Die Darstellung dieser beiden politischen Theorien hat gezeigt, dass der Libertarianismus eine sehr hetrogene Strömung ist, die Parallelen zu anderen politischen Theorien aufweist. Neben Ähnlichkeiten zwischen dem marxistischen Denken und dem linken Libertarianismus, scheinen insbesondere Berührungspunkte zwischen dem Libertarianismus und dem Anarchismus zu existieren. Gemeinsamkeiten bestehen im negativen Freiheitsbegriff, der Staatskritik oder der Ablehnung des Staates, so dass sich vor allem die Anarcho-Kapitalisten vermeintlich einer genauen Einordnung entziehen. Eine weitere Ausdiffrenzierung und Abgrenzung des Libertarianismus erscheint daher notwendig und wird, wie Jan Narveson schreibt, „von immensem Wert sein“.
Die Arbeit soll zu diesem Diskurs einen Beitrag leisten, indem ein Vergleich angestrengt wird, der mögliche Parallelen zwischen Anarcho-Kapitalismus und Anarchismus genauer beleuchtet. Als Vertreter der Anarcho-Kapitalisten wird Murray N. Rothbard im Mittelpunkt stehen. Seinem Denken sollen die Überlegungen Peter A. Kropotkins gegenüber gestellt werden.
Die Fragestellung der Arbeit lautet: Inwieweit unterscheiden bzw. gleichen sich die gesellschaftstheoretischen Konzeptionen von Murray N. Rothbard und Peter A. Kropotkin und welche Schlüsse lassen sich aus dem Vergleich für die Ausdifferenzierung der theoretischen Strömung des Libertarianismus ziehen? Ihre Untersuchung gliedert sich in drei Teilfragen: 1) Auf welchem theoretischen Fundament steht die Gesellschaftskonzeption des jeweiligen Denkers? 2) Wie sieht die neue Gesellschaftsordnung aus? Hierbei stehen die Bereiche Wirtschaft und Recht im Vordergrund. 3) Wie stellen sich die beiden Theoretiker den Übergang zu dieser neuen Gesellschaftsordnung vor?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Der Untersuchungsgegenstand
1.1.1 Libertarianismus
1.1.2 Anarchismus
1.2 Problemstellung
1.3 Forschungsstand
1.4 Aufbau der Arbeit
2. Der theoretische Ausgangspunkt
2.1 Die theoretischen Grundlagen von Murray N. Rothbard
2.1.1 Die Naturrechtslehre
2.1.2 Das Menschenbild
2.1.3 Das Eigentum
2.1.4 Das Nichtaggressions-Axiom
2.2 Die theoretischen Grundlagen von Peter A. Kropotkin
2.2.1 Das Menschenbild
2.2.2 Das Recht auf Wohlstand für alle
2.2.3 Die freie Vereinbarung
2.3 Vergleich
3. Die neue Gesellschaft
3.1 Die libertäre Gesellschaft Murray N. Rothbards
3.1.1 Der Prozess von Produktion und Konsumtion
3.1.2 Das Rechtssystem
3.2. Die anarcho-kommunistische Gesellschaft des Peter A. Kropotkin
3.2.1 Die Kommune
3.2.2 Die Ordnung
3.3 Vergleich
4. Der Weg zur neuen Gesellschaft
4.1 Die Strategie der Freiheit von Murray N. Rothbard
4.1.1 Die subjektive Bedingung
4.1.2 Die objektive Bedingung
4.2. Das Entstehen der anarcho-kommunistischen Gesellschaft bei Peter A. Kropotkin
4.2.1 Die revolutionären Minoritäten
4.2.2 Die Revolution
4.3 Vergleich
5. Schlussbetrachtung
5.1 Zusammenfassung
5.2 Kritische Einschätzung beider Theorien
5.3 Schlussfolgerungen
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
6.1 Quellenverzeichnis
6.2 Literaturverzeichnis
6.2.1 Unselbstständig erschienene Literatur
6.2.2 Selbstständig erschienene Literatur
1. Einleitung
1.1 Der Untersuchungsgegenstand
„Der Staat begeht gewohnheitsmäßig Massenmord, […] nimmt […] Versklavung […] vor […] und er lebt vom gewaltsamen Raub.“[1] In Anbetracht derartiger Verbrechen der Regierung an ihren Bürgern muss der Staat − so Murray N. Rothbard und andere Anarcho-Kapitalisten − abgeschafft werden. Eine Ansicht, welche die Libertarianer mit den politischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts teilen, die sich ferner ebenfalls als Libertäre, d. h. als libertäre Sozialisten, bezeichneten.[2] Folgerichtig scheinen zwischen Libertarianismus und Anarchismus Parallelen zu existieren, für deren Verdeutlichung beide Theorien zunächst genauer vorgestellt werden sollen.
