Der ‚Kampf der Kulturen’ stellt den Versuch dar, ein neues Paradigma der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu formulieren, das für Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen von Nutzen sein soll, um Entwicklungen im internationalen System zu verstehen bzw. aktiv zu beeinflußen. Die zentrale These von Huntington lautet, daß das multipolare Zeitalter der Zivilisationen das bipolare Zeitalter der Ideologie ablöst. Konflikte werden in erster Linie nicht mehr ideologischer oder wirtschaftlicher, sondern kultureller Natur sein, wobei die Hauptkämpfe zwischen Nationen und Volksgruppen unterschiedlicher Zivilisationen ausgetragen werden. Huntington nimmt an, daß der Kampf der Kulturen bereits stattfindet, und daß seine Intensität in der Zukunft zunehmen wird. Vor diesem Hintergrund soll meine Fragestellung lauten:
Wie lauten die Hauptthesen vom ‚Kampf der Kulturen’? Ist der von Huntington postulierte immanente Zusammenhang zwischen Kultur und Konflikt empirisch belegbar, und was sind die teilweise impliziten Annahmen, die seiner Theorie zugrunde liegen?
Der Gang der Untersuchung erfolgt in drei Schritten. Zunächst stelle ich die zentralen Aussagen des ‚Kampf der Kulturen’ dar. Daraufhin wird der Zusammenhang zwischen Kultur und Konflikt analysiert. Abschließend versuche ich, zentrale Annahmen von Huntingtons Theorie kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die Fragen, die ich in den verschiedenen Kapiteln und Unterkapiteln stelle, lauten im einzelnen:
Kapitel 2: Welche Thesen stellt Huntington auf? Was ist eine Zivilisation und welche Kräfte werden die Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs bestimmen? Und wieso soll es zu gerade in der heutigen Welt zu Konflikten zwischen den Weltzivilisationen kommen?
Kapitel 3 untersucht den von Huntington postulierten Zusammenhang zwischen Zivilisationszugehörigkeit und bewaffneten Konflikten. Sind Konflikte zwischen Staaten und Volksgruppen unterschiedlicher Kulturkreise wirklich häufiger als innerhalb von Zivilisationen? Dabei soll besonderes Augenmerk auf den Islam als die klassische ‚Herausfordererkultur’ des Westens gerichtet sein.
In Kapitel 4 soll versucht werden, vier zentrale Annahmen von Huntingtons Theorie zu untersuchen und zu hinterfragen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zeitlicher Hintergrund
1.2 Fragestellung
1.3 Gang der Untersuchung
1.4 Eingrenzung des Themas
2. Huntingtons Theorie
2.1 Das Zeitalter der Zivilisationen
2.2 Was ist eine Zivilisation?
2.3 Konfliktursachen
2.4 Bruchlinienkonflikte und Kernstaaten
2.5 Der Westen zwischen Dominanz und Niedergang
3. Empirische Studien
3.1 Untersuchungszeitraum
3.2 Internationale Konflikte
3.3 Der Islam als ‚Herausfordererkultur’
3.3.1 Effekt der Demokratie
3.3.2 Moslemisch-westliche Konflikte
4. Kritik der Annahmen
4.1 Die Langzeitgültigkeit des Kulturkampfs
4.2 Huntingtons ‚Kulturrealismus’
4.2.1 Konkurrierende Paradigmen
4.2.2 Der Realismus
4.2.3 Kultur und Realismus
4.2.4 ‚Zivilisationismus’ und Nationalismus
4.3 Der leere Konfliktbegriff
4.4 Der statische Zivilisationsbegriff
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Die alte Weltordnung
Abb. 2: Die neue Weltordnung
Abb. 3: „The Global Politics of Civilizations: Emerging Alignments“
Abb. 4: Die innereuropäische Kulturscheide
Abb. 5: „The Structure of a Complex Fault Line War“
Abb. 6: „The West versus the Rest: The beleaguered Westerner”
1. Einleitung
1.1 Zeitlicher Hintergrund
