"Wahr und treu" malen und "aus seinem Innern selbst hervorbringen", dies sind die Pole, zwischen denen die Ästhetik des grünen Heinrich oszilliert: auf der einen Seite Nachahmung der konkreten Wirklichkeit, Imitation des sinnliche Wahrnehmbaren, auf der anderen Seite Vermittlung von Ideen, Umsetzung innerlich geschauter in allgemein denkwürdige Wahrheiten; hier Mimesis, da Poiesis. In Kellers Roman entfaltet dieser Dualismus eine dialektische Dynamik, die zumindest das Postulat nach einer Synthese in sich birgt. Gewährsmänner der Poiesis sind die subjektivistischen Landschaftsmaler um Samuel Gessner, der Dichter Jean Paul, die Romantiker in ihrer Gesamtheit, während als gedankliches Substrat der Idealismus Hegels durchschimmert. Unter den Romanfiguren ist es Habersaat, der Heinrich in dieser Richtung beeinflusst. Als Vertreter des Mimesis-Pols erscheinen in der Personenkonstellation Wilhelms Oheim und der Graf, in der Malerei Ruisdael, in der Philosophie Feuerbach. Vermittelt wird der ästhetische Dualismus durch Goethe und die Heinrich durch Römer vorgestellte Klassizität Homers. Was Goethe gelingt, muss für Heinrich allerdings Utopie bleiben: Er bleibt Gefangener einer eindimensionalen Todesästhetik, die sein gesamtes Sein und Werden durchdringt.
INHALT
A) EINLEITUNG
B) HAUPTTEIL
I. POIESIS: HEINRICH IM BANN EINER SUBJEKTIVISTISCHEN SCHEINWELT
1. Manier und Spiritualismus
2. Variation über Hegels Dictum vom Ende der Kunst
II. MIMESIS: RÜCKKEHR „AUF DIE REALE BAHN“?
1. Einfache Nachahmung der Natur
2. Der Einfluss Feuerbachs
III. MIMETISCHE POESIE
1.Römer
2. Die Goethe-Reflexionen
3. Der Dualismus von Repräsentations- und Produktionsästhetik bei Goethe
C) SCHLUSS
1. Eine Synthese mit ontologisch-gnoseologischer Dimension
2. Heinrichs Scheitern an der Synthese: Ausblick und Rückblick
2.1 Heinrichs Kindheit als „Vorspiel des ganzen Lebens“
3. Individualität und allgemeine Relevanz
BIBLIOGRAPHIE
1. Quellen
2. Forschungsliteratur
A) EINLEITUNG
„Wenn man aber erst fähig ist, einen ganzen Wald oder ein weites Feld mit seinem Himmel wahr und treu zu malen, und wenn man dergleichen aus seinem Innneren selbst hervorbringen kann (...)“[1] (S.245).
„Wahr und treu“ malen und „aus seinem Innern selbst hervorbringen“, dies sind die Pole, zwischen denen die Ästhetik des grünen Heinrich oszilliert: auf der einen Seite Nachahmung der konkreten Wirklichkeit, Imitation des sinnlich Wahrnehmbaren, auf der anderen Seite Vermittlung von Ideen, Umsetzung innerlich geschauter in allgemein denkwürdige Wahrheiten; hier Mimesis, da Poiesis. In Kellers Roman entfaltet dieser Dualismus eine dialektische Dynamik, die zumindest das Postulat nach einer Synthese in sich birgt. Gewährsmänner der Poiesis sind hierbei die subjektivistischen Landschaftsmaler um Samuel Gessner, der Dichter Jean Paul, die Romantiker in ihrer Gesamtheit, während als gedankliches Substrat der absolute Idealismus Hegels durchschimmert. Unter den Romanfiguren schließlich ist es Habersaat, der Heinrich in dieser Richtung beeinflusst. Als Opponenten Habersaats erscheinen in der Personenkonstellation Heinrichs Oheim sowie der Graf. Ihre Forderung nach wirklichkeitsgetreuer Nachbildung sieht Heinrich im Werk Ruisdaels, des Repräsentanten der realistischen Malerei, verwirklicht. Gedanklich mündet diese antithetisch gesetzte Mimesis-Maxime in den Materialismus Feuerbachs, in die Fixierung auf das rechte Sehen, die Objektivität des Seins, wie sie Heinrich in den Anthropologie-Vorlesungen und nicht zuletzt unter dem Einfluss Dortchens und des Grafen kennenlernt.
Was vermittelt in diesem Dualismus? Obgleich die Chronologie des Romans dem zu widersprechen scheint, sind es die Goethe-Reflexionen, die als synthetisierendes Agens fungieren, ist es Goethe - und mit ihm die durch Römer vorstellig gemachte Klassizität Homers -, der die Versöhnung des ästhetischen Dualismus verkörpert, der die Nachahmung zur schöpferischen Darstellung macht und zugleich das poetische Schaffen mimetisch verankert. Auf diese Weise werden sowohl Imitation als auch Kreation aus der Exklusivität ihrer Bedeutung befreit; Mimesis und Poiesis können plötzlich nebeneinanderstehen, etwa im folgenden Sinne:
„La poésie est une imitation, mot qui doit être dépouillé ici de toute idée de reproduction servile et de copie […]. Le poète imite, représente une action conforme à la vraisemblance […]. L’imitation du poète ne s’étend pas à la nature extérieure […]. De l’homme le poète imite les moeurs, c’est-à-dire ce qu’il y a de permanent en lui, son caractère“[2].
Was Goethe gelingt, die Synthese zur mimetischen Poesie, muss für Heinrich allerdings Utopie bleiben. In der Theorie zwar vermag er an der Dialektik der Kunstanschauungen teilzunehmen, die Praxis aber macht ihn zum Gefangenen einer eindimensionalen Todesästhetik, die sein ganzes Sein und Werden durchdringt, aus Heinrichs Leben eine Existenz zum Tode werden lässt. Die Gründe für dieses tragische Scheitern sollen in den Schlussbetrachtungen ermittelt werden.
