifft umso mehr zu, wenn es um die mediale Thematisierung der Religion und um mediale Zuschreibungen religiöser Identität geht. Deshalb gibt es keinen plausiblen Grund, in dieser Arbeit die phänomenologische bzw. substanzielle Definition von Religion – deren Spur von Friedrich Schleiermacher bis zu Rudolph Otto verläuft – zu verfolgen. Auf theosophische Fragen wird ebenfalls nicht eingegangen, denn die Frage, ob Gott existiert oder nicht, hat wenig mit der Religion als mediensoziologisches Phänomen, geschweige denn als politischer Machtfaktor zu tun.
Deshalb bleiben wir bei der soziologischen Definition von Religion. "Die Soziologie geht nicht von religiösen Glaubensmaximen aus, selbst dann und gerade dann nicht, wenn sie von Religion handelt. Sie pflegt einen 'methodischen Atheismus', um sich dem Wissenschaftssystem zuzuordnen" (Luhmann 2002: 278). Diesen methodischen Atheismus – besser wäre vielleicht: Agnostizismus – vertritt auch Emile Durkheim. Es ist aus seiner und allgemein aus soziologischer Perspektive gänzlich irrelevant, ob die Gottheiten, die von den religiös Praktizierenden verehrt werden, existieren. Tatsache ist, dass die Gemeinschaft durch das Verehren transzendenter Kräfte erst zu einer solchen wird. Religion fördert bzw. ermöglicht den Prozess der Vergesellschaftung.
Emile Durkheim definiert die Religion wie folgt: "Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören" (Durkheim 1994: 75). Emile Durkheim hat diese Definition der Religion aufgrund anthropologischen Studien der Ureinwohner Australiens entwickelt. Diese Definition besagt, dass die Gesellschaft ihre Gottheiten konstruiert, dass sie dann aber – für die Gesellschaft und deren einzelne Mitglieder –real sind. Ob sie 'wirklich' existieren, ist insofern irrelevant, weil es aus agnostischer Sichtweise keinen Zugriff auf diese quasi externe 'Wirklichkeit' gibt. Auch wenn die Definition von Emilie Durkheim gelegentlich als überholt bezeichnet wird, hat sie immer noch eine hohe Relevanz – und das nicht nur für Stammesgesellschaften, sondern für alle religiösen Gruppen, die eine eigene Moral entwickeln, die primär innerhalb der Gemeinschaft Gültigkeit hat. Die hohe Bedeutung der Sozialität in der Religion, auf die später noch eingegangen wird, betonten auch Peter Berger und Thomas Luckmann: "Religion braucht Gemeinschaft, und Leben in der religiösen Welt braucht Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinde" (Berger/Luckmann 2004: 169).
Die Problematik der funktionalistischen bzw. der soziologischen Definition von Durkheim wird unter anderem von der Theologie kritisiert: Diese Definition ist auch auf einen Sportfanclub anwendbar, weil ein Merkmal der Religion –nämlich die religiöse Erfahrung und der Transzendenzbezug – kaum thematisiert wird. Denn: "In funktionalistischer Perspektive wird alles, was sich einfügen lässt, kontingent, nämlich dem Vergleich mit anderen Möglichkeiten ausgesetzt" (Luhmann 2002: 117). Wir werden sehen, dass Samuel Huntington die Religion auf Inklusion und Exklusion reduziert. Religion ist bei Huntington gänzlich ersetzbar durch Nation oder Ethnizität.
Niklas Luhmann bezweifelt, dass Religion in der modernen Gesellschaft noch eine Integrationsfunktion ausüben kann. "Weder Moral noch Religion sind in diesem Zusammenhang [der Integration] entscheidende Variabeln" (Luhmann 2002: 304). Es stellen sich hiermit die folgende Fragen: Was charakterisiert die moderne Gesellschaft und wie könnte eine für sie brauchbare Definition von Religion aussehen? Gibt es für moderne Gesellschaften eine plausible Definition von Religion, die zugleich auf nichtwestliche übertragen werden kann? Oder wird dieses Vorhaben per se ethno- bzw. eurozentrisch?