Im Sommer 1993 veröffentlichte der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in der Fachzeitschrift Foreign Affairs einen Artikel mit dem Titel ‚The Clash of Civilizations?’,[1] der nach Auskunft der Herausgeber des Magazins mehr Reaktionen ausgelöst und Diskussionen entfacht hat als jeder andere Beitrag seit den 1940er Jahren.[2] Huntingtons Thesen hatten zweifelsohne einen Nerv getroffen, was nicht zuletzt auch am Zeitpunkt ihres Erscheinens lag. Zwei Jahre zuvor hatte die Auflösung der Sowjetunion das endgültige Ende des Supermachtkonflikts markiert, der seit vierzig Jahren die Weltpolitik beherrscht hatte. Der plötzliche Wegfall gewohnter Orientierungspunkte sorgte in Politik und Wissenschaft für Orientierungslosigkeit, wie es in den internationalen Beziehungen in Zukunft weitergehen sollte. Gleichzeitig hatte die Verlagerung der globalen Aufmerksamkeit von Osteuropa in den Nahen Osten im zweiten Golfkrieg (1990/91), wo eine überwiegend christlich-westliche Koalition unter der Führung der USA gegen einen moslemischen Staat kämpfte, der sich großer Unterstützung der arabischen Massen erfreute, eine neue Perspektive angedeutet. In dieser Situation erschien Huntingtons These vom ‚Kampf der Kulturen’, der eine neue Weltordnung schaffen und dominieren werde, wie etwas, das bereits viele Beobachter gedacht, gefürchtet oder intuitiv gespürt hatten. Rückblickend betrachtet ist Huntingtons Theorie die erste, die in umfassender und systematischer Weise versucht, den Gang der Geschichte nach dem Ende des Kalten Krieges zu deuten.[3] 1996 veröffentlichte der US-Amerikaner sein Buch ‚The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order’, in dem er seine Thesen weiter ausführte, die er im Artikel oft nur kurz, aber griffig präsentiert hatte, wobei bezeichnenderweise nun das Fragezeichen aus dem Titel verschwunden war. Huntingtons Kulturkampfthesen sind durch das derzeitige politische Weltklima vor dem Hintergrund der Ereignisse vom 11. September 2001 und des laufenden dritten Irak-Kriegs (seit 2003) noch stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt – wobei die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern seiner Thesen eher tiefer geworden ist, wie der Karikaturen-Streit und die Debatte über das Mohammed-Zitat des Papsts deutlich demonstriert haben.
1.2 Fragestellung
Der ‚Kampf der Kulturen’ stellt den Versuch dar, ein neues Paradigma der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu formulieren, das für Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen von Nutzen sein soll, um Entwicklungen im internationalen System zu verstehen bzw. aktiv zu beeinflußen.[4] Die zentrale These von Huntington lautet, daß das multipolare Zeitalter der Zivilisationen das bipolare Zeitalter der Ideologie ablöst. Konflikte werden in erster Linie nicht mehr ideologischer oder wirtschaftlicher, sondern kultureller Natur sein, wobei die Hauptkämpfe zwischen Nationen und Volksgruppen unterschiedlicher Zivilisationen ausgetragen werden. Huntington nimmt an, daß der Kampf der Kulturen bereits stattfindet, und daß seine Intensität in der Zukunft zunehmen wird. Vor diesem Hintergrund soll meine Fragestellung lauten:
Wie lauten die Hauptthesen vom ‚Kampf der Kulturen’? Ist der von Huntington postulierte immanente Zusammenhang zwischen Kultur und Konflikt empirisch belegbar, und was sind die teilweise impliziten Annahmen, die seiner Theorie zugrunde liegen?
1.3 Gang der Untersuchung
Der Gang der Untersuchung erfolgt in drei Schritten. Zunächst stelle ich die zentralen Aussagen des ‚Kampf der Kulturen’ dar. Daraufhin wird der Zusammenhang zwischen Kultur und Konflikt analysiert. Abschließend versuche ich, zentrale Annahmen von Huntingtons Theorie kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die Fragen, die ich in den verschiedenen Kapiteln und Unterkapiteln stelle, lauten im einzelnen:
Kapitel 2: Welche Thesen stellt Huntington auf? Was ist eine Zivilisation und welche Kräfte werden die Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs bestimmen? Und wieso soll es zu gerade in der heutigen Welt zu Konflikten zwischen den Weltzivilisationen kommen?
