"Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen Gespräch nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinne, als Gerede zu bezeichnen."
Diese Worte distanzieren das, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber als das Dialogische fasst, von dem, was heute gemeinhin darunter verstanden wird. Für Buber ist das Ausgehen zum Anderen, das Du-Sprechen zum Gegenüber, der Akt der Menschwerdung, der in unserer Zeit so häufig verfehlt wird.
Nach einer anfänglichen terminologischen Annäherung an den Dialogbegriff ergründet die Arbeit zunächst Bubers Menschenbild. Diese anthropologische Grundlegung leitet über zur Auseinandersetzung mit dem Dialogischen Prinzip. Die Scheidung der beiden Grundworte Ich-Es und Ich-Du bietet heute mehr denn je fruchtbare Impulse zu allgemein lebensweltlichen und speziell bildungstheoretischen Fragestellungen in Zeiten einer empirischen Wende in der Pädagogik.
Der eigentliche Fokus dieser Arbeit, der zugleich das abschließende Kapitel bildet, liegt jedoch auf den Implikationen der Buberschen Dialogik für die Kulturkonfliktforschung. "Wir oder die Anderen!" lautete der auch in Anlehnung an Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" gewählte Seminartitel; mit Buberscher Sprachfindigkeit ließ sich dem entgegensetzen: "Wir durch die Anderen!".
Inhaltsverzeichnis
2 Abbildungsverzeichnis
3 Prolog
4 Der Dialog: Begriffliches und Problematisierung
5 Bubers Anthropologie des Dialogischen Prinzips
5.1 Das anthropologische Problem unserer Zeit
5.2 Urdistanz und Beziehung als anthropologische Dispositionen
6 Das Dialogische Prinzip
6.1.1 Die Grundworte Ich-Es und Ich-Du
6.1.2 Ich-Es
6.1.3 Ich-Du
6.1.4 Das Verhältnis der Grundworte zueinander
6.2 Die drei Sphären der Beziehung
6.3 Menschwerdung im Zwischen der Begegnung
6.4 Begegnung oder Vergegnung? Bedingungen des Dialogs
6.4.1 Unmittelbarkeit
6.4.2 Schein oder Sein
6.4.3 Auferlegung oder Erschließung
6.4.4 Vergegenwärtigung und Innewerden
6.4.5 Anrede und Ver-Antwortung
7 Dialog-Kultur und der Dialog der Kulturen
8 Epilog
Literaturverzeichnis
2 Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Akt der Urdistanzierung (Eigene Darstellung)
Abb. 2: Akt des In-Beziehungtretens (Eigene Darstellung)
Abb. 3: Die Grundworte Ich-Du und Ich-Es (Eigene Darstellung)
Abb. 4: Die drei Sphären der Beziehung (Eigene Darstellung)
3 Prolog
„Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.”
(Buber 1962a, S. 1114)
Martin Buber zu lesen und über ihn zu schreiben, bedarf einer Bereitschaft, sich auf seine „lyrische Sprache und parabelhaften Bilder“ (Beck 1991, S. 50) einzulassen. Obwohl im reinsten Deutsch, erfordert seine Wortwahl eine Distanzierung vom heutigen Alltagsgebrauch und ein Eintauchen in tiefergehende Bedeutungsschichten, wenn etwa von Anspruch und Verantwortung die Rede ist. In „der ihm eigenen abstrakten und metapherreichen Sprache“ (Vierheilig 1996, S. 28) breitet Buber seine Gedankenwelt zur Dialogik aus. Von dieser lyrischen Wortwahl geht meiner Empfindung nach auch eine einprägende Wortgewalt im besten Sinne aus, die nämlich beim Lesenden zu walten und einzuwirken beginnt und zur Antwort herausfordert.
Die Auseinandersetzung mit Martin Bubers dialogischem Lebenswerk macht eine besondere Form der Ausarbeitung erforderlich. Das möchte ich mit zwei Gedanken begründen. Zum einen gibt es eine umrissene Lehre, die es darzustellen gälte, bei Martin Buber nach dessen im Eingangszitat ersichtlichen eigenen Bekunden nicht. Buber geht es um keine Lehre, sondern um ein Gespräch. Zum anderen stehen bei Buber das Du und die Personalität im Mittelpunkt. Im gelungenen Gespräch, im wahrhaften Dialog vollzieht und erfüllt sich anthropologisch das Menschsein. Es wäre daher absurd, bei der Auseinandersetzung mit dem dialogischen Prinzip, ja (in dialogischer Terminologie) beim Gespräch mit Bubers niedergeschriebenen Gedanken das ICH in diesem Verhältnis auszublenden, wie es zuweilen unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit propagiert wird[1]. Diesen gewichtigen Teil der Auseinandersetzung hinter der Sache zu verbergen hieße Bubers Denken, sein beständiges Warnen vor einer Ent-persönlichung mit einem rein verdinglichenden Vorgehen zu konterkarieren.