B) HAUPTTEIL
I. POIESIS: HEINRICH IM BANN EINER SUBJEKTIVISTISCHEN SCHEINWELT
1. Manier und Spiritualismus
„Gewöhnlich verdrießt es ihn [den Menschen], der Natur ihre Buchstaben im Zeichnen nur gleichsam nachzubuchstabieren; er erfindet sich selbst eine Weise, macht sich selbst eine Sprache, um das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken, einem Gegenstand, den er öfters wiederholt hat, eine eigne bezeichnende Form zu geben, ohne, wenn er ihn wiederholt, die Natur selbst vor sich zu haben noch auch sich geradezu ihrer ganz leibhaft zu erinnern.“[3]
Was Goethe hier beschreibt, lässt sich auf die Formel „dipingere di maniere“ bringen: „aus dem Kopf, nicht unmittelbar nach der Natur malen“. Die Manier ist somit der Inbegriff subjektiver Produktivität und zugleich - in den Augen Goethes - die notwendige Transzendierung der einfachen, dem Detail verpflichteten Nachahmung: Der Maler „sieht eine Übereinstimmung vieler Gegenstände, die er nur in ein Bild bringen kann, indem er das Einzelne aufopfert“.[4]
Schon bei seinen ersten Malversuchen verzichtet Heinrich, zunächst mangels technischen Vermögens, später aus Prinzip, auf die naturgetreue Nachahmung des Details zugunsten des „Gesamteindruck[s]“ (179). Bezeichnenderweise vermittelt sich ihm dieser Gesamteindruck nur indirekt: Nicht die Natur, sondern eine Kopie derselben regt ihn zu seinem ersten Malversuch an. Das gänzliche Fehlen unmittelbarer Wahrhaftigkeit wird ihm aber nicht bewusst: „Noch weniger als ich den Abstand des Originales von der Natur fühlte, störte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werk und seinem Vorbilde“ (179).
Diese ungetreue Nachahmung einer Nachahmung der Natur ist bereits ein erster Schritt in Richtung auf das „dipingere di maniere“:
„Nach jenem ersten Versuch, eine gemalte Landschaft zu kopieren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust ins Leben rufen“ (204).
Heinrichs Ansatz ist also keineswegs ein mimetischer, sondern ein poietischer:
„Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge ganz naiv poetischer kleiner Landschaftsmotive [...]. Aus allem diesem zusammen bildete sich eine höchst unschuldige und sozusagen elementare Poesie,[5] welche meinem eifrigen Machen zu Grunde lag und mich während desselben beglückte. Ich erfand eigene Landschaften, worin ich alle poetischen Motive reichlich zusammenhäufte, und ging von diesen auf solche über, in denen ein einzelnes vorherrschte, zu welchem ich immer den gleichen Wanderer in Beziehung brachte, unter dem ich, halb unbewußt, mein eigenes Wesen ausdrückte“ (204 f.).
Der von Goethe als ‘Manier’ bezeichnete Versuch, sich eine individuelle Sprache zu verschaffen, beschränkt sich im Falle Heinrichs auf ein Monologisieren ohne jegliche allgemeine Relevanz. Mit dem künstlerischen Solipsismus einher geht die Abkapselung von der Welt, der Rückzug in das Selbst:
„Denn nach dem immerwährenden Mißlingen meines Zusammentreffens mit der übrigen Welt hatte eine ungebührliche Selbstbeschauuung und Eigenliebe angefangen, mich zu beschleichen“ (205).
Auf dem Hintergrund eben dieser Ichbezogenheit tut er den „vorläufigen Ausspruch“ (205), ein Maler werden zu wollen. Sandberg-Russell schreibt daher:
„Hinter seinem Wunsch, Landschaftsmaler zu werden, steht das Bedürfnis, sich eine Welt zu schaffen, die er nicht zu scheuen hat.“[6]
Dieses Bedürfnis entwickelt Heinrich erstmals nach dem Zwist mit Meierlein; es steigert sich mit dem Schulverweis und wird nach und nach zum eigentlichen Impuls seiner künstlerischen Produktivität: Heinrichs Malerei ist eine Regression in das Selbst, in die Absolutheit des schöpferischen Ichs. Die gegenüber dem Schulmeister entfaltete Konzeption der Landschaftsmalerei macht dies besonders deutlich: Heinrich zufolge sollte sich der Künstler zum alter creator aufschwingen, um „eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung“ (245) zu leisten:
„Da lässet man die Bäume in den Himmel wachsen und darüber die schönsten Wolken ziehen und beides sich in klaren Gewässern spiegeln. Man spricht: es werde Licht! und streut den Sonnenschein beliebig über Kräuter und Steine und läßt ihn unter schattigen Bäumen erlöschen. Man reckt die Hand aus, und es steht ein Unwetter da, welches die braune Erde beängstigt, und läßt nachher die Sonne in Purpur untergehen! Und dies alles, ohne sich mit schlechten Menschen vertragen zu müssen; es ist kein Mißton im ganzen Tun!“
Thomas Heckendorn kommentiert:
„So verstandene Landschaftsmalerei bedeutet Flucht in die Natur als einen Bereich der Außenwelt, der sich widerstandslos verinnerlichen und in die absolute Identität von Gott und Selbst aufnehmen läßt“.[7]
Die Verinnerlichung der Außenwelt freilich bedeutet zugleich eine Negierung derselben als Objekt, d.h. als dasjenige, was dem Subjekt entgegengestellt wird - „und immer geringer schwindet das Außen“[8]. Dinglichkeit wird auf diese Weise in Bildlichkeit übergeführt - und zwar in subjektive Bildlichkeit, denn die objektive Realität der Gegenstände wird nicht etwa abgebildet, sondern neugebildet: aus der Innerlichkeit der Anschauung heraus. Der Subjektivismus dieser Kunstauffassung gemahnt stark an die ideale Landschaftsmalerei; und tatsächlich hat Heinrich die hier formulierte Konzeption unter dem Einfluss der Genfer Schule entwickelt. Speziell Samuel Gessners „Brief über die Landschaftsmalerei“ wirkte als ein „berückender Trank“ (231):
„Die unschuldige Naivität dieser Abhandlung war mir ganz faßlich […]. Ich liebte sogleich diesen Mann und machte ihn zu meinem Propheten“ (231).