Kapitel 3 untersucht den von Huntington postulierten Zusammenhang zwischen Zivilisationszugehörigkeit und bewaffneten Konflikten. Sind Konflikte zwischen Staaten und Volksgruppen unterschiedlicher Kulturkreise wirklich häufiger als innerhalb von Zivilisationen? Dabei soll besonderes Augenmerk auf den Islam als die klassische ‚Herausfordererkultur’ des Westens gerichtet sein.
In Kapitel 4 soll versucht werden, vier zentrale Annahmen von Huntingtons Theorie zu untersuchen und zu hinterfragen. Diese Annahmen werden von Huntington teilweise ausdrücklich genannt, wie einige Thesen des politischen Realismus, sind aber überwiegend verdeckter Natur, d.h. sind ‚zwischen den Zeilen zu finden’. Zunächst erläutere ich, wieso die These vom Kampf der Kulturen in Wirklichkeit Langzeitgültigkeit beansprucht. Dann untersuche ich, welchen Einfluß der Realismus auf das Zivilisationsparadigma ausübt, und wie Huntingtons Gedankengebäude als eine Mischung aus realistischen und eigenen, kulturellen Thesen aufgefaßt werden kann. Abschließend gehe ich der Frage nach, wieso Huntingtons Konfliktbegriff leer und sein Zivilisationskonzept statisch wirken.
1.4 Eingrenzung des Themas
Diese Arbeit versteht sich als Versuch, zentrale Annahmen in Huntingtons Theorie- und Gedankengebäude kritisch zu beleuchten und zu hinterfragen. Sie ist daher in erster Linie eine Arbeit der politischen Theorie. Gleichzeitig soll Huntingtons Einladung angenommen werden, seine Thesen auf den Prüfstand zu stellen, zu welchem Zweck ich verschiedene empirische Studien analysiere. Huntingtons Theorie kennt genau genommen zwei Ebenen des Kulturkampfs: Zum einen Konflikte im internationalen System und zum anderen interne Auseinandersetzungen in den offenen Gesellschaften des Westens zwischen autochthoner und kulturfremder Bevölkerung bzw. zwischen Anhängern und Gegnern des ‚Multi-Kulturalismus’. Dieser innere, „real clash“[5] soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, die sich vielmehr auf den Bereich der Internationalen Beziehungen konzentrieren wird.
2. Huntingtons Theorie
Im folgenden sollen die wichtigsten Thesen von Huntingtons ‚Kampf der Kulturen’ vorgestellt werden.
2.1 Das Zeitalter der Zivilisationen
Samuel Huntington faßt die Hauptthese des ‚Clash of Civilizations’ eingangs seines Artikels in der Foreign Affairs von 1993 folgendermaßen zusammen:
It is my hypothesis that the fundamental source of conflict in this new world will not be primarily ideological or primarily economic. The great divisions among humankind and the dominating source of conflict will be cultural. Nation states will remain the most powerful actors in world affairs, but the principal conflicts of global politics will occur between nations and groups of different civilizations. The clash of civilizations will dominate global politics. The fault lines of civilizations will be the battle lines of the future.[6]
Huntington sieht den Kampf der Kulturen in der Nachfolge älterer Antagonismen der internationalen Beziehungen:
1) Zeitalter des Absolutismus (1648-1789): Fürst vs. Fürst
2) Zeitalter des Nationalismus (1789-1917): Nationalstaat vs. Nationalstaat
3) Zeitalter der Ideologie (1917-1989): Ideologie vs. Ideologie (siehe Anhang: Abb. 1)
4) Zeitalter der Zivilisationen (1989- ): Zivilisation vs. Zivilisation[7] (siehe Anhang: Abb. 2)
Die ersten drei historischen Phasen bezeichnet der Harvard-Professor angesichts der globalen Hegemonie der Europäer und Amerikaner als „Bürgerkriege des Westens“.[8] Mit dem Ende des Supermachtkonflikts hätten die anderen Zivilisationen sich aber auf der Weltbühne zurückgemeldet und seien zunehmend bereit, eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu übernehmen:
With the end of the Cold War, international politics moves out of its Western phase, and its centerpiece becomes the interaction between the West and non-Western civilizations and among non-Western civilizations. In the politics of civilizations, the peoples and governments of non-Western civilizations no longer remain the objects of history as targets of Western colonialism but join the West as movers and shapers of history.[9]