In diesen Vorüberlegungen begründet sich mein Vorgehen. Ich werde nicht vorgeben, Bubers Werk leichtfertig in einer abrissartigen Kurzschau nach Lehrbuchmanier darstellen zu können. Die Auseinandersetzung mit dem dialogischen Prinzip ist mir ein Anstoß gewesen, der Beginn eines Ergründens. Um Bubers Anspruch, nach dem das wahrhafte Gespräch das Einbringen des ganzen Wesens voraussetzt, gerecht zu werden, möchte ich auch Exkurse einbringen, die mir bei der Erarbeitung von Bedeutung erschienen. Daher werde ich an gegebener Stelle eigene (Text-)Erfahrungen und Gedanken einwerfen und zu Bubers Werk in Beziehung setzen. Da dies ungewohnt erscheinen mag, werden entsprechende Abweichungen von der akademischen Regelform als Einschübe jederzeit kenntlich gemacht.
In dieser Arbeit möchte ich ergründen, worauf Buber wie im Eingangszitat bildlich gesprochen außerhalb des Fensters zeigt und hindeutet, worum es also Buber mit seiner Dialogik geht. Dazu werde ich zentrale Gedankengänge nachzeichnen und durch meine Lesart in Beziehung zueinander setzen, wobei auch wissenschaftliche Sekundärliteratur wertvolle Beiträge liefert. Die notwendige, orientierende Leitfrage ist dabei stets die nach dem gelungenen Dialog und dessen Bedeutung für das menschliche Dasein – insbesondere auch im (inter-)kulturellen Kontext.
Da bereits die Erarbeitung der Präsentation im Seminar sehr umfangreich und zeitintensiv war, ließ sich leicht absehen, dass auch diese Ausarbeitung den Rahmen einer üblichen Referatsverschriftlichung übersteigen würde. An einer grundlegenden und umfassenden Auseinandersetzung ist mir jedoch persönlich gelegen. Um die Arbeit aber in einem für Verfasser und Leser zumutbaren Umfang zu halten, ließen sich inhaltliche Konzessionen nicht vermeiden. So habe ich auf eine Auseinandersetzung mit Bubers Biographie und der Verwurzelung seines Denkens im Chassidismus verzichtet. Die Bedeutung des Göttlichen, des „ewigen Du“ (Buber 2006a, S. 76) in Bubers Dialogik, ist sicher eine Vertiefung wert. In dieser Arbeit, die das dialogische Prinzip insbesondere vor dem Hintergrund des Kulturkonflikts beleuchtet, kann dies angesichts des zur Verfügung stehenden Rahmens leider nicht geleistet werden.
4 Der Dialog: Begriffliches und Problematisierung
Was ist gemeint, wenn von einem Dialog oder dem Dialogischen die Rede ist? Eine Unterhaltung? Eine Debatte? Eine Diskussion? Der Duden bietet als Erklärung die Begriffe „Zwiegespräch“ und „Wechselrede“ an (Scholze-Stubenrecht & Wermke 2004, S. 288). Das Wahrig-Fremdwörterbuch fasst den Dialog zudem allgemein als „Gespräch zwischen zweien od. mehreren“ (Wahrig-Burfeind 2004, S. 210). Buber, der wie das Eingangszitat verdeutlicht diesen Begriff selber verwendet, grenzt sein Verständnis eines Gespräches im dialogischen Sinne allerdings scharf von einem Alltagsverständnis ab.
„Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen Gespräch nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinn, als Gerede zu bezeichnen.“ (Buber 2006b, S. 283)
Ebenso entschieden wandte er sich gegen öffentlich inszenierte Gespräche bzw. Debatten, die dialogischen Anschein erwecken, das Wesenhafte des Dialogischen jedoch weit verfehlen. Buber hätte sich wohl vehement gegen die mediale Pseudodialogik im Stile sonntagabendlicher Polittalks unseres Zeitalters gewandt, die er bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert vorwegnahm.
