„ […] Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doppelt beglückt.
Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. […]“
Der Mensch muss Formen und Körper selbst erfahren indem er sie ertastet, um über sie sprechen zu können. Durch diese selbstertastenden Erfahrungen gewinnt er Erkenntnisse, bildet sich Urteile über die Welt und erkennt das Schöne. Mit fühlendem Auge sehen- mit diesem Vers wird deutlich, dass sich Goethe in dem Auszug aus seiner fünften der „Römischen Elegien“ auf Johann Gottfried Herder bezieht, denn der Ausspruch des fühlenden Auges kann als eine Art Leitmetapher seiner Ästhetik gesehen werden. Herder gelang es, die in der Geschichte der Philosophie oft vorgenommene Hierarchisierung der Sinne umzukehren. Er wertete den Tastsinn auf, der traditionell für nicht sonderlich wichtig und an letzter Stelle einer „Rangliste“ der Sinne gesehen wurde, es gelang ihm gar, ihn an die oberste Stelle zu setzen und ihm die größte Wichtigkeit für die Erkenntnis zuzuschreiben.
Im Rahmen des Hauptseminars „Hierarchie der Sinne“ des Wintersemesters 2006/2007 betrachtet die vorliegende Arbeit nun genauer die Aufwertung des Tastsinns mit besonderem Bezug auf Herders Erkenntnistheorie. Zu diesem Zwecke wird zunächst ein kurzer geschichtlicher Abriss zeigen, wie sich die Vorrangstellung des Auges in der Sinneshierarchie zugunsten des Tastsinnes verändert hat. Anschließend rückt Herders revolutionäre Theorie in den Mittelpunkt des Interesses, indem zunächst seine Kritik an der optischen Wahrnehmung dargestellt wird und darauf folgend die Erkenntnisleistung des Tastsinns betrachtet werden soll, die Herder in seinem Werk „Plastik“ verdeutlicht. Beendet wird der Gedankengang mit der Frage, ob der Tastsinn wirklich so unfehlbar ist, wobei ein kleiner Exkurs in die Naturwissenschaften unternommen wird.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Bedeutung des Tastsinns im Laufe der Zeit
- Johann Gottfried Herder
- Kritik an der optischen Wahrnehmung
- Die Erkenntnis der Wahrheit durch den Tastsinn in Herders „Plastik“
- Ist der Tastsinn unfehlbar in seiner Wahrnehmung?
- Schlussbetrachtung
- Quellenverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Aufwertung des Tastsinns in der Hierarchie der Sinne, insbesondere im Kontext der Erkenntnistheorie von Johann Gottfried Herder. Sie verfolgt das Ziel, Herders revolutionäre Theorie der Sinneswahrnehmung zu beleuchten und aufzuzeigen, wie er den traditionell gering geschätzten Tastsinn an die Spitze der Sinneshierarchie stellte.
- Historische Entwicklung der Sinneshierarchie
- Herders Kritik an der optischen Wahrnehmung
- Die Erkenntnisleistung des Tastsinns in Herders „Plastik“
- Die Frage nach der Unfehlbarkeit des Tastsinns
- Der Einfluss von Herder auf die spätere Denktradition
Zusammenfassung der Kapitel
- Das einleitende Kapitel legt den Fokus auf die Bedeutung des Tastsinns in Herders Werk und stellt die These auf, dass Herder den Tastsinn als den wichtigsten Sinn für die Erkenntnis betrachtete.
- Das zweite Kapitel beleuchtet die historische Entwicklung der Sinneshierarchie und zeigt, wie das Auge traditionell als der wichtigste Sinn für die Erkenntnis galt, während der Tastsinn eher als ein "niedrigerer" Sinn betrachtet wurde.
- Das dritte Kapitel analysiert Herders Kritik an der optischen Wahrnehmung und zeigt, wie er argumentierte, dass das Auge uns nur eine begrenzte Sicht auf die Welt bietet, während der Tastsinn uns eine tiefere und umfassendere Erkenntnis ermöglicht.
- Das vierte Kapitel untersucht Herders Werk "Plastik" und zeigt, wie er die Erkenntnisleistung des Tastsinns hervorhob und ihn als das Sinnesorgan darstellte, das uns die wahre Natur der Dinge erfasst.
Schlüsselwörter
Die Arbeit behandelt zentrale Themen wie Sinneshierarchie, Tastsinn, optische Wahrnehmung, Johann Gottfried Herder, Erkenntnistheorie, "Plastik", und die Frage nach der Unfehlbarkeit der Sinneswahrnehmung. Sie beleuchtet insbesondere Herders revolutionäre Sichtweise auf die Bedeutung des Tastsinns für die menschliche Erkenntnis.
- Quote paper
- Juliane Kittelmann (Author), 2007, Die Aufwertung des Tastsinns in der Hierarchisierung der Sinne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76472