2.2 Was ist eine Zivilisation?
Huntington definiert den Begriff der Zivilisation wie folgt:
A civilization is a cultural entity…A civilization is the highest cultural grouping of people and the broadest level of cultural identity people have short of that which distinguishes humans from other species. It is defined both by common objective elements, such as language, history, religion, customs, institutions, and by the subjective self-identification of people.[10]
Zivilisationen seien „the biggest ‘we’ within which we feel culturally at home as distinguished from all the other ‘thems’ out there”[11] und stünden an der Spitze einer abgestuften Hierarchie von Identitäten.[12] Zivilisationen seien nicht nur die größten kulturellen Einheiten der Menschheit, sondern auch die mit der längsten Lebensdauer:
…[C]ivilizations are mortal but also very long-lived; they evolve, adapt, and are the most enduring of human associations, ‚realities of the extreme longue duree.’ Their ‘unique and particular essence’ is ‘their long historical continuity. Civilization is in fact the longest story of all.’[13]
Andererseits liessen sich Zivilisationen nicht trennscharf voneinander abgrenzen, was ihnen aber nichts von ihrer Faktizität nehme:
Civilizations have no clear-cut boundaries and no precise beginnings and endings. People can and do redefine their identities and, as a result, the composition and shapes of civilizations change over time…Civilizations are nonetheless meaningful entities, and while the lines between them are seldom sharp, they are real.[14]
Insbesondere der Glaube spielt für Huntington eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Zivilisationszugehörigkeit, da „the major civilizations in human history have been closely identified with the world's great religions“.[15] Es gelte, daß „even more than ethnicity, religion discriminates sharply and exclusively among people”.[16] So könne man zwar gleichzeitig Halb-Franzose und Halb-Araber sein, aber kaum Halb-Katholik und Halb-Moslem.[17] Deshalb sei Religion „possibly the most profound difference that can exist between people“, so daß kriegerische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Zivilisationen „are greatly enhanced by beliefs in different gods“.[18] Dies gelte besonders für Grenzkonflikte zwischen verschiedenen Zivilisationen, den sogenannten Bruchlinienkonflikten: „Since religion…is the principal defining characteristic of civilizations, fault line wars are almost always between peoples of different religions.“[19]
2.3 Konfliktursachen
Huntington identifiziert in seiner Zivilisationstheorie sieben bis acht große Kulturkreise:
Civilization identity will be increasingly important in the future, and the world will be shaped in large measure by the interactions among seven or eight major civilizations. These include Western, Confucian, Japanese, Islamic, Hindu, Slavic-Orthodox, Latin American and possibly African civilization. The most important conflicts of the future will occur along the cultural fault lines separating these civilizations from one another.[20]
Ein Diagramm der Beziehungen zwischen den Kulturgroßräumen - wohlgemerkt in Kategorien des Konflikts und nicht der Zusammenarbeit ausgedrückt – findet sich in seinem Buch:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3. „The Global Politics of Civilizations: Emerging Alignments“
Stärkere Linien bedeuten konfliktreichere Beziehungen.
Quelle: Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London 1996, S. 245
Da diese Zivilisationen auf eine lange, teilweise sehr lange Geschichte zurückblicken können, ist sich Huntington bewußt, daß er erklären muß, warum es gerade in unserer Zeit zu einem Zusammenstoß kommen soll. Er gibt dafür mehrere Gründe an:[21]
1) Die Existenz von grundsätzlichen kulturellen und weltanschaulichen Unterschieden:
Civilizations are differentiated from each other by history, language, culture, tradition and, most important, religion. The people of different civilizations have different views on the relations between God and man, the individual and the group, citizen and the state, parents and children, husband and wife, as well as differing views of the relative importance of rights and responsibilities, liberty and authority, equality and hierarchy. These differences are the product of centuries. They will not soon disappear. They are far more fundamental than differences among political ideologies and political regimes.
2) Das Bewußtsein dieser Unterschiede, das durch die Vergrößerung der interkulturellen Kontaktfläche in einer sich globalisierenden Welt noch verstärkt werde:
…[T]he world is becoming a smaller place. The interactions between peoples of different civilizations are increasing; these increasing interactions intensify civilization consciousness and awareness of differences between civilizations and commonalities within civilizations.