1.1.1 Libertarianismus
Der Begriff „libertarianism“, tauchte in den fünfziger Jahren zum ersten Mal auf. Zehn Jahre später kann zumindest im angelsächsischen Raum von einer theoretischen Strömung gesprochen werden, die ihre Auffassungen als libertarianisch bzw. libertär[3] bezeichnet. Sie zeichnet sich durch ihr zentrales Interesse aus, das in der größtmöglichen Gewährleistung von individueller Freiheit besteht. Dennoch ist der Libertarianismus wie die meisten politischen Theorien keine einheitliche Strömung. Ausgehend vom Freiheitsbegriff lassen sich zunächst zwei verschiedene Versionen des Libertarianismus unterscheiden. Einerseits die „linke“ Variante, deren Anhänger unter Freiheit den einzigen Wert verstehen, der von Regierungen und Individuen befördert werden soll. Alle Mittel, die dieses Ziel begünstigen, sind zulässig, so dass den Individuen selbst Pflichten oder Zwänge aufgelegt werden können.[4] Andererseits existiert eine „rechte“ Variante, deren Anhänger den Freiheitsbegriff negativ definieren; als Abwesenheit eines Zwangs, der Handlungen einer Person be- bzw. verhindert. Sie bezeichnet das einzige Recht des menschlichen Individuums, weshalb Handlungen, die eben dieses Recht verletzen, verboten sind. Die Grundbedingung für die Wahrnehmung des „Freiheitsrechtes“ sehen die rechten Libertarianer in dem Eigentumsrecht am eigenen Körper, dem so genannten „selfownership“ sowie dem Eigentumsrecht an den Produkten der eigenen Arbeit. Alle weiteren Rechte leiten sich aus dem Eigentumsrecht einerseits und dem Freiheitsrecht andererseits ab. Juristisch interessant ist dabei, dass sämtliche Rechte einer libertären Welt negative Rechte sind. Folglich verbieten sie einer Person Handlungen, erlegen ihr jedoch keine Pflichten auf, eine andere Person bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen. Des Weiteren teilen alle rechten Libertarianer eine marktwirtschaftliche Orientierung[5], der zufolge die Verteilung sowie die Bereitstellung der Güter in der Gesellschaft ausschließlich oder zumindest größten Teils durch den Markt geregelt werden soll.[6] Anhand der unterschiedlichen Marktausdehnung lassen sich wiederum zwei Strömungen innerhalb des rechten Libertarianismus unterscheiden. Auf der einen Seite die so genannten Minarchisten und auf der anderen Seite die Anarcho-Kapitalisten. Erstere befürworten einen Minimalstaat, der die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der Gesellschaft bereitstellen soll.[7] Die Anarcho-Kapitalisten vertreten demgegenüber einen radikalen Antietatismus. Sie teilen weder die Skepsis der Minarchisten alle Staatsfunktionen durch private Unternehmen bereitstellen zu können, noch den Glauben die politische Autonomie des Staates sei begrenzbar.
Uneinigkeit herrscht in der Frage, ob Anarcho-Kapitalisten überhaupt zum Libertarianismus gezählt werden sollten. Führende Vertreter der minarchistischen Variante, wie beispielsweise Robert Nozick[8], haben sich für eine radikale Unterscheidung zwischen Libertarianismus und Anarcho-Kapitalismus ausgesprochen.[9] Überblickswerke ordnen letztere dessen ungeachtet dem Libertarianismus zu[10], sprechen aber gleichzeitig im Zusammenhang mit den Anarcho-Kapitalisten von einem „Anarchismus mit starken Eigentumsrechten“[11] bzw. verorten sie zusätzlich bei den Anarchisten.[12] Daneben bezeichnen sich anarcho-kapitalistische Autoren wie z. B. David D. Friedman selbst als Anarchisten.[13] Daher lässt sich fragen: Können die Anarcho-Kapitalisten dem Anarchismus zugerechnet werden?