„In unserer Zeit, in der das Verständnis für das Wesen des echten Gesprächs selten geworden ist, werden seine Voraussetzungen von dem falschen Öffentlichkeitssinn so gründlich mißkannt, daß man vermeint, ein solches Gespräch vor einem Publikum interessierter Zuhörer mit gebührender publizistischer Assistenz veranstalten zu können. Aber eine öffentliche Debatte von noch so hohem »Niveau« kann weder spontan noch unmittelbar noch rückhaltlos sein; eine als Hörstück vorgeführte Unterredung ist von dem echten Gespräch brückenlos geschieden.“ (Buber 2006b, S. 297)
Das Dialogische in Bubers Sinne reicht über das verkürzte heutige Alltagsverständnis weit hinaus. Auch der US-amerikanische Quantenphysiker David Bohm, der sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv in Rückgriff auf Bubers Werk mit dem Dialog auseinandersetzte, weist darauf hin, dass „offensichtlich […] vieles von dem, was »Dialog« genannt wird, kein Dialog“ (Bohm 2000, S. 34) im engeren Sinne ist. Vieles scheinbar Dialogische, wie etwa Gespräche bei den Vereinten Nationen, seien „eher Diskussionen - oder vielleicht Tauschhändel oder Verhandlungen - als Dialoge“ (ebd.). In etymologischer Betrachtung werden die Ursprünge eines solchen engeren Dialogbegriffes deutlich.
„[…] über frz. dialogue, lat. dialogus aus griech. dialogos »Unterredung, Gespräch«, zu dialegesthai »sich unterreden, sich aussprechen«, zu dia »auseinander« und legesthai »sich unterreden, besprechen, sich unterhalten«, zu legein »sagen, sprechen«, also im Sinne von »auseinander setzen« […].“ (Hermann & Matschiner 2002, S. 142)
Dia-logos (dia-logos) meint demnach eine Unterredung, in der “das Wort nicht nur zwischen den Gesprächspartnern hin- und hergeht, sondern […] durch die beteiligten Sprecher hindurch-geht“ (Graf 1996, S. 135). Diesem Bedeutungsverständnis entspricht auch die Lesart der Abstammung dialégomai (dialégesthai), „was – wortwörtlich – mit ›zwischen-sammeln‹, im weiteren mit ›zwischen-reden‹, ›zwie-reden‹, beziehungsweise mit ›unterreden‹“ (Stöger 2003a, S. 80) oder auch als „Gabe des sich Unterredens“ (Meyer 2006, S. 35) übersetzt werden kann. Die etymologischen Betrachtungen zeichnen den Dialog als Bild „eines freien Sinnflusses, der unter uns, durch uns hindurch und zwischen uns fließt“ (Bohm 2000, S. 33).
Die Frage nach dem Wesen des Dialogischen lässt sich allerdings nicht im rein Terminologischen klären. Erschwerend kommt hinzu, dass der Dialogik eine lange Begriffsgeschichte insbesondere in philosophisch-geisteswissenschaftlicher Tradition anhaftet, die bis in die Antike zurückreicht (vgl. hierzu bspw. Pleger 2006; Meyer 2006). Allerdings dauerte es bis ins 20. Jahrhundert mit Autoren wie Cohen, Rosenzweig oder Buber, dass sich die dialogische Philosophie „zur vollen Bedeutung“ (Poenitsch 2006, S. 171) entfaltete. Bubers Werk nimmt in diesem Zusammenhang eine exponierte Stellung ein, wobei sich seine Dialogik nicht direkt der rationalistischen Tradition der antiken Philosophie, sondern „vielmehr in vielen Punkten an die antirationalistische Tradition der Mystik“ (Münster 1988, S. 93), insbesondere des Chassidismus’ anschließt. Da die Positionen von der griechischen Antike bis ins 21. Jahrhundert darzustellen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuarbeiten den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll das Augenmerk fortan ausschließlich auf die Dialogik im Buberschen Verständnis gelegt werden. Sich dieser Dialogik zu nähern, erfordert eine Auseinandersetzung mit der ihr zugrunde liegenden Anthropologie und mit Bubers Menschenbild. Dies wird in den folgenden Kapiteln geleistet.
5 Bubers Anthropologie des Dialogischen Prinzips
Was also meint der Dialog? Für Buber ist er weit mehr als eine Austausch oder eine technische Gesprächsform. Der Dialog ist für ihn eine konstituierende Kategorie des Menschseins.