In Gessners Biographie, die Heinrich mit demselben Eifer studiert, ist „viel von Genie und eigener Bahn und solchen Dingen die Rede, von Leichtsinn, Drangsal und endlicher Verklärung, von Ruhm und Glück“ (S. 230). Heinrichs unreflektiert-träumerische Rezeption trägt nicht unerheblich dazu bei, daß diese Schrift auf fruchtbaren Boden fällt: Heinrich „denkt zwar nicht sehr tief, war jedoch, wenn auch nicht klar bewußt, für die Bande geworben“ (ebd.). Angesichts von Heinrichs früher Disposition zum Genialisch-Übersteigerten ist dies ein „folgenreiche(r) und gefährliche(r) Augenblick“ für sein empfängliches junges Haupt (ebd.).
„Wenigen ist es vergönnt, daß sie erst das leidige Wort Genie kennen lernen, nachdem sie unbefangen und arglos bereits ein gutes Stück Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen hinter sich haben“ (ebd.).
Heinrich gehört nicht zu diesen Begünstigten; sein „Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen“ wird sich niemals „unbefangen“, sondern stets gebunden an einen „Apparate genialer Grübelei“ (ebd.) vollziehen, den er „mit großem Aufwande hervorkehrt und um seine mageren Gestaltungen wirft, wie einen Theatermantel“ - während „das wirkliche Genie diesen Apparat nicht sehen läßt, sondern vorweg verbrennt“ (ebd.).
So übt denn auch die Lehre bei Habersaat einen umso fataleren Einfluss auf Heinrichs Entwicklung aus. Der „Kunstspuk“ (S.287) des Meisters setzt sich zusammen aus „Zeichnungen von einer gewissen Routine, ohne Naturwahrheit“;
„Handzeichnungen nach der Natur, Blätter, die um ihrer selbst willen da waren und denen man angesehen hätte, daß sie frische Luft und Sonne getrunken, fanden sich nicht ein einziges Stück vor, denn der Meister hatte seine Kunst und seinen Schlendrian
innerhalb vier Wochen erworben und begab sich nur hinaus, um so schnell als möglich eine gangbare Ansicht zu entwerfen, wobei alle seine Bäume einen neutralen Typus erhielten und Erde, Weg und Steine mit den gleichen Tuschen und Charakteren gebildet wurden, daß sie alle aus dem nämlichen Stoff zu bestehen schienen. Indessen zeigten diese Arbeiten alle ein fertiges Geschick in betreff der Klarheit und Sauberkeit der Tinten; dieselben waren nicht wahr und bestanden aus so genannten Phantasiefarben, welche in der Natur nicht anzutreffen waren (...); allein sie spielten glänzend und ansprechend ineinander für den unkundigen Beschauer. Diese gewandte, obschon falsche Technik war das eigentliche Wissen“ (S. 293) Habersaats - ein „Grad geläufiger Pinselei“ (S. 294), den Heinrich schon sehr bald erlernt, während er „in dem wahren Wesen und Verständnis umso mehr und gänzlich“ zurückbleibt (ebd.): Anstelle von „Nachdenken und geistige(r) Gewissenhaftigkeit“ erwirbt Heinrich „leere(n) Äußerlichkeit“ - bis er damit beginnt, Kupferstiche nach Claude, Rosa, Ruisdael und Waterloo zu kopieren. Diese Konstellation antizipiert die grundlegende Ambivalenz von Heinrichs Kunstschaffen: Einerseits legen „die feinen und natürlichen Niederländer“ - Ruisdael als Vertreter des Realismus - einen „Grund edlerer Anschauung“ in ihn (S. 295): „Die schönen und durchdachten Formen (...) hielten dem übrigen Treiben ein wohltätiges Gegengewicht und ließen die Ahnung des Besseren nie ganz verlöschen“ (ebd.). Andererseits aber regt die ideale Malerei Claude Lorrains seine 2alte voreilige Erfindungssucht“ an, und Heinrich entwirft selbst „heroische Landschaftsbilder“ im Stile einer oberflächigen, „leeren Äußerlichkeit“ (ebd.).