1.1.2 Anarchismus
Die heterogene Theorieströmung des Anarchismus lässt sich Peter Lösche zufolge anhand von vier Kriterien eingrenzen. Erstens zeichnet sie sich durch eine Ablehnung jeglicher fest gefügter Institutionen aus, mit denen Herrschaft bzw. Zwang von Menschen über Menschen ausgeübt werden kann. Zweitens charakterisiert die Anarchisten, dass sie jede Form von Ideologie ablehnen. In diesem Zusammenhang wenden sie sich zudem gegen eine Systematisierung ihrer Theorie, die offen und veränderungsbereit bleiben soll. Drittens streben die Anarchisten eine zukünftige herrschaftsfreie Gesellschaft an, in der „freie, funktionsgerechte, räumlich überschaubare, zeitlich begrenzte oder wenigstens auflösbare autonome Assoziatione[en]“[14] von unten nach oben föderal organisiert werden. Die Delegation von Entscheidungen an eine höhere Ebene erfolgt nur im Fall ihrer funktionalen Notwendigkeit. Das vierte Kriterium bezeichnet einen voluntaristischen Revolutionsbegriff, bei dem Revolution und Neuordnung der Gesellschaft zusammenfallen. In ihr organisiert das Volk selbst mit Hilfe seiner kreativen Kraft die Gesellschaft von der Basis aus[15], weshalb es keiner Übergangsphase bedarf, wie dies beispielsweise im Marxismus der Fall ist.[16]
Seine Blütezeit erlebte der Anarchismus in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die sich insbesondere mit den Namen der russischen Revolutionäre Michael A. Bakunin und Peter A. Kropotkin verbindet.[17] Schließlich erfuhr er im Zuge der Studentenbewegung eine teilweise Renaissance und selbst in jüngster Zeit gab es Versuche eine Verbindung von Anarchismus und Ökologie herzustellen.[18] Dessen ungeachtet zählen William Godwin und Pierre Joseph Proudhon[19] zu den Vordenkern des Anarchismus, da sie seine Grundannahmen zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten. Mit Hilfe ihrer Überlegungen lassen sich die vier bereits beschriebenen Charakteristika erweitern: Der Mensch befindet sich sowohl in intellektueller als auch moralischer Hinsicht in einer Aufwärtsentwicklung, die letztendlich eine natürliche Gerechtigkeit in der Gesellschaft ermöglicht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird sie von den bestehenden Institutionen der Herrschaft verdeckt, welche die moralischen Irrtümer und die Ungerechtigkeit aufrecht halten.[20]
Der anarchistische Freiheitsbegriff, den die Literatur selten explizit erwähnt, definiert sich wie im Libertarianismus negativ. Demzufolge soll das freie Individuum in der zukünftigen Gesellschaft „in seiner allseitigen Entwicklung durch keinerlei auf Zwang und Gewalt gegründete Autorität und Herrschaft behindert werden“[21]. Dabei ist bezeichnend, dass alle Anarchisten unter Zwang auch ökonomischen Zwang verstehen.[22] Er beschreibt die Situation, in der finanzielle Umstände eine Person zum unfreiwilligen Verkauf ihrer Arbeitskraft nötigen. Folgerichtig kann als letztes Merkmal des Anarchismus die Beseitigung der ökonomischen Ausbeutung angeführt werden.[23] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Anarchismus individualistische und sozialistische Elemente vereinigt, was in nicht geringem Maße auf den Einfluss marxistischer Gedanken zurückzuführen ist.[24] Inzwischen werden fünf verschiedene Strömungen des Anarchismus unterschieden − a) eine individualistisch−libertäre b) eine solidarische c) eine kollektiv sozietäre c) eine kommunistische e) eine syndikalistische.[25]
1.2 Problemstellung
Die Darstellung dieser beiden politischen Theorien hat gezeigt, dass der Libertarianismus eine sehr heterogene Strömung ist, die Parallelen zu anderen politischen Theorien aufweist. Neben Ähnlichkeiten zwischen dem marxistischen Denken und dem linken Libertarianismus[26], scheinen insbesondere Berührungspunkte zwischen dem Libertarianismus und dem Anarchismus zu existieren. Gemeinsamkeiten bestehen im negativen Freiheitsbegriff, der Staatskritik oder der Ablehnung des Staates, so dass sich vor allem die Anarcho-Kapitalisten vermeintlich einer genauen Einordnung entziehen. Eine weitere Ausdifferenzierung und Abgrenzung des Libertarianismus erscheint daher notwendig und wird, wie Jan Narveson schreibt, „von immensem Wert sein“[27].
