1 Einleitung
Wenn sich die Literaturwissenschafler in einem über Friedrich Dürrenmatt einig sind, dann wohl darin, dass er sich nicht fassen lässt. "Die Urteile über ihn spiegeln im allgemeinen Unbehagen, Ratlosigkeit, Mißverständnisse wider" (Oberle 10). Nur allzu oft glaubte man ihn schon als Zyniker, Nihilist, Kommunist, Moralist oder Humorist enttarnt zu haben, und Dürrenmatt tut in seinen theoretischen Schriften, Reden und Interviews ein Übriges, die allgemeine Verwirrung mit immer neuen widersprüchlichen Behauptungen zu schüren. Dabei behandelt er in allen seinen Werken dieselben Motive, so unter anderem das Groteske, Absurde und Paradoxe, die Gerechtigkeit, die Moral und die menschliche Hybris. Es mag gut sein, dass die Ratlosigkeit der Fachwelt darauf zurückzuführen ist, dass Dürrenmatt selbst keine feste Position bezieht, sondern vielmehr mit diesen Motiven spielt, sie in verschiedenen Konstellationen gegeneinander antreten lässt und vom Resultat bisweilen selber überrascht sein mag. Auf der anderen Seite herrscht in der Dürrenmatt-Forschung bereits Uneinigkeit, wenn es um die Definition von in diesem Kontext so wichtigen Begriffen wie "absurd", "paradox" und "grotesk" geht.
Wenn sich Dürrenmatt entscheidet, Kriminalromane zu schreiben, dann wählt er damit ein Genre, das nicht minder komplex und verwirrungstiftend ist und mindestens ebensoviele widersprüchliche, ratlose und voreilige Meinungen provoziert hat wie er selbst. Bis heute liegt keine umfassende Gattungstheoretie vor und auch hier herrscht eine terminologische Unordnung: Begriffe wie Kriminalroman, Kriminalerzählung, Detektivroman, Verbrechensdichtung und Thriller werden mal als völlig verschiedene Gattungen, mal als verwandte Subgenres und mal als synonyme Bezeichnungen gebraucht. Wenn Dürrenmatt seinem dritten Kriminalroman, dem Versprechen, dann auch noch den Untertitel "Requiem auf den Kriminalroman" verpasst, drängt sich der Eindruck auf, er tue dies nur, um die germanistische Fachwelt zu verhöhnen.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Vorgehensweise und Intention
1.2 Methodologie
1.3 Entstehungsgeschichte des Versprechens
2 Hintergrund
2.1 Zur Geschichte und Theorie des Kriminalromans
2.1.1 Die Anfänge
2.1.1.1 Prodesse et delectare: Die Pitavalerzählung
2.1.1.2 Der pointierte Kriminalroman
2.1.1.3 Der Kriminalroman in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung
2.1.2 Der moderne Kriminalroman
2.1.2.1 Die Komplexität der Typologie
2.1.2.2 Die amerikanische „hard-boiled school“
2.1.2.3 Der moderne deutschsprachige Kriminalroman
2.1.3 Verfilmungen von Kriminalromanen
3 Das Versprechen
3.1 Der Zufall
3.2 Mittel der Verfremdung
3.2.1 Die Rahmenhandlung
3.2.2 Der „unreliable narrator“
3.3 Das Weltbild
3.4 Der Protagonist
3.4.1 Die Motivation
3.5 Moral
3.6 Rezeption
3.7 Zusammenfassung
4 The Pledge
4.1 Das Weltbild
4.2 Der Protagonist
4.2.1 Die Motivation
4.3 Moral
4.4 Der Zufall
4.5 Ein „Requiem auf den Kriminalfilm“
4.6 Rezeption im deutschsprachigen Raum und den USA
4.7 Zusammenfassung
5 Fazit und Schluss
6 Anhang
6.1 Sequenzanalyse von „The Pledge“
7 Zitierte Werke
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Wenn sich die Literaturwissenschafler in einem über Friedrich Dürrenmatt einig sind, dann wohl darin, dass er sich nicht fassen lässt. „Die Urteile über ihn spiegeln im allgemeinen Unbehagen, Ratlosigkeit, Mißverständnisse wider“ (Oberle 10). Nur allzu oft glaubte man ihn schon als Zyniker, Nihilist, Kommunist, Moralist oder Humorist enttarnt zu haben, und Dürrenmatt tut in seinen theoretischen Schriften, Reden und Interviews ein Übriges, die allgemeine Verwirrung mit immer neuen widersprüchlichen Behauptungen zu schüren. Dabei behandelt er in allen seinen Werken dieselben Motive, so unter anderem das Groteske, Absurde und Paradoxe, die Gerechtigkeit, die Moral und die menschliche Hybris. Es mag gut sein, dass die Ratlosigkeit der Fachwelt darauf zurückzuführen ist, dass Dürrenmatt selbst keine feste Position bezieht, sondern vielmehr mit diesen Motiven spielt, sie in verschiedenen Konstellationen gegeneinander antreten lässt und vom Resultat bisweilen selber überrascht sein mag. Auf der anderen Seite herrscht in der Dürrenmatt-Forschung bereits Uneinigkeit, wenn es um die Definition von in diesem Kontext so wichtigen Begriffen wie „absurd“, „paradox“ und „grotesk“ geht.