Was Claude Lorrain in der Malerei, ist ihm Jean Paul in der Literatur: „Die heitere, mutwillige Schrankenlosigkeit und Beweglichkeit des Geistes2 (S. 297), die Heinrich in den Werken des Dichters offenbart sieht, ist willkommene Nahrung für seinen „ungebundenen und willkürlichen Geist“ (S. 292). Das „Ergreifen poetischer Seligkeit, welche mit goldener Flut alle kleine Qual und Grübelei hinwegspülte und (...) in glückliche Vergessenheit tauchen ließ“ (S. 297), erinnert an Heinrichs Flucht in die Illusion einer poetischen Scheinwelt durch die Landschaftsmalerei. Auf diese Weise wird dem Leser suggeriert, er habe in Heinrich weit mehr einen Poeten als einen Maler, geschweige denn einen mimetischen Maler, zu sehen. Jean Pauls „Naturschilderung an der Hand der entfesselten Phantasie, welche berauscht über die blühende Erde schweifte und mit den Sternen spielte wie ein Kind mit Blumen, je toller, desto besser!“ (ebd.), entspricht weitestgehend Heinrichs kindlicher Vorstellung von der Landschaftsmalerei. Nicht umsonst hat Heinrich daher bei der Jean-Paul-Lektüre das Gefühl, als liege er „an einem Bruderherzen“ (S. 298). Ebendies scheint ihm aber das Höchste und Beste zu sein, was Kunst je erreichen kann: den Rezipienten unter den St. Martins-Mantel der eigenen Innerlichkeit zu ziehen und eine völlige Identität der Gefühle zu erreichen. Derjenige Künstler hingegen, der es vorzieht, die eigene Subjektivität „in Purpur (zu) hüllen“ (S.298) - etwa zugunsten allgemeinerer Kategorien - ist zu „den anderen Helden und Königen des Geistes“ (S.298) zu zählen, die allenfalls Gastfreundschaft, nicht aber Brüderlichkeit gewähren. Heinrich kommt es also nicht auf die Form an - er zieht dem „Purpur“ einen „Bettlermantel“ (ebd.) vor, sofern darunter ein sich offenbarendes Bruderherz schlägt. Dementsprechend ist Heinrichs Zeichnen „’nach der Natur’“, zu dem er nun mit „umständlichen Zurüstungen“ (S.299) übergeht, nichts als ein Zeichnen nach der eigenen Innerlichkeit: Heinrich tritt „vor die runden, körperlichen und sonnenbeleuchteten Gegenstände der Natur (...) mit einer selbstgefälligen Borniertheit“ (ebd.): Er verhüllt das wahre Sein der Dinge mit „einer unseligen Pinselgewandtheit“ (ebd.) und bannt die Natur „in die plumpen und remmonistischen Formeln“ seiner „lächerlichen Virtuosität“ (S. 300), die allenfalls einen subjektivistischen Schein der Dinge, nicht aber „das bewegliche Wesen wiederzugeben“ vermag. Heinrichs „künstlerisches Gewissen“ ist „verdunkelt“; er gibt die Maxime der adaequatio preis und entschuldigt sich damit, „daß es auf diese oder jene Fläche nicht ankomme“, "die zufällige Natur ja wohl auch so aussehen könnte“, wie er sie nachbilde. Habersaat ist nicht imstande, die „fehlende(n) Naturwahrheit“ (ebd.) zu erkennen, vielmehr regt er ihn zusätzlich dazu an, sich der Tradition „des Sonderbaren und Krankhaften, was mit dem Poetischen oder Malerischen und Genialen verwechselt wurde“ (ebd.), anzuschließen. So schafft Heinrich „die seltsamsten Gebilde“ (S.301), die seine „Phantasie hervorzubringen vermochte“, indem er „die bisher wahrgenommenen Eigentümlichkeiten der Natur“ mit seiner „erlangten Fertigkeit verschmolz“ (ebd.). Das Ergebnis ist eine künstlich-leere Welt, die nur in „Heinrichs Gehirn vorhanden“ ist (S.302). Der Einfluss Ruisdaels ist völlig untergraben worden, und auch „die edlen und gesunden Formen Claude Lorrains“ sind „im flüchtigen Jugendgemüte wieder unter die Oberfläche getreten“ (ebd.). Heinrich verzerrt die Innerlichkeit der romantischen Malerei zu „immer tollere(n) und mutwilligere(n) Fratzen“ (S.302), und Habersaat lässt ihn gewähren.
Erst Römer vermag es, Heinrich die Fragwürdigkeit der „Erfindungslust“ (S. 475) aufzuzeigen: Versucht Heinrich, „poetische Winkel und Plätzchen, geistreiche Beziehungen und Bedeutungen2 zur Grundlage seiner Skizzen zu machen, so beweist ihm Römer, „daß die technischen Mittel und die Naturwahrheiten im Einzelnen der anspruchsvollen und gesuchten Komposition willen keine Wirkung tun, zu keiner Gesamtwahrheit werden“ können und um Heinrichs Zeichnung hängen „wie bunte Flitter um ein Gerippe (ebd.), ja daß sogar im Einzelnen keine frische Wahrheit möglich sei, weil vor der überwiegenden Erfindung, vor dem anmaßenden Spiritualismus[9] die Naturfrische sich sogleich sozusagen aus der Pinselspitze in den Pinselstiel spröde zurückziehe“ (S.476). Wie die Etymologie nahelegt, steht der Begriff des Spiritualismus für eine Denkungsart, die das Wirkliche als geistig oder als Manifestation des Geistes begreift. Auf dem Gebiete der Kunst bedeutet eine solche Anschauung den Primat der „Erfindung“ (S. 476) auf Kosten der unmittelbaren (materiellen) „Wahrheit“ (ebd.): Die Gemälde eines dem Spiritualismus verschriebenen Künstlers - Römer nennt exemplarisch Koch und Reinhard – „sehen eher wie geschriebene Gedichte als wie wirkliche Bilder aus“ (ebd.). Poiesis vor Mimesis, lautet somit die Maxime. Es nimmt nicht wunder, daß Heinrich eine „deutliche(n) Neigung“ (S.476) zu dieser Kunstrichtung verspürt - versteht er den Künstler doch als Poeten im eigentlichen Sinne, d.h. als aktiv Schaffenden, und nicht etwa als passiv nachbildenden Mimeten[10]. So ist Heinrich für den Spiritualismus geradezu prädestiniert. Römer, der „die ganze Art für unberechtigt und töricht“ hält (S.476), vermag der „Erfindungslust2 (S.475) zwar noch Einhalt zu gebieten, doch kaum unternimmt es Heinrich, sich eine eigenständige Künstlerexistenz aufzubauen, als er auch schon seinem „Hange den Zügel schießen“ (ebd.) läßt:
"Übrigens war er, wie es einst der glückliche Römer prophezeit, richtig in den Hafen der gelehrten und stilisierten Landschaften eingelaufen und gab sich, indem er seit seinem Hiersein nicht mehr aus den Mauern der großen Stadt gekommen, rückhaltlos einem Spiritualismus hin, welcher seinen grünen, an den frischen Wald erinnernden Namen zu einem bloßen Symbol machte“ (S.535).