Die Arbeit soll zu diesem Diskurs einen Beitrag leisten, indem ein Vergleich angestrengt wird, der mögliche Parallelen zwischen Anarcho-Kapitalismus und Anarchismus genauer beleuchtet. Als Vertreter der Anarcho-Kapitalisten wird Murray N. Rothbard im Mittelpunkt stehen, der mit seinem Werk Eine neue Freiheit[28] einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der libertären Bewegung geleistet hat. Andere Anarcho-Kapitalisten sowie Fred E. Foldvary sehen in ihm überdies den Begründer der libertären Bewegung in Amerika.[29] Seinem Denken sollen die Überlegungen Peter A. Kropotkins gegenüber gestellt werden, da dieser gemeinsam mit Michael A. Bakunin zu den bedeutendsten Theoretikern des Anarchismus zählt. Im Vergleich zu Michael A. Bakunin hat er sich in seinen Werken verstärkt auf die Theorieentwicklung konzentriert und versucht seine Theorie des kommunistischen Anarchismus naturwissenschaftlich zu begründen, was in der anarchistischen Tradition einzigartig ist.[30]
Den Untersuchungsgegenstand bilden die Gesellschaftstheorien der beiden Denker. Denn so können – im Gegensatz zu einem Vergleich ihrer Staatskritiken – die theoretischen Grundannahmen klarer herausgearbeitet werden. Überdies schloss sich Peter A. Kropotkin der Staats-kritik anderer Anarchisten an. Seine Leistung liegt vielmehr in der Ausformulierung einer gesellschaftstheoretischen Alternative.[31] Daher lautet die Fragestellung der Arbeit: Inwieweit unterscheiden bzw. gleichen sich die gesellschaftstheoretischen Konzeptionen von Murray N. Rothbard und Peter A. Kropotkin und welche Schlüsse lassen sich aus dem Vergleich für die Ausdifferenzierung des Libertarianismus ziehen? Ihre Untersuchung gliedert sich in drei Teilfragen: 1) Auf welchem theoretischen Fundament steht die Gesellschaftskonzeption des jeweiligen Denkers? 2) Wie sieht die neue Gesellschaftsordnung aus? Hierbei stehen die Bereiche Wirtschaft und Recht im Vordergrund. 3) Wie stellen sich die beiden Theoretiker den Übergang zu dieser neuen Gesellschaftsordnung vor?
1.3 Forschungsstand
Die politische Theorie des Libertarianismus spielt im politikwissenschaftlichen Diskurs keine bedeutende Rolle. Die Mehrzahl der politischen Lexika führt die Bezeichnung nicht eigenständig.[32] Der Großteil ihrer Theoretiker kommt aus dem ökonomischen Bereich, d. h. den Wirtschaftswissenschaften. Dort scheint der Libertarianismus einen festen Platz zu haben.[33] Die Arbeit wird sich deshalb auf die beiden Schriften von Murray N. Rothbard beziehen, in denen er seine politischen Ideen darlegt[34]; Die Ethik der Freiheit[35] und Eine neue Freiheit. Dagegen gehört der Anarchismus inzwischen zum festen Kanon der politischen Theorie. In den einschlägigen Lexika, wie beispielsweise dem Lexikon der Politik[36] oder dem Wörterbuch zur Politik[37] ist sie zu finden. Die Ausführungen zu Peter A. Kropotkin stützen sich auf seine Schriften zum kommunistischen Anarchismus und der Anthropologie: Die Eroberung des Brotes, Der Anarchismus. Philosophie und Ideale[38], Worte eines Rebellen[39], Landwirtschaft, Industrie und Handwerk[40] sowie Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt[41]. Erwähnt werden soll an dieser Stelle die Bibliographie von Heinz Hug[42], welche die Erschließung des kropotkinischen Schriftwerks enorm erleichterte.
1.4 Aufbau der Arbeit
Um die Darstellung des wissenschaftlichen Problems zu gewährleisten, musste die Einleitung in beide Theorien einführen. Infolgedessen überschreitet sie den üblichen Umfang. Der folgende Hauptteil gliedert sich anhand der Teilfragen in drei Kapitel, in denen der Vergleich beider Ansichten jeweils direkt an die Darstellung anschließt. Danach sollen in der Schlussbetrachtung die Ergebnisse der Untersuchung kurz zusammengefasst und in ihrer Bedeutung für die Ausdifferenzierung des Libertarianismus taxiert werden.