Diese Frage führt einen vorerst einmal zu Max Weber, der bei archaischen Gesellschaften mit der Religionsdefinition von Emile Durkheim übereinstimmt: "Den Lokal-, Stammes- und Reichsgott gingen nur die Interessen seiner Verbände an. Er hatte gegen andere seinesgleichen zu kämpfen wie die Gemeinschaft selbst und gerade im Kampf seine göttliche Macht zu bewähren" (Weber 1988a: 546). Im Gegensatz zu Emile Durkheim jedoch fokussiert Max Weber Weltreligionen mit jenem einheitlichen Welt-Gott, also die drei abrahamitischen Religionen, aber auch asiatische Religionen wie den Hinduismus und den Buddhismus. "Das Problem [auf das Max Weber sich fokussiert] entstand vielmehr erst mit der Sprengung dieser Schranken durch universalistische Religionen, mit dem einheitlichen Welt-Gott also […]" (Weber 1988a: 546). Dort erst, an jenem evolutionär fortgeschrittenen Punkt, analysiert Max Weber die Religion, wobei er im Gegensatz zu Durkheim keine begriffliche Definition formuliert. Und um die Religion zu charakterisieren greift Max Weber "nicht auf die Lehren, sondern vor allem auf ihre praktischen Wirkungen zurück" (Schluchter 1998: 278). Er untersucht den Einfluss der religiösen Werte, nach denen Individuen handeln und geht von empirischen Daten aus, wie zum Beispiel vom Kapitalbesitz von Protestanten und Katholiken. Er vertritt in seinem berühmten Aufsatz 'Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus' (Weber: 1988a: 17-206) die makrosoziale These, dass die protestantische Ethik Werte vermittelt, die Wirtschaftswachstum und Fortschritt begünstigen. Er führt ökonomische Entwicklungen wie die englische Industrialisierung auf ausserökonomische – primär religiöse –Faktoren zurück. Max Weber grenzt sich so von der materialistisch-marxistischen Geschichtsauffassung ab.
Das grosse Wort in diesem Zusammenhang ist die 'Weltentzauberung': "Jeder grosse religionsgeschichtliche Prozess der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Vergleich mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilsuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier seinen Abschluss" (Weber 1988a: 94/95). Der Religionsbegriff von Max Weber beruht auf Idealtypen – also zum Beispiel auf einem 'eigentlichen' Protestanten. Dieser Idealtypus soll den Wesenskern sichtbar machen. Er ist jedoch ein Stereotyp, das in der Realität in dieser Reinform kaum anzutreffen ist. "Die idealtypische Konstruktion ist immer ein klarer und bewusster Willenszusammenhang, und die psychischen Gegebenheiten kommen höchstens als störende Faktoren in die Methode hinein, nicht als Triebfeder" (Schluchter 1981: 280).
Es wird gelegentlich versucht, die Protestantismustheorie von Max Weber zu falsifizieren, indem auf das ökonomisch erfolgreiche und katholische Bayern oder auf aufstrebende asiatische Staaten mit nichtprotestantischen Religionen verwiesen wird (vgl. Yergin/Stanislaw 2002: 239). Wer diese Ansicht vertritt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit den Originaltext von Max Weber nicht gelesen. Dort steht: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein" (Weber 1988a: 203). Mit anderen Worten: Die Calvinisten haben kapitalistischen Geist hervorgebracht, der sich danach in einer eigenen Wertsphäre verselbstständigt hat. Einmal entfesselt, braucht der Kapitalismus den Calvinismus nicht mehr. Der Kapitalismus kann in anderen Kulturen übernommen und adaptiert werden. Er funktioniert als eine von anderen Funktionssystemen entkoppelte Wertsphäre.
