Gastrotheater. Zur Inszenierung der kulinarischen Aura in TV-Kochformaten


Term Paper, 2007

13 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Benjamins Aurabegriff

3. Die kulinarische Aura

4. Kochen bei Kerner

5. Silent Cooking

6. Schlussbemerkung

7. Literatur

1. Einleitung

„Kochshows sind die neue Pornographie“[1] - in seinem unlängst erschienenen Buch „Kleine Schweinereien“ erklärt der franko-amerikanische Fernsehkoch Anthony Bourdain die enthusiastische Rezeption von Kochformaten mit ungestillten erotischen Sehnsüchten. So verwegen die These klingen mag, führt sie doch auf eine viel versprechende medienästhetische Fährte. Bei der Präsentation von Essen und seiner Zubereitung scheint das Fernsehen über seinen ontologisch begrenzten Status als audiovisuelles Medium hinauszuwachsen und als „synaesthetic submedium“[2] die Gesamtheit der fünf Sinne zu adressieren. Bestimmte Formate unternehmen den Versuch, über die klassische Arbeitsanleitung hinaus eine Art Aura von Speisen zu vermitteln. Anlass zu einer besonders kontrastreichen Überlegung gibt dieses Phänomen, hält man es gegen Walter Benjamins These in seinem wegweisenden Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, die filmische Reproduktion zerstöre gerade die natürliche Aura von Dingen.[3]

Nach einer Einführung von Benjamins eher diffusem Aurabegriff erhofft sich diese Arbeit gewinnbringende Anschaulichkeit, wenn sie der Frage nachgeht, wie weit sich diese Beschreibung auf die Wahrnehmung von Essen und damit verbundene mediale Probleme übertragen lässt. Reizvoll wäre sicher auch eine Reflexion über Kochen als Kunst und eine medienhistorische Analyse der Bestrebungen, kulinarische Erlebnisse zu reproduzieren.

Doch diese Ausführungen sollen nur skizzenhaft erfolgen und zur eigentlichen, theaterwissenschaftlichen Fragestellung hinführen. Denn schließlich legen einige TV-Formate in ihrem performativen Charakter nahe, dass es sich um Inszenierungen handelt, die als medialisierte Performances[4] der Vermittlung von Präsenz ein theatrales Verständnis zugrunde legen. Zwei im deutschen Fernsehen derzeit ausgestrahlte Kochsendungen - „Kochen bei Kerner“ und „Silent Cooking“ - sind daher Gegenstand einer genaueren Untersuchung auf die Frage hin, wie hier auratische Aspekte des Kulinarischen inszeniert werden. Gerade weil die Formate sich in räumlicher, zeitlicher und kommunikativer Konzeption stark unterscheiden, erscheint eine Diskussion darüber interessant, auf welche unterschiedliche Weise sich beide einer medialen Konstruktion der von Benjamin verabschiedeten „Echtheit“[5] verpflichten.

2. Benjamins Aurabegriff

Eine Erscheinung, die aus einer tief verwurzelten mystischen Tradition stammt und daher mannigfaltige Konnotationen mit sich trägt[6], macht Walter Benjamin in seinen Aufsätzen „Kleine Geschichte der Photographie“ (1930) und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936/39) zum philosophischen Begriff. Gleichwohl verwendet er nicht den Aurabegriff, sondern versucht eine Chiffre für „mehrere, mitunter schwer vereinbare Hinsichten auf ein kaum objektivierbares Wahrnehmungsphänomen“[7] zu umreißen. Ausgangspunkt für weitere Überlegungen soll seine raumzeitliche Bestimmungsformel sein, an der er sich ganz im Sinne der Einmaligkeit des Phänomens nicht lange aufhält: „Was ist eigentlich eine Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag.“[8]

Dass für Benjamin nicht nur Kunstwerke eine Aura besitzen, macht seine Veranschaulichung an zwei Naturerscheinungen deutlich: „An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont, oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“[9] Durch die technische Reproduktion, also Fotografie, Tonaufzeichnung und Film, wird das Objekt aus seinem Hier und Jetzt gerissen. Zwar gilt dies auch für Landschaften in einem Film, doch beim Ausfall der Echtheit ist das Kunstwerk am „empfindlichste[n] Kern berührt, den so kein natürlicher hat.“[10] Alle Erscheinungen, derer ein technisch reproduziertes Werk verlustig geht, fasst Benjamin unter dem Begriff der Aura zusammen. Statt dieses Phänomen jedoch weiter zu untersuchen, betrachtet Benjamin die historischen Auswirkungen eines anthropologischen Paradigmenwechsels, wenn die Massen nach einer Überwindung der Einmaligkeit durch Reproduktion trachten. An die Stelle von Unnahbarkeit tritt Indirektheit, die Einmaligkeit geht durch Aufschub und Nachträglichkeit verloren. Das Kunstwerk wird von vorne herein auf seine technische Reproduktion ausgerichtet. Gleichwohl gesteht Benjamin den Massen das mediale Sich-Näherbringen als legitimes Bedürfnis zu und fordert, der Liquidation der Aura eine kathartische Seite abzugewinnen.