2. Der theoretische Ausgangspunkt
2.1 Die theoretischen Grundlagen von Murray N. Rothbard
2.1.1 Die Naturrechtslehre
Murray N. Rothbard teilt die erkenntnistheoretische Position des Thomas von Aquin, der zufolge eine physische und eine ethische Naturordnung existieren, die der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft erkennen kann, d.h. die Entitäten besitzen eine ihnen jeweils eigene Natur, die ihre naturgesetzlichen Verhaltensweisen − ihr beobachtbares Verhalten − bezeichnet. Das Verhalten der anorganischen Natur wird von den physikalischen, das der organischen von deren biologischen Gesetzen, den Instinkten, bestimmt. Der Mensch zeichnet sich demgegenüber durch eine Natur aus, die nicht von Trieben dominiert wird. Er muss seine Vernunft gebrauchen um 1) sich sowie seine Umwelt zu begreifen, 2) Werte bzw. Ziele auszuwählen und 3) zielgerichtet zu handeln. Dabei ist er bestrebt sich selbst zu erhalten und sein Leben stetig zu verbessern; er geht natürlichen und fortgeschrittenen Bedürfnissen nach.[43]
Aus dieser Naturordnung leitet Murray N. Rothbard eine Naturethik ab, die sich durch Objektivität auszeichnet, da sie in der menschlichen Natur gründet, die allen Menschen zugleich eigen ist. Ihr zufolge sind Handlungen unmoralisch, sofern sie der menschlichen Natur widersprechen. Sie allein soll den Inhalt der positiven Gesetze bilden, so dass der Mensch lernen, entscheiden, seine Fähigkeiten entwickeln und nach seinen Werten und seinem Gewissen handeln kann. Das bezeichnet sein natürliches Recht. Besonders betont der amerikanische Ökonom hierbei den individuellen Charakter der menschlichen Natur. Denn Menschen denken, fühlen und handeln als Individuen.[44] Infolgedessen vertritt er wie die anderen Anhänger der österreichischen Schule der Ökonomie einen radikalen politischen Individualismus, der seine Wurzeln im methodologischen Individualismus des klassischen liberalen John Locke hat, auf den sich Murray N. Rothbard in seiner Naturrechtslehre bezieht. Jegliche Überlegenheit eines Kollektivs also jede politische Mehrheitsentscheidung wird von dieser Position aus abgelehnt, da sie das Naturrecht jeder Person der Minderheit auf ihre natürliche Existenz verletzt. Dennoch vertreten diese Ökonomen keinen Atomismus. Das Individuum muss um überleben zu können mit anderen Menschen interagieren, weil es im aristotelischen Sinne ein Mängelwesen ist. Nur entscheidet jedes Individuum für sich, mit wem es kooperiert und welche Einflüsse es ablehnt.[45]
2.1.2 Das Menschenbild
Der angeführten Naturrechtskonzeption liegt eine bestimmte Anthropologie zugrunde, die der Ökonom mit den klassischen Liberalen des 17. und 18. Jahrhunderts teilt.[46] Diesem rationalen Menschenbild zufolge ist der Mensch ein Vernunftwesen, das seine Ziele rational verfolgt, d. h. der Mensch ist ein Nutzenmaximierer, der nach dem ökonomischen Prinzip[47] handelt. Dabei will er sowohl sein Leben erhalten als auch stetig verbessern. Aufgrund begrenzter Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, betrachtet er Mitmenschen bei seinem Streben als Konkurrenten.[48]
2.1.3 Das Eigentum
Aus dem Naturrecht leiten sich einerseits das Recht des Menschen auf Eigentum an seinem Körper, andererseits die Eigentumsrechte an nichtmenschlichen Objekten ab. Demnach benötigt eine natürliche Existenzweise die individuelle Verfügung über Körper und Geist − „Selfownership“. Des Eigentums an nichtmenschlichen Objekten bedarf der Mensch, weil er kein schwebender Geist ist, sondern die Natur zu seiner Zweckbefriedigung umwandeln muss. In diesem Prozess werden die Eigentumsrechte des Menschen an seinem Körper durch Arbeit an den Gegenständen auf diese übertragen. Der Prozess beginnt, wo ein Objekt zum ersten Mal durch das Zufügen von Arbeit verändert wird. Dann geht es aus seinem natürlichen Zustand, in dem es Keinem gehört, in den rechtlichen Zustand des Eigentums über. Angeignet werden auch Boden bzw. Land, da angebaute Produkte nur so ihren Produzenten gehören können. Die zugefügte Arbeit des Siedlers äußert sich hierbei in der Gestaltung des Landes, die leicht zu erkennen sei, wie der Libertäre versichert.[49] Demgegenüber könnte in einer kommunistischen Gesellschaft, in der jeder einen Teil des Eigentumsrechtes an dem Körper sowie dem Besitz des Anderen eignet, entweder kein Mensch existieren oder die Wahrnehmung des Rechtes würde an eine privilegierte Klasse übertragen. Deren Herrschaft ist jedoch der Naturethik zufolge inakzeptabel.[50] Stellen in der anarcho-kapitalistischen Gesellschaft mehreren Personen ein Produkt her, gehört es dem letzten Eigen-tümer, der seine Mitarbeiter auszahlt, ihnen ihre mit der Arbeit übertragenen Eigentumsrechte faktisch abkauft. Folglich ist das Eigentum an nichtmenschlichen Objekten, wozu auch Tiere zählen, individuell und kann sich unbegrenzt ausdehnen.