Die Basis dieser ökonomischen Entfesselung war jedoch Instabilität, begingt durch unstabile Machtverhältnisse zwischen religiös legitimierter und weltlicher Macht. "Haben die Machtkämpfe zwischen Kirche und Staat, Adel und König, Katholiken und Protestanten eine Bresche für die individuelle Freiheit geschlagen, so reisst das neue Wirtschaftsmodell sämtliche Mauern nieder. Nichts hat die Gegenwart so geprägt wie der freie Markt" (Zakaria 2007: 40). Die Religion hat dadurch ihre Allmacht eingebüsst. Aber trotzdem ist nicht geklärt, ob die Geschichte nur ein ökonomisches System und eine Form der Modernisierung hervorgebracht hat. Das ökonomische System ist zwar universalisierbar, weil sich letztlich jede Handlung auf Nutzen und Kosten reduzieren lässt, was allerdings nicht heisst, dass es universell ist. Anders gesagt: nicht das ökonomische System ist universell – wie es unter anderem der Marxismus oder die Rational-Choice-Theory vertreten –, sondern nur die ökonomische Perspektive ist es.
Der Soziologe Bruce Lincoln will mit seiner Definition von Religion das von Max Weber institutionalisierte Handeln mit der Vergesellschaftung und der Zuschreibung von Identität im sozialen Raum von Emile Durkheim verbinden. Er geht dabei von Clifford Geertz aus, der Religion als kulturelles System wie folgt definiert: "Ein Symbolsystem, das darauf zielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeingültigen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer Aura von Faktizität umgibt, dass Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen" (Geertz 1987: 44f.). Lincoln definiert die folgenden vier Merkmale einer jeder Religion:
- "A discourse whose conserns transcend the human, temporal, and contingent, and that claims for itself a similarly transcendent status" (Lincoln 2003: 5).
- "A set of practices whose goal is to produce a proper world and/or proper human subjects, as defined by a religious discourse to which these practices are concerned" (Lincoln 2003: 6).
- A community whose members construct their identity with reference to a religious discourse and its attendant practices" (Lincoln 2003: 6).
- An institution that regulates religious discourse, practices, and community, reproducing them over time and modifying them as necessary" (Lincoln 2003: 7).
Bruce Lincoln beschreibt im Weiteren zwei Gegenmodelle betreffend den religiösen Gehalt einer Gesellschaft. Er beschreibt das Konzept eines maximalen gesellschaftlichen Religionsgehalts, der unter anderem vom islamischen Fundamentalisten Syyid Qubt (1906-1966) verkörpert wird. "The other [das Konzept eines minimalen Religionsgehalts], by contrast, is minimalist. This is the position taken by Kant at the culmination of the Enlightenment…" (Lincoln 2003: 5).
Mit diesem Modell des maximalen und minimalen Religionsgehaltes untersucht Lincoln unter anderem die Religiosität von Mohammed Atta und den anderen Attentäter vom 11. September 2001, aber auch jene amerikanischer protestantischer Fundamentalisten wie Jerry Falwell und Billy Graham. Damit eine soziale Bewegung oder ein Individuum als religiös maximal eingestuft werden kann, müssen alle vier oben erwähnten Punkte vorhanden sein. Fehlt einer, dann ist bereits nicht mehr einer maximalen Religiosität die Rede. Lincoln liefert somit auch eine Definition der Säkularisierung, die im nächsten Kapitel thematisiert wird. Säkularisierung ist religiöser Minimalismus – entstanden in der Aufklärung. Es kommt mit der Säkularisierung also nicht zum vollkommenen Verschwinden der Religion, sondern lediglich zu einer Minimalisierung ihres Einflusses auf das politische Geschehen.