Wenn sich Dürrenmatt entscheidet, Kriminalromane zu schreiben, dann wählt er damit ein Genre, das nicht minder komplex und verwirrungstiftend ist und mindestens ebensoviele widersprüchliche, ratlose und voreilige Meinungen provoziert hat wie er selbst. Bis heute liegt keine umfassende Gattungstheoretie vor und auch hier herrscht eine terminologische Unordnung: Begriffe wie Kriminalroman, Kriminalerzählung, Detektivroman, Verbrechensdichtung und Thriller werden mal als völlig verschiedene Gattungen, mal als verwandte Subgenres und mal als synonyme Bezeichnungen gebraucht. Wenn Dürrenmatt seinem dritten Kriminalroman, dem Versprechen, dann auch noch den Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“ verpasst, drängt sich der Eindruck auf, er tue dies nur, um die germanistische Fachwelt zu verhöhnen.
Dieser Eindruck trügt jedoch. Drei Jahre zuvor beklagt sich Dürrenmatt in den Theaterproblemen darüber, dass von den Schriftstellern in der heutigen Zeit zu viel verlangt werde. Die Öffentlichkeit bestehe auf Perfektion und lasse so keinen Raum mehr für künstlerische Freiheit. „So wird ein Klima erzeugt, in welchem sich nur noch Literatur studieren, aber nicht mehr machen läßt“ (68). Wie jedoch soll der Künstler aus diesem Dilemma herausfinden? Dürrenmatts Vorschlag: „[I]ndem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig“ (68). Und genau das beweist Dürrenmatt im Versprechen.
In seinem im Jahre 1972 erschienenen Buch über das erzählerische Werk Friedrich Dürrenmatts bemerkt Peter Spycher zu dessen Reaktion auf den Film Es geschah am hellichten Tag:
[Dürrenmatt] habe gesagt: ‘It’s just that the moment came when the movie and the novel parted ways.’ Und er habe hinzugefügt: ’The funniest part of it is that now an American movie company wants to film The Pledge. Maybe the film will be coming back to Europe from America!’ Dieser amerikanische Film ist offenbar nie gedreht worden. (279-80)
Neunundzwanzig Jahre nachdem diese Zeilen geschrieben wurden, ist dieser Film nun doch gedreht worden. Schauspieler und Regisseur Sean Penn verfilmte Das Versprechen mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Wie der Roman, so ist auch The Pledge ein höchst ungewöhnliches Werk. Es ist die fünfte Verfilmung des Stoffs,[1] doch die erste, die sich am Roman und nicht an Es geschah am hellichten Tag orientiert. Rudolf Strickelmeier schreibt im Jahr 1958 über den ersten Film:
Hätte der Film die Entwicklung des nachher vollendeten Romans genommen, dann wäre ein vielleicht groteskes, ein vielleicht schlecht gehendes, aber ein gewiß außerordentliches Stück entstanden. Doch wer will der helvetischen Produktion solche Lasten zumuten? (595)
The Pledge ist die dritte Regiearbeit Sean Penns, der dem breiten Publikum besser als Schauspieler mit einer Vorliebe für anspruchsvolle Charakterrollen, wie in Dead Man Walking (1995) und I am Sam (2001), bekannt sein dürfte. Für seine beiden ersten Filme, The Indian Runner (1991) und The Crossing Guard (1995), verfasste Penn auch die Drehbücher. Das Drehbuch zu The Pledge stammt hingegen von Jerzy Kromolowski, einem gebürtigen Polen, und seiner amerikanischen Frau Mary Olson-Kromolowski und ist, zumindest auf den ersten Blick, äußerst werktreu. Wie schon bei Dürrenmatt kommt der Genrekritik eine tragende Rolle zu: „The script [. . .] manages to burrow deep down inside the conventions of the murder-mystery genre and unearth the perversity that lurks there” (Hoffman 15B). Wie sich jedoch herausstellen wird, unterscheidet sich The Pledge in seiner Genrekritik grundsätzlich vom Versprechen, was zum Teil eine Folge der Amerikanisierung des Stoffs ist.