Gemeinsam mit der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und der Vielfalt der Ressourcen ermöglicht das Eigentum Tauschvorgänge zwischen den Individuen. Die so entstehende Struktur bildet der Markt, welcher sich Murray N. Rothbard zufolge durch Freiwilligkeit in Form der Vertragsfreiheit auszeichnet. Schließlich könne das Individuum selbst entscheiden mit wem es sein Eigentum – genauer seine Eigentumsrechte oder Teile dieser an einem nichtmenschlichen Objekt – tauschen möchte.[51] Daneben bietet er die Möglichkeit zur Spezialisierung, genauer gesagt, sich auf die Herstellung bestimmter Güter zu konzentrieren und daraufhin eine unermessliche Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards für alle zu erreichen, die am Tauschprozess teilnehmen. Folglich stellt der Markt die produktivste und moralischste Wirtschaftsform dar.[52] Das Recht auf „selfownership“ und das Recht auf Eigentum an den Produkten der Arbeit bilden die beiden unverletzlichen und doktrinär geltenden Grundaxiome, aus denen die gesamte Gesellschafts-organisation abgeleitet werden kann.[53]
2.1.4 Das Nichtaggressions-Axiom
Aus der Absolutheit der naturrechtlich begründeten Eigentumskonzeption erschließt sich der zentrale Grundsatz der libertären Gesellschaft, das Nichtaggressions-Axiom. Demnach darf kein Mensch bzw. keine Gruppe von Menschen, die sich Gesellschaft nennt, andere Menschen oder deren Eigentum angreifen. Unter Aggression versteht Murray N. Rothbard ausschließlich die Verwendung von physischer Gewalt oder die Androhung selbiger[54], sodass sich der Freiheitsbegriff des rechten Libertarianers nun anschaulich definieren lässt. Freiheit bezeichnet einen „Zustand in dem die Eigentumsrechte einer Person an [ihrem] Körper und [ihrem] legitimen Eigentum nicht verletzt werden“[55]. Sie stellt vor allem einen Grundsatz der Gerechtigkeit dar, indem naturrechtswidrige Gewalt gegen Menschen abgeschafft wird.[56]
2.2 Die theoretischen Grundlagen von Peter A. Kropotkin
2.2.1 Das Menschenbild
Den Menschen versteht Peter A. Kropotkin als das höchstentwickelte gesellige Tier. Seiner Natur nach verfügt er wie alle höher entwickelten Tiere – neben den antisozialen Instinkten, beispielsweise dem Selbsterhaltungstrieb – über soziale Triebe, deren Ursprung der russische Anarchist in den frühesten Stadien der tierischen Entwicklung vermutet.[57] Die sozialen Instinkte äußern sich im Verhalten der höheren Tiere durch Geselligkeit bzw. gegenseitige Hilfe. Sie verschafft ihnen im Kampf um das Dasein einen Vorteil gegenüber den Tieren, die sich besonders spezialisiert haben, aber ihre Existenz allein bestreiten. Dabei unterscheidet Peter A. Kropotkin von Darwin ausgehend den Kampf ums Dasein in zwei Formen; den Inneren und den Äußeren. Letzterer bezeichnet den Kampf einer Art gegen rivalisierende Spezies sowie gegen widrige Umwelteinflüsse, ersterer demgegenüber den Kampf um die Existenzmittel innerhalb der Art selbst.[58]
[...]