Heinrich ergreift
„diejenige Richtung, welche sich in reicher und bedeutungsvoller Erfindung, in mannigfaltigen, sich kreuzenden Linien und Gedanken bewegt und es vorzieht, eine ideale Natur aus dem Kopfe zu erzeugen, anstatt sich die tägliche Nahrung aus der einfachen Wirklichkeit zu holen“ (S.535).
In der Einschätzung Hans Meiers handelt es sich hierbei um eine nachromantische Strömung, bei der „das ungezügelte Vorwalten der Phantasie als Verführung zu ungebührlichem Subjektivismus“ erscheine[11]. Dieser übersteigerte Subjektivismus führe „von der herrschenden Kunstansicht weg zu einer sonderbaren, ungebärdigen dilettantischen Innerlichkeit“ (ebd.) - einer Innerlichkeit, die sich auf epigonale Weise an die 2absolute Innerlichkeit“ der Romantik anzulehnen scheint.
In Hegels „Ästhetik“ heißt es über den Geist, er werde sich „auf der Stufe der romantischen Kunst (...) in seiner Wahrheit nur dadurch gewiß, daß er sich aus dem Äußern in seine Innigkeit mit sich zurückführt und die äußere Realität als ein ihm nicht adäquates Dasein setzt“[12]. Dies ist die Verinnerlichung der Außenwelt, die Heinrich bereits bei seinen ersten Kompositionsversuchen praktizierte - allerdings völlig unreflektiert und keineswegs auf der Stufe des sich seiner Wahrheit gewissen Geistes. So ist „jene geistreiche und symbolische Art“ (S.536), in die sich Heinich nun versenkt, trotz Dilettantismus, Epigonalität und mangelnder Bewusstheit eine substantiell romantische, denn Heinrichs Spiritualismus ist nichts anderes als eine beständige Poetisierung der Wirklichkeit - Ausdruck von geistiger Willkür, die „kein Gesetz über sich leide(t)“.[13] „Der wahre Inhalt des Romantischen ist die absolute Innerlichkeit“, heißt es bei Hegel: „In diesem Pantheon sind alle Götter entthront, die Flamme der Subjektivität hat sie zerstört“[14]. Je mehr nun aber die „absolute Innerlichkeit“ alle Realität in sich aufnimmt, desto wesenloser werden die Gegenstände der Kunst:
„Man sah es an Heinrichs Bäumen: Je geistreicher und gebildeter diese wurden, desto mehr wurden sie grau oder bräunlich, statt grün; je künstlicher und beziehungsreicher seine Steingruppierungen und Steinchen sich darstellten, seine Stämme und Wurzeln, desto blasser waren sie, ohne Glanz und Tau, und am Ende wurden alle diese Dinge zu bloßen schattenhaften Symbolen, zu geistigen Schemen“ (S.536).
Was Heinrich malt, sind Gegenstände, „welche immer einen bestimmten, sehr gelehrten oder poetischen Gedanken enthielten“ und „fast immer solche, deren Natur er nicht aus eigener Anschauung kannte“ (ebd.). Wiederum greift hier die Formel „Poiesis vor Mimesis“: „Tieferer Gehalt“ (S.476) geht Heinrich über Naturwahrheit, und er gleicht hierin ganz dem romantischen Geist, „der, ganz auf sich gestellt, von der äußeren Welt nichts sieht als eine endlose Reihe von Stichwörtern für seine Monologe“[15], und dem es „ebenso gleichgültig ist, an welche Umstände er sich wende, als es zufällig ist, welche sich ihm darbieten“[16]. Der „dramatisch gesteigerte Normalzustand“[17] dieses romantischen Bewusstseins ist wohl am eindrücklichsten in Hamlet präfiguriert. Coleridge schreibt in seinen „Notes and Lectures upon Shakespeare“, daß Hamlets Wahrnehmungen eine Form und Farbe annähme, „die nicht von Natur aus die ihre ist“[18]: Für Hamlet sei „die äußere Welt mit allen ihren Vorfällen und Gegenständen verhältnismäßig blaß und an und für sich uninteressant“ (ebd.) - sie beginnt ihn erst dann zu fesseln, wenn sie im Spiegel seines Geistes reflektiert wird“. Daraus ergibt sich die Hamlet eigene „Aversion gegen das Handeln, die diejenigen kennzeichnet, welche eine Welt in sich selber“ schaffen[19]. Auch Heinrich ist ein Repräsentant des Hamlet-Typus: Immer wieder verführt ihn seine „unbändige Einbildungskraft (...), in ein egomanes Traumreich zu flüchten, statt sich den Realitäten der Welt zu stellen“:[20] Für Heinrich wird das künstlerische Schaffen „zum Alibi, die subjektive Willkür gegen die Wirklichkeit zu behaupten.“[21] Er presst die Realität in ästhetische Kategorien, denen eine fragwürdig-einseitige Ichbezogenheit eignet:
„Eine Waise, die auf einem Grabhügel in Tränen zerfließt, ist schön und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohltuend sein, aber ein Kind, welches verkommen und hungerig im Staube liegt, ist eine Schande für die ganze Landschaft, und für es selbst erwächst nicht die mindeste ersprießliche Regung aus diesem Zustande“ (S.37).
Heinrichs Fixierung auf äußerliche „Zierde“ (ebd.) läßt seine Ästhetik des Leidens als inhaltsleer und wesenlos, als eine Ästhetik des Todes oder zum Tode erscheinen. Nicht umsonst schreibt Keller:
„Denkt man sich (...) das fliegende Gerippe einer Krähe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der soeben über Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das dürre Gitter der Knöchlein und Gebeine“ (S.36f.).