„Wir mögen der Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, näher kommen, wenn wir ihn als das Wesen verstehen lernen, in dessen Dialogik, in dessen gegenseitig präsentem Zu-zweien-Sein sich die Begegnung des Einen mit dem Anderen jeweils verwirklicht und erkennt.“ (Buber 1982, S. 169)
Diese konstituierende Kategorie sieht Buber in unserer modernen Existenz gefährdet. In seiner Sicht befindet sich die Welt nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur in einer Krise des wirtschaftlichen und sozialen Systems, das überarbeitet oder durch andere Systeme abgelöst werden könnte, „sondern alle Systeme, die alten und die neuen, stehen gleicherweise in der Krisis. Was durch sie in Frage gestellt wird, ist nicht weniger als das Sein des Menschen in der Welt überhaupt“ (zit. nach Stöger 2003a, S. 72). Im Folgenden werde ich die Gründe dieser aktuellen Krisis ausführen und Bubers anthropologische Grundlegung des Menschseins nachzeichnen.
5.1 Das anthropologische Problem unserer Zeit
Buber sieht vor allem zwei Gründe dafür, warum sich die Frage nach der Problematik und dem Wesen des Menschseins im 20. Jahrhundert besonders aufdrängte und „das anthropologische Problem zu seiner Reife gelangt“ (Buber 1982, S. 81) ist. Der erste Faktor besteht demnach in sich auflösenden Gemeinschaften wie der Familie, der Dorfgemeinschaft oder kleiner Werksbetriebe. Obwohl diese äußerlich zum Teil noch erhalten geblieben sind, ist die vormalige Sicherheit, die unabänderliche Zugehörigkeit zu ihnen nicht mehr gegeben. An ihre Stelle traten zunehmend sinnentleerte und seelenlose Ersatzgemeinschaften wie Vereine, Gewerkschaften und Parteien, denen der Mensch nicht mehr schicksalhaft zugehört. Dieser „fortschreitende Zerfall der alten organischen Formen direkten menschlichen Zusammenlebens“ (Buber 1982, S. 81) steigere die Einsamkeit des Menschen und betäube sie gleichsam in reger Geschäftigkeit. Neben dieser eher soziologisch orientierten Erklärung weist Buber noch auf eine zweite, eher geistes- bzw. seelengeschichtliche Entwicklung hin: „das Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Werken“ (Buber 1982, S. 83).
Einschub 1: Der Zauberlehrling (Johann Wolfgang von Goethe)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Goethe 1999, S. 124ff.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dies zeige sich im Bereich der Technik, in dem der Mensch nunmehr Maschinen dient, die ursprünglich ihm dienen sollten. Genauso entziehe sich der wirtschaftliche Zyklus von Produktion und Konsum inzwischen der menschlichen Koordination, und insbesondere die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verdeutlichten, dass der Mensch Mächte geschaffen hatte, die zwar scheinbar mit seinem Willen zusammenhingen, alle Ziele jedoch überstiegen und schließlich Vernichtung über alle brachten (vgl. ebd., S. 83f.). Angesichts dieser von Menschenhand geschaffenen „Macht, welche zugleich mit Ohnmacht gepaart ist“ (Dilger 1983, S. 21), stellt sich die Frage „nach dem Wesen des Menschen“ (Buber 1982, S. 84) in unserem Zeitalter neu.
Die skizzierten Entwicklungen finden ihren Niederschlag auch in einer veränderten Sichtweise auf das Menschsein und den einzelnen Menschen.
„Dem Wahrnehmen des Mitmenschen als einer - wenn auch zumeist recht mangelhaft entfalteten - Ganzheit, Einheit und Einzigartigkeit widerstrebt in unserer Zeit fast alles, was man als das spezifisch Moderne zu verstehen pflegt.“ (Buber 2006b, S. 284f.)
Als Konsequenz konstatiert Buber ein „analytisches, reduktives und ableitendes Blicken zwischen Mensch und Mensch“ (Buber 2006b, S. 285). Dem Prinzip der Technisierung und fortschreitenden Arbeitsteilung folgend werde nun auch alles Leibliche und Seelische als zusammengesetzt und zergliederbar betrachtet, gehe es dem Menschen um die Erkenntnis universeller allgemeingültiger Strukturen statt der vielfältigen Möglichkeiten des Einzelnen (vgl. ebd.). Den sich aufdrängenden Begriff der „Entzauberung“ weist Buber für derartige Bestrebungen als zu schwach zurück – es handele sich vielmehr um „eine radikale Entgeheimnissung“ (ebd.) des Menschen: „Die Personhaftigkeit, das unablässig nahe Mysterium, einst der Beweggrund der stillsten Begeisterungen, wird eingeebnet“ (ebd.). Das anthropologische Problem des Menschseins ist zur Reife gelangt.