2.2 Säkularisierung
Wie beim Begriff der Religion gibt es auch bei jenem der Säkularisierung mehrere Erklärungsansätze. Auf den philosophischen Atheismus von Ludwig Feuerbach, den Materialismus von Karl Marx soll jedoch ebenso wenig eingegangen werden wie auf die Gottgleichheit des Menschen bei Friedrich Nietzsche oder die religiöse Illusion bei Sigmund Freud. Denkhistorisch betrachtet ist es kein Zufall, dass jene radikalen Verabschiedungen der Religion ausgerechnet im 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Im siebzehnten Jahrhundert verloren im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) Millionen von Menschen ihr Leben – und dieser Krieg wurde auch religiös legitimiert. Diese negative Erfahrung mit der Religion – ein kollektives Trauma –prägt Europa in hohem Masse. Sie erst hat zur Säkularisierung geführt – zumindest, wenn man unter dem Begriff einen Abbau von religiösen Einflüssen auf die Schule, auf die Wissenschaft, auf selbstbestimmte Lebensführung des Einzelnen versteht (vgl. Luhmann 2002: 279).
"Having never suffered a trauma like the European Wars of Religion, the population in general see no need for minimalizing initiatives, which they experience as a Western imposition threatening to the stability, dignity, and integrity of their culture" (Lincoln 2003: 64). Die Säkularisierung ist also die Konsequenz eines europäischen Kriegstraumas –und damit eine anthropologische Sondererscheinung. Im Hinblick auf die Rückkehr der Religionen in einem globalen Kontext bedeutet dies: "Wenn sie [die Säkularisierung] europäisch war, braucht man sich über die vielen religiösen revivals aussereuropäischer Provenienz nicht zu wundern" (Luhmann 2002: 280). Und wie die Säkularisierung selbst sind auch ihre Konsequenzen Sonderfälle – zum Beispiel der europäische Nationalstaat, der aufgebaut wurde, um eine weitere Katastrophe wie den Dreissigjährigen Krieg zu verhindern (vgl. Lincoln 2003: 74), der dann aber in weitere ähnliche Katastrophen führte.
Die "Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik, Kirche und Staat war Teil der Säkularisierung. Dadurch wurde die Religion 'entstaatlicht', aus der Staatssphäre in die gesellschaftliche Sphäre gerückt" (Schluchter 2003: 39). Da diese Entwicklung die zuvor erwähnten speziellen Bedingungen voraussetzt, stellt sich die Frage, ob die Säkularisierung universalisierbar bzw. universell ist. Zweifellos ist sie "in Form technisch-wissenschaftlicher Weltbeherrschung und im Medium sozialer und politischer Zielvorstellungen (wie z. B. Demokratie, Gleichberechtigung, Emanzipation) zu einem globalen Phänomen geworden" (Figl 2005: 39). Der Terrorist Bin Laden lehnt sie deutlich ab: "Ihr trennt die Religion vom Staat und widersprecht damit der reinen Natur, die dem Herrn, eurem Schöpfer, absolute Autorität zuspricht" (Bin Laden 2006: 111). Ist der Islam nicht kompatibel mit der Säkularisierung? "Vom Koran aus gesehen, gibt es keine Ordnung der Welt, die vollständig unabhängig wäre von der Ordnung Gottes und damit von der Religion, auch nicht die unveräusserlichen Rechte des Menschen" (Figl 2005: 45). Es gäbe jedoch von der Bibel aus gesehen auch keinen Grund zur Säkularisierung, zumal diese die Allmacht Gottes und ihrer irdischen 'Vertreter' der Macht beraubt. Und zudem hat Atatürk mit der Türkei einen streng laizistischen Staat aufgebaut – dies nicht in einer arabischen, aber sehr wohl in einer islamischen Kultur. Am Islam kann die Ablehnung der Säkularisierung also nicht liegen. Nur, weshalb lehnt die arabische Welt die Säkularisierung denn ab? "Weil sie dies den grösseren Teil des 20. Jahrhunderts hindurch schon versucht haben und weil die Bevölkerung das Versagen der damaligen Regierungen dem Laizismus und dem westlichen Modell anlastet" (Zakaria 2007: 135).