Ein ebensolches „dürres Gitter“ ist das spekulative Konstrukt von Heinrichs Kunsttheorie. In der Praxis führt dies zu jener „Bildmacherei, die nicht produciert, weil sie ein lebendiger Inhalt treibt, sondern nur um schöne Formen und Gegenstände zu produzieren“, wie es Hermann Hettner in seiner Schrift „Gegen die spekulative Ästhetik“ formuliert[22]. In bezug auf die Poesie heißt es hier, eine solchermaßen inhaltslose Kunst werde „als der Übergang in die Abstractheit des Denkens gefaßt, als die allgemeine Kunst des in sich frei gewordenen, nicht an das äußerlich sinnlose Material gebundenen Geistes, der nur im inneren Raum und der inneren Zeit der Vorstellungen und Empfindungen sich ergeht“ (ebd.). Dies verweist wiederum auf den romantischen Geist mit seinem
„Überfluß an Emotion und innerer Bedeutung, der uns von den dargestellten Dingen in eine Region reißt, die nicht mehr diejenige der Dinge ist - der Dinge, die so viel von ihrer Macht verloren haben, den Geist bei sich zu halten. Was sich in der romantischen Kunst sehen und hören läßt, ist zuletzt das Unsichtbare und Unerhörte. Eingesperrt in einer Nußschale, ist sie König des unermesslichen Raums[23] - d.h.: In den Grenzen seiner Innerlichkeit steigert sich das schöpferische Ich ins Universal-Unendliche.
„Das Unsichtbare“ sichtbar machen - im Falle Heinrichs äußert sich dies im „Herausspinnen einer fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft, mit Umgehung der guten Natur“ (538) - anders gesagt: Im Spiritualismus als derjenigen
„Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrungen und Überzeugungen hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot machen will, anstatt zu ackern , zu säen, das Wachstum der Ähren abzuwarten, zu schneiden, dreschen, malen und backen“ (ebd.).
Die dialektische Dynamik dieser Textstelle entfaltet sich aus einer Intensitätssteigerung der Antithesen: In Opposition stehen zunächst „Arbeitsscheu“ und „Fleiß“, „Wundertätigkeit“ und „Gleichgewicht der Erfahrung und Überzeugung“ sowie „Trägheit“ und „Tätigkeit“ (ebd.). Im folgenden wird die Antithetik noch gehaltvoller: Dem „Schaffen aus dem Notwendigen und Wirklichen“ (S.539) steht das „Schaffen aus dem Nichts“ gegenüber, der „notwendigen und gesetzliche(n) (...) Mühe“ des „Blühen(s)“ und „Vergehen(s)“ die „mühelos(e)“ und zugleich künstlerische Tätigkeit des „Zusammensetzen(s), Binden(s) und Lösen(s)“, dem „Leben“ das „übertünchte Grab“ (ebd.). Auf der Klimax wird diese letzte Antithese zu einer Art Sentenz erweitert: „Leben“ bedeutet „eine wahrhaftige Rose“ sein, das „übertünchte(s) Grab“ von Heinrichs Spiritualismus hingegen umschließt eine Welt, „welche nie gewesen ist“, nicht ist und nicht sein wird“ (ebd.). Dem singulären, aber wahrhaftigen Sein steht also das universal-totale Nicht-Sein gegenüber - Heinrichs Kunstschaffen erweist sich einmal mehr als Medium einer Ästhetik zum Tode. Auch bleibt die „Umgehung der guten Natur“ (S.538) nicht folgenlos: Die „Naturanlage zum Erfinden“ (ebd.) drängt Heinrich, wie Laurenz Steinlin es ausdrückt, in eine „wirklichkeitslose künstlerische Odyssee“: „Die Kellersche Natur und die Homerschen Götter sind grundlegende, unumstößliche, bestimmende Mächte. Die olympische Götterwelt bestraft das selbstherrliche Individuum aus Ithaka mit zehnjähriger Irrfahrt“[24] ; Heinrichs vermeintliches Ingenium erzeugt eine „in mäandrischen Windungen“ (S.770) verlaufende Künstlerkarriere, deren Antiklimax im „Labyrinth“ der „gedankenlose(n) Kritzelei“ (S.633) dieses Odysseus der Kunst zu suchen ist.
2. Variation über Hegels Dictum vom Ende der Kunst
Es handelt sich bei Heinrichs „Spinnennetz“ um „ein unendliches Gewebe von Federstrichen“ - einerseits ein „Wirrsal“ (ebd.), in dem sich Heinrich „in zerstreutem Hinbrüten“ (ebd.), „dunklem Selbstvergessen“ und „mit eingeschlummerter Seele“ (S.634) verstrickt, andererseits ein „Labyrinth (...), das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen“ (S.633) ist, den „bewunderungswertesten Zusammenhang“, den „löblichsten Fleiß“ aufweist und aus „einem fortgesetzten Zuge“ gezeichnet ist (ebd.). In gewissem Sinne zeigt sich in Heinrichs Labyrinth „eine neue Manier, (...) eine neue Epoche der Arbeit, neue Motive und Muster“ (ebd.). Ebendiese Neuartigkeit macht Erikson zum Thema seiner Schein-Eloge:
„Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten (...) Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz[25] getrübt werden dürfe, sprechen und räsonnieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirklichen Dinge zum Ausdruck gebrauchte. Was ist das Schöne? Eine reine Idee, dargestellt mit Zweckmäßigkeit, Klarheit, gelungener Absicht“ (S.634-635).