[1] Rothbard, Murray N.: Eine neue Freiheit. Das libertäre Manifest, Berlin 1999, S. 34.
[2] Vgl. Ebd., S. 33; Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, Olten 1972, S. 12.
[3] Um diesen Begriff gibt es innerhalb des Libertarianismus eine Kontroverse. Einige Theoretiker lehnen ihn ab, andere bezeichnen ihre Auffassungen explizit als libertär. Vgl. Niesen, Peter: Die politische Theorie des Libertarianismus, in: Brodocz, André/ Gary S., Schaal: Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung, Opladen 2002, S. 80.
[4] Vgl. Narveson, Jan: Libertarianismus: Eine Philosophische Einführung, S. 5, in: http://www.gkpn.de/narveson_3.pdf (22.7.06).
[5] Das heißt, sie gehen von der soziologischen Annahme aus, dass der Hauptteil der sozialen menschlichen Beziehungen aus Tauschhandlungen besteht und diese einzig unter den Bedingungen der Konkurrenz für alle Seiten vorteilhaft verlaufen können.
[6] Vgl. Niesen, Peter: Die politische Theorie des Libertarianismus, 2002, S. 78−80.
[7] Milton Friedman beispielsweise bezeichnet als Vertreter des Minarchismus die Regierung als „Schiedsrichter und Spielleiter“. Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart 1971, S. 48.
[8] Robert, Nozick ist laut Peter Niesen der bedeutendste Autor des Libertarianismus für die politische Philosophie.
[9] Vgl. Niesen, Peter: Die politische Theorie des Libertarianismus, 2002, S. 80−110.
[10] Siehe dazu: Narveson, Jan: Libertarianismus, S. 5−37; Foldvary Fred E.: Libertarianismus, in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, Düsseldorf 2000, S. 211.
[11] Narveson, Jan: Libertarianismus, S. 31.
[12] Vgl. Foldvary, Fred E.: Anarchismus, in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, 2000, S. 31.
[13] Vgl. Friedman, David D.: Das Räderwerk der Freiheit für einen radikalen Kapitalismus, Grevenbroich 2003, S. 140.
[14] Lösche, Peter: Anarchismus, in: Lexikon der Politik. Band 1. Politische Theorien, München 1995, S. 17.
[15] Vgl. Lösche, Peter: Anarchismus, in: Lexikon der Politik, 1995, S. 17−19.
[16] Vgl. Cantzen, Rolf: Weniger Staat − Mehr Gesellschaft. Freiheit − Ökologie − Anarchismus, 3. Auflage, Grafenau 1997, S. 18−20.
[17] Die beiden gelten als seine wichtigsten Theoretiker. Vgl. Hug, Heinz: Peter Kropotkin. Bibliographie, 1994 Grafenau, S. 11−12; Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, 1972, S. 8−25.
[18] Vgl. Lösche, Peter: Anarchismus, in: Lexikon der Politik, 1995, S. 21−22.
[19] P. J. Proudhon bezeichnete sich selbst zuerst als politischen Anarchisten.
[20] Vgl. Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, 1972, S. 15−25.
[21] Ebd., S. 12.
[22] Vgl. Lösche, Peter: Anarchismus, in: Lexikon der Politik, 1995, S. 17.
[23] Vgl. Cantzen, Rolf: Weniger Staat − Mehr Gesellschaft, 1997, S. 30.
[24] Vgl. Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, 1972, S. 25−31.
[25] Unterscheidung nach: Schmidt, Manfred G.: Anarchismus, in: Wörterbuch zur Politik, 2. Auflage, Stuttgart 2004, S. 26.
[26] Anregungen dazu gibt die Gegenüberstellung der in dieser Arbeit dargelegten Ausführungen zum Linkslibertarianismus mit dem Kapitel Die Tradition des Staatssozialismus in Rolf Cantzens Buch Weniger Staat − Mehr Gesellschaft.
[27] Narveson, Jan: Libertarianismus, S. 5.
[28] Rothbard, Murray N.: Eine neue Freiheit, 1999.
[29] Vgl. Ebd., S. 8; Hoppe, Hans-Hermann: Demokratie. Der Gott, der keiner ist, Leipzig 2003, S. 14; Foldvary, Fred E.: Rothbard, Murray N., in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, 2000, S. 285.
[30] Vgl. Hug, Heinz: Peter Kropotkin. Bibliographie, Grafenau 1994, S. 10−12.