5.2 Urdistanz und Beziehung als anthropologische Dispositionen
Bubers Anthropologie weist eben jenes analytische, reduktive und ableitende Blicken auf den Menschen zurück, das das Menschliche auf Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten zurückführen will, denen alle Dinge und Lebewesen gleichermaßen unterworfen sind und gehorchen. Der Mensch ist für Buber etwas wesenhaft Anderes. Er konstituiert „nicht lediglich eine besondere Gruppe der Lebewesen, sondern eine besondre Seinsweise, somit eine eigene Kategorie des Seins“ (Buber 1978, S. 10f.). Das wesenhaft Besondere an dieser Seinskategorie ist, „daß das Prinzip des Menschseins kein einfaches, sondern ein doppeltes ist, in einer doppelten Bewegung sich aufbauend“ (ebd., S. 11). Diese beiden Bewegungen bezeichnet Buber als „Urdistanzierung“ und „In-Beziehungstreten“ (ebd.). Das häufig missverstandene Verhältnis dieser beiden Bewegungen zueinander beschreibt Buber wie folgt:
„Es besteht kein Parallelismus zwischen ihnen, nichts auch was bedingte, daß der Vollzug der einen den der anderen mit sich führte. Vielmehr ist streng daran festzuhalten, daß die erste die Voraussetzung der zweiten bildet, - nicht Herkunft, sondern die Voraussetzung.“ (Buber 1978, S. 18)
Der Akt der Urdistanzierung (vgl. Abb. 1) ermöglicht es dem Menschen, die Dinge in seinem Bereich zu distanzieren, ihnen Dauer, Selbstständigkeit und Funktion zu verleihen – etwa in Form von Werkzeugen. Die Urdistanzierung beschränkt sich nicht auf die dingliche Umwelt, sondern umfasst auch die Abgrenzung von anderen menschlichen Wesen. In der Fähigkeit zur Urdistanzierung unterscheidet sich menschliches von tierischem Sein, das dem jeweils aktuellen Bereich der Welt im Gegensatz zum ersteren verhaftet bleibt.
„Vielmehr ist dies das schlechthin Eigentümliche am Menschsein, daß hier, und hier allein, der Allheit ein Wesen entsprungen ist, begabt und befugt sie als Welt von sich abzusetzen und sie sich zum Gegenüber zu machen, statt wie alle andern sich mit seinen Sinnen sein notdürftiges Teil aus ihr zu schneiden und damit auszukommen.“ (Buber 1978, S. 18)
Der Mensch nimmt das ihn Umgebende nicht wie das Tier als etwas „an seinen Lebensakten gleichsam Haftendes“ (Buber 1962a, S. 1114) wahr, sondern kann es als für sich bestehend erkennen, als „ein Anderes, in und aus sich Wesendes“ (ebd., S. 1115). Bedeutsam festzuhalten bleibt, dass damit keinesfalls die reflektierte Rolle eines Zuschauers gemeint ist. Dadurch, dass der Mensch ist, wird „durch dessen Sein das Seiende von ihm abgerückt“ (ebd.). Dazu bedarf es keiner Reflektion, braucht das Seiende das Sein nicht zu affizieren, es ist einfach, „es ist »drüben«„ (ebd.).[2]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Akt der Urdistanzierung (Eigene Darstellung)
Wie bereits ausgeführt, lässt sich nicht von der ersten Bewegung der Urdistanzierung aus bestimmten, „ob und wann und wie die zweite sich manifestiert“ (Buber 1978, S. 19):
„Der Mensch kann distanzieren, ohne zu dem Distanzierten wesentlich in Beziehung zu kommen. Er kann den Distanzierungsakt selber mit dem Willen zur Beziehung füllen, als welche durch jenen erst möglich wird.“ (ebd.)
[...]
[1] So wird Studienanfängern im Diplom-Studiengang Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen nahe gelegt, „impersonale Wendungen“ zu bevorzugen, da die „Ich-Form oft als unwissenschaftlich angesehen“ (Hehl et al. o.J., S. 20) werde.
[2] Bei der Diskussion im Plenum blieb die Unterscheidung zwischen der Bewegung der Urdistanzierung und der Fähigkeit zur Reflektion über die abgerückte Mit- und Umwelt problematisch. Daher wurde sie im Rahmen dieser Ausarbeitung noch einmal aufgegriffen und etwas ausführlicher erörtert.
- Quote paper
- Daniel Fischer (Author), 2007, "Am Du zum Ich" - Der Dialog als anthropologisches Prinzip nach Martin Buber, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77814
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