Samuel Huntington kritisiert das Vorhaben, die Säkularisierung auf andere Kulturen zu übertragen. "Was für den Westen Universalismus ist, ist für den Rest der Welt Imperialismus" (Huntington 1998: 292). Der Westen soll also auf die Verbreitung seines Demokratiemodells und der Säkularisierung verzichten. Die internationale Durchsetzung von Menschenrechten ist demnach eine kulturelle Spielform des Imperialismus. Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob die Säkularisierung – und mit ihr die Modernisierung – nur vom Westen selbst vorangetrieben wird, und nicht auch von auch anderen Gesellschaften, die damit sehr wohl ökonomische Vorteile erwirtschaften können. Und ist es wirklich eine und dieselbe Säkularisierung, die global voranschreitet? Ist es eine und dieselbe Modernisierung, die entweder radikal angenommen oder ebenso radikal abgelehnt wird? Oder ist diese eine Modernisierung auch eine idealtypische Konstruktion? "Während also die Ausbreitung der Moderne heute in der Tat in der ganzen Welt stattgefunden hat, so rief diese nicht nur etwa eine Kultur, ein Muster der ideologischen und kulturellen Reaktion hervor, sondern zumindest einige verschiedene Grundvarianten" (Eisenstadt 1998: 129).
Wozu es konkret führt, wenn der Westen Länder aufgibt, wofür Samuel Huntington plädiert, hat man exemplarisch gesehen am Beispiel Afghanistans, wo Terroristen ihre Attacken auf den Westen problemlos vorbereiten können. "Der gescheiterte Staat Afghanistan war so schwach, dass er de facto von einem nichtstaatlichen Akteur, der Terrororganisation al-Qaida, übernommen werden konnte und als Basis für weltweite terroristische Operationen diente" (Fukuyama 2006: 123).
Gemäss Niklas Luhmann sind die Massenmedien eine der Voraussetzungen der Säkularisierung, zunächst einmal der Buchdruck. "Die alte Vorstellung, Bild und Schrift seien selbst Zeugnisse der Realität, löst sich auf. Selbst die 'heilige Schrift' ist keine authentische Explikation der Realität, sondern nur noch ein Glaubenszeugnis, das man annehmen –oder ablehnen kann" (Luhmann 2002: 298). Das würde dann auf einer weiteren Ebene erklären, weshalb die Säkularisierung in arabischen Gesellschaften abgelehnt wird: Das Buch hat sich in der arabischen Welt nie durchgesetzt. Der Koran wurde erst im Jahr 1828 von Muslimen mechanisch vervielfältigt (vgl. Diner 2005: 133). Die Luther-Bibel wurde bereits 300 Jahre zuvor gedruckt. Die Folge ist ein Mangel an Schriftlichkeit und das sehr hohe Analphabetentum (vgl. Fergany 2002: 52) in der arabischen Welt. Wissen lässt sich nur dann verbreiten, wenn Spielräume für den Einzelnen vorhanden sind (Diner 2005: 49). "Vor zu vielen Büchern wurde [in der arabischen Welt] gewarnt, neuen Schriften mit einer öffentlichen zur Schau gestellten Skepsis begegnet […]" (Diner 2005: 113). Dem steht der Protestantismus gegenüber, bei dem der Buchdruck als "göttlicher Auftrag" (Diner 2005: 125) verstanden wurde.