[31] Vgl. Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, 1972, S. 25.
[32] In dem Wörterbuch von Manfred G. Schmidt werden die minarchistischen Ansichten Robert Nozicks im Artikel Liberalismus mit angeführt. Das Lexikon der politischen Theorien behandelt minarchistische Autoren wie Friedrich von Hayek oder David Friedman ebenfalls unter dem Stichwort Liberalismus bzw. bezeichnet es sie als Neoliberalisten. Anarcho-kapitalistische Denker tauchen dagegen weder im Zusammenhang mit Liberalismus noch Anarchismus auf. Vgl. Schmidt, Manfred G.: Liberalismus, in: Wörterbuch zur Politik, 2004, S. 416−417; Peter, Lösche: Anarchismus, in: Lexikon der Politik, 1995, S. 17−23; Schiller, Theo: Liberalismus, in: Lexikon der Politik, 1995, S. 298−305.
[33] Das ist zumindest der Fall, sofern die Anzahl der Einträge in wirtschaftlichen Datenbanken zugrunde gelegt wird.
[34] Vgl. Foldvary, Fred E.: Rothbard, Murray N., in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, 2000, S. 285.
[35] Rothbard, Murray N.: Die Ethik der Freiheit, Sankt Augustin 1999.
[36] Lexikon der Politik. Band 1. Politische Theorien, München 1995.
[37] Wörterbuch zur Politik, 2. Auflage, Stuttgart 2004.
[38] Kropotkin, Petr: Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, München 1973.
[39] Kropotkin, Peter: Worte eines Rebellen, Reinbek bei Hamburg 1972.
[40] Ders.: Landwirtschaft Industrie und Handwerk, Berlin 1976.
[41] Ders.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Berlin 1976.
[42] Hug, Heinz: Peter Kropotkin. Bibliographie, Grafenau 1994.
[43] Vgl. Rothbard, Murray N.: Die Ethik der Freiheit, 1999, S. 21−25.
[44] Vgl. Ebd., S. 28−37.
[45] Vgl. Foldvary, Fred E.: Individualismus, in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, 2000, S. 169−170; Ders.: Österreichische Grenznutzenschule, in: Das Lexikon der freien Marktwirtschaft, 2000, S. 253−254.
[46] Wie alle Vertreter des Libertarianismus versteht sich auch Murray N. Rothbard als Erbe des klassischen Liberalismus. Dabei beruft er sich namentlich auf Adam Smith, John Locke, Thomas Gordan, John Trenchard, Thomas Jefferson und die Leveller. Demgegenüber übt er an den Utilitaristen des klassischen Liberalismus wie John Stuart Mill oder Jeremy Bentham heftige Kritik. Vgl. Rothbard, Murray N.: Eine neue Freiheit, 1999, S. 14−33.
[47] Es besagt, dass der Mensch entweder mit dem kleinsten Aufwand einen gewissen Nutzen oder mit einem bestimmten Aufwand den größtmöglichen Nutzen zu erreichen sucht. Vgl. Hanusch, Horst u. a.: Volkswirtschaftslehre 1. Grundlegende Mikro- und Makroökonomik, 5. Auflage, Berlin 2000, S. 10−11.
[48] Vgl. Rothbard, Murray N.: Eine neue Freiheit, 1999, S. 38; Cantzen, Rolf: Weniger Staat − Mehr Gesellschaft, 1997, S. 17.
[49] Vgl. Rothbard, Murray N.: Eine neue Freiheit, 1999, S. 37−46.
[50] Vgl. Ders.: Die Ethik der Freiheit, 1999, S. 61.
[51] Vgl. Rothbard, Murray N.: Die Ethik der Freiheit, 1999, S. 51.
[52] Vgl. Ders.: Eine neue Freiheit, 1999, S. 50−51.
[53] Vgl. Ebd., S. 45−49.
[54] Vgl. Ebd., S. 33.
[55] Ebd., S. 51.
[56] Vgl. Ders.: Die Ethik der Freiheit, 1999, S. 254.
[57] Vgl. Kropotkin, Peter: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Berlin 1976, S. 17.
[58] Vgl. Ebd., S. 22−24.
- Arbeit zitieren
- Uwe Vogel (Autor:in), 2006, Das Verhältnis von Libertarianismus zu Anarchismus: Ein Vergleich der Gesellschaftstheorien des Anarcho-Kapitalisten Murray N. Rothbard und des Anarchisten Peter A. Kropotkin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77616
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