3) Die Abnahme traditioneller Bindungen, namentlich zum Nationalstaat, von dem Loyalitäten insbesondere zu den wiedererstarkten Weltreligionen transferiert würden, die eine transnationale, überregionale Identitätsbildung förderten.
4) Die Reaktion auf den Westen, dessen globale Vorherrschaft nicht mehr unwidersprochen hingenommen werde: „A West at the peak of its power confronts non-Wests that increasingly have the desire, the will and the resources to shape the world in non-Western ways.“
5) Die Intransigenz kultureller Werte, die nicht beliebig verhandelbar seien, und so die individuelle Entscheidungsfreiheit einschränken würden:
…[C]ultural characteristics and differences are less mutable and hence less easily compromised and resolved than political and economic ones…In class and ideological conflicts, the key question was “Which side are you on?” and people could and did choose sides and change sides. In conflicts between civilizations, the question is “What are you?” That is a given that cannot be changed.
6) Die Entstehung wirtschaftlicher Großräume, bei denen eine gemeinsame kulturelle Basis den Handel untereinander fördere, der wiederum das Gemeinschaftsgefühl der Großgruppe stärke. Als Beispiele nennt Huntington die Europäische Union, die nordamerikanische NAFTA (USA, Kanada und Mexiko) und das informelle Geschäfts- und Handelsnetz, das Festlands- und Auslandschinesen gemeinsam in Ost- und Südostasien gebildet haben.
2.4 Bruchlinienkonflikte und Kernstaaten
Eine zentrale These von Huntingtons Kampf der Kulturen besagt, daß kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten oder Volksgruppen verschiedener Zivilisationen wahrscheinlicher und stärker sind als zwischen Staaten oder Volksgruppen gleicher Zivilisation,[22] daß also die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen in der politischen Interaktion konfliktverschärfend wirken kann. Huntington unterscheidet zwei Hauptkampfarenen:
The clash of civilizations thus occurs at two levels. At the microlevel, adjacent groups along the fault lines between civilizations struggle, often violently, over the control of territory and each other. At the macro-level, states from different civilizations compete for relative military and economic power, struggle over the control of international institutions and third parties, and competitively promote their particular political and religious values.[23]
Dabei könnten die kulturellen Bruchlinienkonflikte („fault lines conflicts“) sich je nach ethnischer Verteilung entlang internationaler Grenzen oder quer durch Staaten hindurchziehen.[24] In ersteren Fall spricht man konventionell von zwischenstaatlichen Kriegen und in letzteren von Bürgerkriegen oder im speziellen Fall eines völkisch motivierten Kampfes seit einiger Zeit von ‚ethnischen Konflikten’.
Während Bruchlinienkonflikte lokal auf die Gebiete begrenzt wären, in denen Zivilisationen direkt aneinander angrenzten, würden die sogenannten Kernstaaten („core states“) auf der großen Bühne der Weltpolitik miteinander um Macht und Einfluß ringen.[25] Kernstaaten seien solche Länder, die aufgrund ihres Eigengewichts zur natürlichen Führerschaft in ihrem Kulturkreis berufen seien. Ihre Aufgabe sei dualer Natur, nämlich zum einen für Ordnung und Stabilität innerhalb ihrer Zivilisation zu sorgen und zum anderen die Interessen ihres Kulturblocks gegenüber konkurrierenden Kulturkreisen zu verteidigen:
The avoidance of global wars of civilizations requires that core states take responsibility for maintaining order within their civllization; refrain, except in most unusual circumstances, from intervening militarily in conflicts in other civilizations; and jointly attempt to prevent and mediate local fault-line wars between groups from their respective civilizations.[26]
Eine Weltordnung, die auf Zivilisationssphären und dem Kernstaatenprinzip aufbaue, sei die einzige Alternative zur internationalen Anarchie, da es das Bewußtsein gemeinsamer Kultur sei, das im Kulturverband Legitimität und Autorität schaffe, ähnlich wie es die gemeinsame Abstammung im Familienverband tue. In den Worten Huntingtons:
The world will be ordered on the basis of civilizations or not at all. In this world the core states of civilizations are sources of order within civilizations and, through negotiations with other core states, between civilizations. A world in which core states play a leading or dominating role is a sphere-of-influence world. But it is also a world in which the exercise of influence by the core state is tempered and moderated by the common culture it shares with member states of its civilization…A core state can perform its ordering function because member states perceive it as cultural kin. A civilization is an extended family and, like older members of a family, core states provide their relatives with both support and discipline…[but] when civilizations lack core states the problems of creating order within civilizations or negotiating order between civilizations become more difficult.[27]