Um nochmals auf die atheistischen Theorien des 19. Jahrhunderts zu sprechen zu kommen: "Die These des Niedergangs der Religion, ein Verlust an sozialer Bedeutung und individueller Motivkraft, galt im 19. und im frühen 20. Jahrhundert als ausgemachte Wahrheit… Unter Religionssoziologen gilt es heute als ausgemacht, dass man zwar von 'Entkirchlichung' und 'De-Institutionalisierung' oder auch vom Rückzug des organisierten Zugriffs auf religiöses Verhalten sprechen könne, nicht aber von einem Bedeutungsverlust des Religiösen schlechthin" (Luhmann 2002: 278). Dass der Niedergang der Religion vor ungefähr hundert Jahren als ausgemachte Wahrheit galt, verweist auf eine eurozentrische Sichtweise, die gekoppelt ist mit einer kolonialen Vormachtsstellung. Den Höhepunkt der globalen Macht hat der Westen gemäss Samuel Huntington 1914 erreicht, als europäische und ehemals europäische Kolonien (wie zum Beispiel die USA) 84 Prozent der Landoberfläche der Erde ausmachten (vgl. Huntington 1998: 66). Die Idee der Universalisierung der westlichen Modelle geht demnach auch auf die territoriale und ökonomische Vormachtstellung des Westens zurück.
Nichtsdestotrotz gab es auch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert Denker, die nicht vom vollständigen Verschwinden der Religion ausgingen – zum Beispiel Max Weber. Denn die Weltentzauberung durch den okzidentalen Rationalismus führt bei Max Weber nicht zum vollständigen Verschwinden der Religion. Es bilden sich in der Moderne differenzierte Wertsphären heraus, die Eigenlogiken folgen und genau deshalb ihre Monopolpositionen zur Welterklärung aufgeben müssen: Zum Beispiel die ökonomische, die religiöse, die wissenschaftliche und die erotische Wertsphäre. "Die Fremdheit beider [in diesem Falle: der religiösen und der nationalstaatlichen] Sphären gegeneinander bei voller Rationalisierung wirkt sich nun aber besonders scharf noch darin aus, dass in entscheidenden Punkten die Politik, im Gegensatz zur Ökonomie, als direkte Konkurrenz der religiösen Ethik auftreten vermag" (Weber 1988a: 548).
Der Weg zum Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons und zur Systemtheorie von Niklas Luhmann ist damit geebnet. Die Religion hat so ihre Monopolstellung eingebüsst, weil sie nur noch eines von mehreren Funktionssystemen ist: "Denn die Rationalisierung und bewusste Sublimierung der Beziehungen des Menschen zu den verschiedenen Sphären äusseren und inneren, religiösen und weltlichen, Güterbesitzes drängte dann dazu: innere Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären in ihnen Konsequenzen bewusst werden und dadurch in jene Spannungen zueinander geraten lassen, welche der urwüchsigen Befangenheit der Beziehungen zur Aussenwelt verborgen blieben" (Weber 1988: 541f.). Es handelt sich also nicht um eine Auflösung, aber um eine Entmachtung der Religion auf institutioneller Ebene. Die Religion ist nur noch ein Funktionssystem von mehreren – ohne Absolutheitsanspruch. "Ein religiöses 'Weltbild' wird nicht zuletzt dadurch unmöglich, dass auch die anderen Welt- und Gesellschaftsbilder nicht überzeugen" (Luhmann 2002: 289). Die Säkularisierung ist also – wie im Übrigen auch Fundamentalismus, der im Kapitel 2.4 behandelt wird – ein Phänomen der Moderne, zumindest, wenn wir die Moderne mit der funktionalen Differenzierung beschreiben. Im Gegensatz zu segmentären und stratifizierten Gesellschaften, funktioniert der soziale Zusammenhalt nicht mehr über territoriale Einheiten (segmentär) oder über gesellschaftliche Schichten (stratifiziert), sondern durch die Herausentwicklung von verschiedenen Funktionssystemen, die selbstreferenziell operieren (vgl. Luhmann 1998: 634-776).