3. Die kulinarische Aura

Um Benjamins Überlegungen zur Aura und ihrem Verfall aus dem Kunstwerk-Aufsatz auf Essen und seine mediale Übertragung befriedigend übertragen zu können, müsste man zunächst erörtern, wo eine Speise zwischen „natürlichem Gegenstand“ und „Kunstwerk“ steht. Diese Frage ist jedoch zu umfangreich, um hier erläutert zu werden, daher können hier nur einige Grundzüge zur Sprache kommen. In der Philosophie erfuhren Fragen der Ästhetik von Ernährung seit Platon eine stiefmütterliche Behandlung, denn hier sind statt der „höheren“ Sinne, Sehen und Hören, „körperliche“, also „niedere“ Sinneswahrnehmungen wie Schmecken, Riechen und Tasten beteiligt. Mit dem Aufstieg der haute cuisine und dem Postulat ihres ästhetischen Wertes durch Brillat-Savarin[11] wurde sicherlich bewusst, dass ein differenzierter Geschmackssinn Ergebnis eines langen, etwa dem Erwerb eines musikalischen Gehörs ähnlichen kognitiven Prozesses ist. Jedoch, so bemerkt Korsmeyer richtig, können Bedeutung und Erkenntnis, wie sie Kunstwerke stiften, nicht annähernd durch die körperlich-sinnliche Erfahrung des Essens repräsentiert werden.[12] Sicher übersteigt aber die Wahrnehmung von Nahrung das Sensorische – schließlich ist keine vollständige Wahrnehmung frei von einem Bewusstsein ihres Gegenstandes[13]. Speisen sind nicht sinnfrei, tragen vielmehr mannigfaltige Symbole in sich und verkörpern kulturelle Qualitäten – Ostereier, Geburtstagskuchen und religiöse Rituale transportieren Sinn über bewusste sensorische Wahrnehmung.

Bei einem Vergleich von Benjamins Kunstwerk-Aura mit der sinnlichen Präsenz von Gerichten läuft man also sprichwörtlich Gefahr, den Mund zu voll zu nehmen. Sehr ergiebig scheint dagegen eine Anwendung seiner Begriffspaare „Einmaligkeit“ / „Dauer“ und „Flüchtigkeit“ / „Wiederholbarkeit“[14] auf die Wahrnehmung des „echten“ und des „reproduzierten“ Essens. Im Gegensatz zur Bildenden Kunst richtet die Gastronomie ihre Ergebnisse auf eine besondere Form der Einmaligkeit aus: sie werden zur Vernichtung hergestellt, sind also nicht auf Dauer angelegt. Eine Distanz, die der Betrachter vor einem Kunstwerk zu wahren hat, muss bei einem Gericht ganz drastisch verringert werden, indem der Essende das Objekt seiner Wahrnehmung – mehr oder weniger andächtig – in sich aufnimmt und damit auslöscht. Dennoch kann man einer raffiniert zubereiteten Speise eine gewisse Unnahbarkeit nicht absprechen. Je verlockender sich das Essen präsentiert, desto größere Hemmungen hat der Gast, bevor er das noch unberührte Arrangement auseinandernimmt, um ihm das gesamte rezeptive Potenzial abgewinnen zu können.

[...]


[1] vgl. Bourdain, Anthony: „Kleine Schweinereien“. München: Heyne 2007.

[2] Mak, Monica: „The pixel chef: PBS television cooking shows and sensorial utopias“. In: Etta M. Madden & Martha L.Finch [Hrsg.]: Eating in Eden: Food and American utopias. Lincoln: University of Nebraska Press 2006, S. 258.

[3] vgl. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.In ders.: Medienästhetische Schriften. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 355.

[4] vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 114 ff.

[5] Benjamin 2002, S. 354

[6] bei den Griechen bedeutete „Aura“ soviel wie „Hauch“ oder „Schimmer“, die Kabbala gibt die Definition: „Äther, welcher den Menschen umgibt und in dem seine Taten bis zum Jüngsten Gericht aufbewahrt werden“ vgl. Fürnkäs 2002, S. 120.

[7] vgl. Fürnkäs 2002, S. 121.

[8] Benjamin 2002, S. 309.

[9] ebda.

[10] Benjamin 2002, S. 355.

[11] vgl. Brillat-Savarin, Jean Anthelme: Physiologie des Geschmacks: oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen. Frankfurt: Insel 1979.

[12] vgl. Korsmeyer, Carolyn: „Delightful, Delicious, Disgusting“. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 60, S. 218.

[13] vgl. ebda. Korsmeyer führt als kulinarisches Beispiel bestimmte Sorten von Blauschimmelkäse an, die rein olfaktorisch wahrgenommen reichlich abstoßend sein können. Durch die Identifizierung als Delikatesse lässt sich diese Eigenschaft jedoch relativieren – Essen wird hier interpretiert.

[14] vgl. Benjamin 2002, S. 357.

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Details

Title
Gastrotheater. Zur Inszenierung der kulinarischen Aura in TV-Kochformaten
College
Free University of Berlin
Grade
1,0
Author
Year
2007
Pages
13
Catalog Number
V75814
ISBN (eBook)
9783638770453
ISBN (Book)
9783656760924
File size
448 KB
Language
German
Keywords
Gastrotheater, Inszenierung, Aura, TV-Kochformaten
Quote paper
Peter Troll (Author), 2007, Gastrotheater. Zur Inszenierung der kulinarischen Aura in TV-Kochformaten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75814

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