Dabei verfüge von den Zivilisationen, deren Existenz Huntington als sicher einstuft,[28] nur der islamische Kulturraum über keine natürliche Ordnungsmacht,[29] wohingegen es in den anderen Weltzivilisationen jeweils dominante Kernstaaten gebe (USA, China, Japan, Indien, Rußland).[30] Entsprechend groß sei die Instabilität der Region: „The absence of an Islamic core state is a major contributor to the pervasive internal and external conflicts which characterize Islam.”[31] Dies gelte auch für den Bosnien-Konflikt, bei dem sich das Fehlen einer Schutzmacht der moslemischen Bosnier negativ auf die Konfliktlösung ausgewirkt habe.[32]
Gibt es Hoffnung, daß die politischen Beziehungen zwischen den Zivilisationsräumen sich harmonisch gestalten können? Huntington stellt ernüchternd fest, daß es zwar zu taktischen Bündnissen kommen könnte, aber langfristige, strategische Partnerschaften ausgeschlossen seien:
In the emerging world, states and groups from two different civilizations may form limited, ad hoc, tactical connections and coalitions to advance their interests against entities from a third civilization or for other shared purposes. Relations between groups from different civilizations however will be almost never close, usually cool, and often hostile…Hopes for close intercivilizational ‘partnerships’…will not be realized.[33]
Ganz anders hingegen die Beziehungen innerhalb der Kulturblöcke, die im Fall von zivilisationsübergreifenden Konflikten geradezu den Charakter von politischen Blutsbrüderschaften annehmen könnten:
[...]
[1] Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations? in: Foreign Affairs, Bd. 72, Nr. 3 (1993a), S. 22-49
[2] Vgl. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London 1996a, S. 13
[3] Fukuyamas These vom ‘Ende der Geschichte’, die 1989 als Artikel und 1992 in Buchform erschienen ist, und die den end-gültigen Triumph der liberalen Demokratien marktwirtschaftlicher Prägung über alle anderen Gesellschaftsmodelle propagiert, wird eigentlich nur noch im Rahmen von Einleitungen wie dieser zitiert, um gleich darauf widersprochen zu werden.
[4] Vgl. Huntington, Samuel P., 1996a, S. 13
[5] Huntington, Samuel P., 1996a, S. 307
[6] Huntington, Samuel P., 1993a, S. 22
[7] Vgl. ebd., S. 22f. Die entscheidenden Ereignisse, die laut Huntington einen Epochenwechsel einleiteten, waren der Westfälische Friede (1648), die Französische Revolution (1789), die Russische Revolution (1917) und die Beendigung des Kalten Kriegs im ‚annus mirabilis’ 1989.
[8] Es ist interessant, daß Huntington die vergangenen Geschichtsperioden bereits durch das Prisma seiner Zivilisationstheorie beurteilt, für die er genau genommen nur einen Anspruch auf Gültigkeit für die Gegenwart und Zukunft erhebt. Zu seiner Inkonsistenz bei der Definition des Geltungsbereich seiner Theorie, siehe. Zudem sieht Huntington großzügig darüber hinweg, daß nach seinem eigenen Zivilisationsschema die Sowjetunion und der Ostblock eigentlich nicht dem Westen, sondern ganz überwiegend dem orthodoxen Kulturkreis zugerechnet werden müßten, womit der Kalte Krieg bereits Züge eines Zivilisationskriegs hätte (Siehe). Man sollte derlei Widersprüchlichkeiten allerdings nicht überbewerten, denn Huntington läßt sich getrost zu den Autoren der Zunft zählen, die bereit sind, für die Eingängigkeit und Griffigkeit ihrer Aussagen einen gewissen Abschlag bei der Genauigkeit in Kauf zu nehmen, solange es der Gesamtdarstellung ihrer Thesen keinen Abbruch tut. Walt dazu treffend: „Huntington has always been an adroit conceptualizer, and his knack for subsuming diverse phenomena into simple and memorable frameworks is evident throughout the book. He is also a master of the scholarly sound bite…“ (Walt, Stephen M.: Building up New Bogeymen, in: Foreign Policy, Nr. 106 (Frühling 1997), S. 178)
[9] Huntington, Samuel P., 1993a, S. 23
[10] Huntington, Samuel P., 1993a, S. 24
[11] Ders., 1996a, S. 43
[12] Huntington zitiert hierzu das bekannte Beispiel von Donald Horowitz für die Milieuabhängigkeit von kultureller Identität: „An Ibo may be…an Owerri Ibo or an Onitsha Ibo in what was the Eastern region of Nigeria. In Lagos, he is simply an Ibo. In London, he is a Nigerian. In New York, he is an African.” (ders., 1993a, S. 26)
[13] Fernand Braudel: History of Civilizations, New York 1994, S. 35 und Fernand Braudel: On History, Chicago 1980, S. 209f., zitiert in: Huntington, Samuel P., 1996a, S. 43
[14] Ebd.