Die funktionale Differenzierung macht die Situation in der Moderne hochlabil und variabel; das Leben des Individuums ist geprägt von einer Vielzahl von Möglichkeiten, von Kontingenz. Genau deshalb wird das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen. Nach Max Weber führt diese Instabilität den Protestanten zur Produktivität, und weil er sich nicht dem Hedonismus hingegeben darf, kommt es zu "Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang" (Weber 1988a: 191). Nach Emile Durkheim führt der hohe Individualismus und die mangelnde soziale Integration des Protestanten nicht zu mehr Produktivität und erhöhtem Kapitalbesitz, sondern zu mehr Selbstmorden (vgl. Durkheim: 231-241). So unterschiedlich die beiden Darstellungen des Protestanten als Sinnbild für den modernen Menschen sein mögen – ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass er in einer sehr unstabilen Welt lebt. Diese Unstabilität wird begünstigt durch eine säkulare Gesellschaft, in der die Religion ihr Monopol auf die Welterklärung eingebüsst hat, was jedoch nicht bedeutet, dass sie verschwindet. Sie wird lediglich privatisiert – mehr dazu im folgenden Kapitel.
2.3 Privatisierung der Religion
Wenn Staat und Kirche getrennt werden, hat dies einen Allmachtsverlust der Religion zur Folge. Religiöse Codes (gut oder böse) werden durch juristische (erlaubt oder nicht erlaubt) ersetzt. Die Folge dieser Entwicklung ist die Privatisierung der Religion bzw. die Religionsfreiheit, "wobei Religionsfreiheit heisst: frei zu sein für, aber auch frei zu sein von Religion" (Schluchter 2003: 39).
Max Weber ist davon ausgegangen, dass diese Entwicklung nicht zum Verschwinden der Religion führt. Nur, wenn sie nicht verschwindet und zugleich nicht mehr öffentlich ist, wohin verlagert sich dann die Religion? "Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale und antirationale unpersönliche Macht schlechthin" (Weber 1988a: 564). Die Religion wird also in einer entzauberten Welt in den Bereich der Transzendenz verschoben. Dorthin also, wo sie nach geläufiger Meinung hingehört. "[…] das wahrhaft Religiöse kann nur nach der Entpolitisierung der Religion, d. h. nach ihrer Befreiung von Ideologie und Zwang, zum Ausdruck kommen" (Tibi 2003: 246). Dieses 'wahrhaft Religiöse' ist demnach der Transzendenzbezug bzw. die Transzendenzerfahrung. Das widerspricht wiederum einer funktionalistischen Religionsdefinition wie jener von Emile Durkheim, welche der Religion die Primärfunktion der Vergesellschaftung zuschreibt.
Bei der Definition einer privatisierten Religion ist es sinnvoll, zuerst einmal zu klären, was nichtprivate, also öffentliche, Religion ist. Der Soziologe José Casanova erwähnt diesbezüglich drei Konzepte. Es gibt öffentliche Religion: 1. auf staatlicher Ebene, wobei er hier als Beispiel die katholische Kirche in Spanien unter Franco anführt, 2. auf einer politisch-gesellschaftlichen Ebene, wobei er hier verschiedene religiöse Bürgerbewegungen aufführt, etwa die fundamentalistischen Bewegungen amerikanischer Protestanten gegen den säkularen Humanismus und 3. auf einer rein zivilen Ebene, die eine Sonderstellung einnimmt (vgl. Casanova 1994: 218f.): "It has been maintained troughout this study that ultimately only public religions at the level of civil society are consistent with modern universalistic principles and with modern differentiated structures" (Casanova 1994: 219). Casanova spricht in diesem Zusammenhang von einer Transformation einer staatlich orientierten hin zu einer zivilgesellschaftlich orientierten Institution. Diese drei Modelle von Casanova sind untereinander nur bedingt kompatibel. Sie können in Konflikt geraten, weil die ersten beiden Modelle universelle Moralprogramme beanspruchen, die im dritten nur noch innerhalb eines von mehreren Systemen bearbeitet werden.
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[1] Das 'Cicero' publizierte diesen Text am 1. Dezember 2005. Die Erstpublikation erfolgte im 'Wall Street Journal Europe'.
- Arbeit zitieren
- Francis Müller (Autor:in), 2007, Religion nach 09/11, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78569
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