Was Erikson hier proklamiert, ist die Autonomie der Kunst, und er tut dies mit dem Vokabular des transzendentalen Idealismus: Das Ästhetische ist subsistierend („frei“ und „für sich“) - eine „reine Idee“, die nicht mit den Kategorien empirischer Sinnlichkeit gefaßt wird, sondern a priori als formale Reflexion. Demgegenüber stehen „Realität“ und „Tendenz“: „trivial wirkliche Dinge“, „auf materielle Weise placiert“ im Sinne einer objektiven Ästhetik. Erikson verkündet nun - freilich nicht ohne die bitterste Ironie -, Heinrich sei durch die Absage an „alles Gegenständliche“ (S.635), „an die abscheulichste Realität“ (S.636), den „Stützpunkt“ des „Etwas“ (S.635), ein autonomes Kunstwerk nach Kantischen Prinzipien gelungen:
„Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommensten Freiheit des Schönen schwebend, dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der holdesten, reizendsten Abstraktion!“
Da vom Ding an sich gnoseologisch abstrahiert werden muß, wird es zur ästhetischen Kategorie: „In der vollkommensten Freiheit des Schönen schwebend“ ist ein Ansichsein rein formal denkbar: als ontologisch betrachtet leerer Schein. Dies, so Erikson weiter, sei „der triumphierende Beweis, wie Logik und Kunstmäßigkeit erst im Wesenlosen[26] recht ihre Siege feiert“ (S.635). Es gelte nunmehr, das Geschwür des Seienden auf die reine Verfassung der Form zu reduzieren - denn
„aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen! Sie ist ein krankhafter Abzeß dieses Nichts, ein Abfall Gottes von sich selbst. Das Schöne, das Poetische, das Göttliche besteht eben darin, daß wir uns aus diesem Geschwür wieder ins Nichts zurückabstrahieren, nur dies kann eine Kunst sein!“ (S.635).
Erikson macht sich hier scheinbar zum Anwalt eines ontologisch-gnoseologischen Nihilismus: einer abstrakten, völlig gegenstandslosen Kunst, die nach rationaler, mathematisch folgerichtiger Gesetzmäßigkeit konstruiert wird - und zwar in vollkommener Tendenzfreiheit“ (S.636), d.h. selbstsuffizient, in sich selbst vollendet, ohne Bezug auf irgendein Sujet:
„Fange oben in der Ecke an und setze einzeln nebeneinander Strich für Strich, eine Zeile unter die andere, von Zehn zu Zehn mache durch einen verlängerten Strich eine Unterabteilung, von Hundert zu Hundert eine wackere Oberabteilung, von Tausend zu Tausend einen Abschluß durch einen tüchtigen Sparren. Solches Dezimalsystem ist vollkommene Zweckmäßigkeit und Logik“ (S.636)[27]
Erikson sieht in solchem „in reinem Dasein sich ergehenden Fleiß“ (S.636) die „unbefleckte, unschuldige, himmlisch reine Absicht"“ der Wollenden realisiert, der er „die finsteren Mächte irdischen Könnens“ (ebd.) entgegenstellt. „Können“ - als das Etymon von „Kunst“ - bezieht sich hier auf die Wiedergabe der Wirklichkeit. Kunst im Sinne der Könnenden ist also in erster Linie Kunstfertigkeit, techne, und somit von „zu leibhafter Schwere“ (S.636), weil nur in korrelativer Bezogenheit auf die Realität denkbar. Der Wollende hingegen bringt nicht Kunst(fertigkeit), sondern seinen Willen in das Kunstwerk ein: die „reine Absicht“, unbeschwert durch die Schlacke der Objektivität: „Kein schlackenbeschwerter Könnender stört die Harmonie der Wollenden“ (S.636). Diese gründet sich auf einem transzendentalen Idealismus, für den die Prinzipien der Apperzeption von Wirklichkeit a priori gegeben sind und daher nicht a posteriori mimetischen Erfordernissen angepaßt werden dürfen. Dies nämlich verursacht „tausend Trübungen und Ungleichheiten zwischen den Wollenden (...) und steht der reinen (apriorischen)[28] Absicht fort und fort feindlich entgegen“. Die Produktion aus dem Wollen, der Idee heraus - der Repräsentation aus dem Können scheinbar überlegen - vollzieht sich, sofern ungestört, „mühelos und ohne Kummer“ (S.636). Man fühlt sich hier unmittelbar an die bereits untersuchte Passage über den Spiritualismus erinnert: „Wie schön, lieblich und mühelos war diese Tätigkeit“, heißt es dort von Heinrichs Kunstschaffen (S.539). Aus dieser Parallelität ist ersehbar, daß der Urgrund von Heinrichs Spiritualismus in einem Idealismus der Wollenden zu suchen ist[29]. Die Losung der von Erikson vergeblich verherrlichten „Brüderschaft der Wollenden“ (S.636) könnte wohl „Poiesis vor Mimesis“ lauten, oder besser: „Poiesis als Mimesis“: Der schöpferische Geist soll „goldschnittheitere, ewige Gleichheit“ nicht nur „zwischen der Brüderschaft der Wollenden“, sondern auch und gewissermaßen als prima causa zwischen den Wollenden und ihrem Kunstgegenstand herstellen (ebd.). Dies ist das romantische Ideal der Vereinigung von Subjekt und Objekt, Geist und Natur auf dem Wege der Poetisierung des Lebens. Poiesis geht dann in Mimesis über, weil die Emanation des schöpferischen Ich Wirklichkeit in Innerlichkeit transponiert. Rainer Würgau formuliert es folgendermaßen: „In der Romantik soll das Mimetische aus der Identität selbst hervorgehen, als unendliche Reflexion aus dem Ich, als progressive Universalpoesie“[30]. Die progressive Universalpoesie, wie sie Friedrich Schlegel im 116. Athenäum-Fragment konzipiert, impliziert auch die Vereinigung der Kunstgattungen. Erikson koppelt diese Synthese an den Prozeß einer allgemeinen Abstraktion:
[...]
[1] Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1978. Aus dieser Ausgabe wird im fortlaufenden Text mit Seitenangaben in Klammern zitiert.
[2] Hardig; Jean (Hg.): Aristote: Poétique. Texte établi et traduit par Jean Hardig (1979). S.12.
[3] Goethe, Johann Wolfgang von: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe (1981), Band 12, S. 31.
[4] Ebd.
[5] Hervorhebung von Verf.
[6] Sandberg-Russell, Kristina: Das Problem der Identität in Gottfried Kellers Prosawerk (1989), S.77.