[15] Huntington, Samuel P., 1996a, S. 42
[16] Huntington, Samuel P., 1993a, S. 27
[17] Ebd.
[18] Huntington, Samuel P., 1996a, S. 254
[19] Ebd., S. 253
[20] Huntington, Samuel P., 1993a, S. 25; vgl. Huntington, Samuel P., 1996a, S. 45-47
[21] Vgl. Huntington, Samuel P., 1993a, S. 25-29
[22] Vgl. Henderson, Errol A. / Tucker, Richard: Clear and Present Strangers: The Clash of Civilizations and International Conflict, in: International Studies Quarterly, Bd. 45, Nr. 2 (Juni 2001), S. 318. Huntington selbst drückt den Zusammenhang zwischen Kultur und Krieg – der die Essenz seiner These vom Kulturkampf wiedergibt – zwar an keiner Stelle derart direkt und explizit aus, aber man kann ihn anhand einiger verstreuter Zitate hinreichend belegen: So schreibt Huntington, daß „common membership in a civilization reduces the probability of violence in situations where it might otherwise occur“, und daß Konflikte innerhalb von Zivilisationen „are likely to be less intense…than conflicts between civilizations“ (Huntington, Samuel P., 1993a, S. 38). Andererseits „when states from different civilizations are involved…cultural differences sharpen the conflict” (ders., 1996a, S. 208).
[23] Ders., 1993a, S. 29
[24] Ich verwende die Begriffe „Kultur“ und „kulturell“ – Huntington folgend – synonym mit „Zivilisation“ und „zivilisations-“, wenn der Kontext eindeutig erkennen läßt, daß diese Bedeutung gemeint ist. Von dieser Bedeutung von „Kultur“ im Sinn von „Zivilisation“ sind wohlgemerkt die zahlreichen anderen kulturellen Identitäten zu unterscheiden, die nach Huntington unterhalb der Zivilisation als höchster und allgemeinster kultureller Einheit ebenfalls existieren, also Dorfgemeinschaft, Nationalstaat, usw. (vgl. ebd., S. 23f.)
[25] Vgl. Huntington, Samuel P., 1996a, S. 155-179
[26] Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations – A Response, in: Millennium, Bd. 26, Nr. 1 (1997), S. 141-142
[27] Huntington, Samuel P., 1996a, S. 156
[28] Die Existenz einer afrikanischen Zivilisation bezeichnet Huntington sowohl im Artikel als auch im Buch als Möglichkeit. Im Fall Lateinamerikas schwankt er zwischen einem Status als eigenständiger Zivilisation, als „separate civilization closely affiliated with the West and divided as to whether it belongs in the West“ oder als „subcivilization“ des Westens (vgl. ders., 1993a, S. 25; ders., 1996a, S. 46f.).
[29] Huntington diskutiert die Vor- und Nachteile von Indonesien, Ägypten, Iran, Pakistan, Saudi Arabien und der Türkei als islamische Ordnungsmacht (vgl. ebd., S. 177f.).
[30] Vgl. ders., 1996a, S. 155-179
[31] Ebd., S. 177
[32] Vgl. ebd., S. 156
[33] Huntington, Samuel P., 1996a, S. 207
- Arbeit zitieren
- Holger Michiels (Autor:in), 2007, 'Der Kampf der Kulturen' von Samuel Huntington, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77043
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