[7] Heckendorn, Thomas: Die Problematik des Selbst in Gottfried Kellers Grünem Heinrich (1989). S.22.
[8] Rilke, Rainer Maria: 7. Duineser Elegie. In: Gesammelte Gedichte (1962). S.467.
[9] Hervorhebung von Verf.
[10] Vgl. S.6.
[11] Meier, Hans: Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“. Betrachtungen zum Roman des poetischen Realismus (1977). S.78.
[12] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. S.566.
[13] Schlegel, Friedrich: 116. Athenäum-Fragment. In: Behler, Erich (Hg.): Friedrich Schlegels sämtliche Werke. Studienausgabe in 6 Bänden (1988). Band II. S. 182-183.
[14] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. S.567.
[15] Heller, Erich: Die Reise der Kunst ins Innere und andere Essays (1966). S.159.
[16] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. a.a.O. S. 568.
[17] Heller, Erich: Die Reise der Kunst ins Innere. a.a.O. S.151.
[18] Coleridge, Samuel Taylor: Notes and Lectures upon Shakespeare (1868). IV. S.144.
[19] Ders.: Seven Lectures on Shakespeare and Milton (1865). S.141.
[20] Ruppel, Richard R.: Gottfried Kellers Ethik im Zusammenhang mit ästhetischen, religiösen und historischen Aspekten seiner Kunst. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling (1990). S.64.
[21] Müller, Klaus-Detlef: Die „Dialektik der Kulturbewegung“. Hegels romantheoretische Grundsätze zu Kellers Grünem Heinrich. In: Poetica. 8 (1976), S.312.
[22] Hettner, Hermann: Gegen die spekulative Ästhetik. In: Kleine Schriften (1884). S.164 f.
[23] Heller, Erich: Die Reise der Kunst ins Innere und andere Essays (1966). S.158.
[24] Steinlin, Laurenz: Gottfried Kellers materialistische Sinnbildkunst: die Arbeit am Grünen Heinrich 1848-1865 im Kontext (1986). S.276.
[25] Hervorhebungen v. Verf.
[26] Hervorhebung von Verf.
[27] In diesem Zusammenhang scheint ein Verweis auf Honoré de Balzacs „Le Chef d’oeuvre inconnu“ aus dem Jahre 1831 ergiebig zu sein. Über Heinrichs „kolossale(n) Kritzelei“ (S.634) heißt es: „Wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs gesammelten Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen“. Ein ebensolches intendiert Frenhofer in Balzacs Erzählung. Porbus sagt über ihn: « Dans ses moments de désespoir, il prétend que le dessin n'existe pas et qu'on ne peut rendre avec des traits que des figures géométriques; ce qui est trop absolu » (S.59). Als Frenhofer am Ende seine "Catherine Lescault", sein „chef d’oeuvre inconnu“, präsentiert, erweist es sich als ebenso abstrakt wie Heinrichs Kritzelei. Poussin äußert voll Erstaunen: « Je ne vois là que des couleurs confusément amassées et contenues par une multitude de lignes bizarres qui forment une muraille de peinture » (S.74). Interessant ist, daß für beide Künstler - sowohl für Heinrich als auch für Frenhofer - die Maxime „Poiesis vor Mimesis“ höchste Gültigkeit beansprucht. Frenhofer selbst sagt gegenüber seinen Freunden: "La mission de l'art n'est pas de copier la nature, mais de l'exprimer! Tu n’est pas un vil copiste, mais un poète!“ (S.42f.) - und Poussin urteilt: „Il (Frenhofer) est encore plus poète que peintre“ (S.75), was auch für Heinrich gilt, wie verschiedentlich gezeigt wurde. Voraussetzung für die abstrakte Kunst ist also eine produktionsästhetische Konzeption, oder, um es ex negativo zu formulieren: die Lösung von jeglichem mimetischen Zwang.
[28] Ergänzung von Verf.
[29] Über den Begriff ‚Spiritualismus’ heißt es bei Hans Meier (Meier, Hans: Gottfried Kellers Grüner Heinrich. Betrachtungen zum Roman des poetischen Realismus (1977). S.78): „In der christlichen Kunst des Mittelalters meinte dieses Wort die bewunderte geistige Tat des Künstlers, in seinem Werk die Idee (Hervorhebung von Verf.) des Göttlichen hervorleuchten zu lassen“. Ebendies ist Heinrichs Bestreben. Inmitten eines „selbstgemachten, manchmal etwas flachen Rationalismus“ (S.537) steht sein Gott als „ein wahrer Diamantberg von einem Wunder“, und diese Heinrich eigene „Idee des Göttlichen“ (ebd.) ist Gegenstand seiner Malerei. Wo nun aber eine Idee zum Kunstgegenstand gemacht, objiziert wird, legitimiert sich dies allein aus der subjektiven Machtvollkommenheit des Kunstschaffenden, und folglich gehen im Falle Heinrichs Idealismus und Subjektivismus - vereint im Begriff des Spiritualismus - Hand in Hand: Die Idee des Göttlichen gründet sich „einsam und unvermittelt“ auf „ein inniges und tiefes Gefühl der Gottheit“ (S.537, Hervorhebungen von Verf.), d.h. einzig und allein auf Heinrichs Subjektivität - weswegen man die Genese von Heinrichs Gottesvorstellung als Antizipation seiner künstlerischen Entwicklung deuten kann: "Weil Heinrich auf eine unberechtigte Weise an Gott glaubte, so machte er u.a. auch allegorische Landschaften und geistreiche, magere Bäume" (S.538)
[30] Würgau, Rainer: Der Naturbegriff im Werk Gottfried Kellers. Topik der Natur, Materialismus, Mimesis (1970). S.239.
- Arbeit zitieren
- Sandra Kluwe (Autor:in), 1996, Zwischen Mimesis und Poiesis: Die ästhetische Dialektik in Kellers Roman 'Der grüne Heinrich', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77640
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