1.1 Vorgehensweise und Intention
Es soll gezeigt werden, dass sowohl Das Versprechen als auch The Pledge die Kriminal-Thematik benutzen, um eine weltanschauliche, bzw. soziale Problematik zu transportieren. Durch einen Vergleich der beiden Werke soll gezeigt werden, wie diese Einbettung funktioniert und wie dabei mit dem Genre umgegangen wird. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt auf den Protagonisten und dem Weltbild, da die angesprochene Problematik jeweils aus der Interaktion der Hauptfiguren mit der Umwelt hervorgeht. Wie sich außerdem zeigen wird, haben das Verbrechen und seine Aufklärung in der Geschichte des Genres immer mehr an Bedeutung verloren. Insbesondere seit dem Aufkommen der amerikanischen „hard-boiled school“ (von engl. „hard-boiled“: abgebrüht, hartgesotten) Anfang des 20. Jahrhunderts dient der Kriminalroman verstärkt zur Aufmerksammachung auf gesellschaftliche Missstände, die anhand des Schicksals der Hauptfigur verdeutlicht werden. Die oben genannte Zielsetzung dieser Arbeit ermöglicht also eine gattungsgeschichtliche Einordnung der zu untersuchenden Werke. Hierbei muss erwähnt werden, dass in dieser Arbeit nur auf den westlichen (insbesondere den deutsch- und englischsprachigen) Kriminalroman eingegangen wird.
Es soll gezeigt werden, welche Einflüsse anderer Autoren (z.B. Poe, Doyle, Hammett und Chandler) bei Dürrenmatt erkennbar werden, wie er diese Einflüsse verarbeitet hat und auch, welche Auswirkungen Das Versprechen auf den modernen deutschsprachigen Kriminalroman hat. Die Einbeziehung der amerikanischen Kriminalliteratur in diese Untersuchung ist dabei unabdingbar. So gab es mit der schon erwähnten „hard-boiled school“ bereits den Versuch, das traditionelle Schema der Gattung zu durchbrechen und einen neuen, realistischen Kriminalroman zu schaffen. Es stellt sich also die Frage, wie Dürrenmatts „Requiem auf den Kriminalroman“ in diese Entwicklung, die mit Georges Simenon und Leonardo Sciascia auch in anderen nicht-englischsprachigen Ländern Anhänger fand, hineinpasst.
Die Einbeziehung Amerikas ist auch bei der Analyse von The Pledge notwendig, und dies nicht nur, weil es sich um einen amerikanischen Film handelt. Es ist die Verfilmung eines schweizerischen Romans, und noch dazu knapp 30 Jahre nach dessen Erscheinen. Auch hier stellt sich also die Frage, wie der Film im Kontext des Genres zu sehen ist. Ist The Pledge ein „Requiem auf den Kriminalfilm“? Es wird zu prüfen sein, inwiefern die Erkenntnisse aus der Untersuchung des Versprechens auch hier zutreffen und welche Konsequenzen sich aus der Übertragung der Handlung in eine andere Kultur und Zeit ergeben.
Bei der Analyse sowohl des Buchs als auch des Films spielen die Figur des Detektivs und der Ort der Handlung eine besondere Rolle, da sich an ihnen die verschiedenen Entwicklungsstufen und nationalen Ausprägungen der Gattung am besten untersuchen lassen. So sind die Helden des traditionellen englischen Kriminalromans exzentrische Analytiker, die ihre Verbrechen in isolierten Szenarien (z.B. Landhäuser, Züge, Schiffe) ähnlich wie ein Schachproblem lösen. Die Detektive in den amerikanischen „hard-boiled novels“ hingegen sind „tough guys“, die sich im Großstadtdschungel behaupten müssen. Im neuen deutschen Krimi ist der Detektiv oft ein Polizist, dessen Einsatzgebiet sich auf bestimmte Regionen (z.B. Norddeutschland, Bayern, Ruhrgebiet) erstreckt, weshalb vielfach auch vom „Regionalkrimi“ die Rede ist. Bei anderen modernen Autoren (z.B. Peter Hoeg) sind die Protagonisten mitunter Privatleute, die im Zuge ihrer Ermittlungen die ganze Welt bereisen.
Wichtig bei der Betrachtung des Protagonisten ist vor allem die Motivation, die hinter seinen Ermittlungen steht, sein Gerechtigkeitsverständnis, seine Moral und seine Einstellung zu seiner Umwelt. Des weiteren ist sein Verhältnis zum Leser bzw. Zuschauer von Bedeutung. Hier stellt sich die Frage, ob er als Identifikationsfigur angeboten wird oder nicht und welche Mittel eventuell eingesetzt werden, um Distanz zu erzeugen oder einen Entfremdungsprozess entstehen zu lassen. Im Fall des Buchs kommt dabei erschwerend hinzu, dass die Existenz eines „unreliable narrators“, also eines unverlässlichen Erzählers, in Betracht gezogen und untersucht werden muss.
Diese Untersuchungen sind notwendig, um den Protagonisten mit typischen Detektivfiguren, wie z.B. Auguste Dupin, Sherlock Holmes, Sam Spade und Philip Marlowe, vergleichen zu können. Es wird gezeigt, dass Kommissar Matthäi Eigenschaften der traditionellen wie auch der modernen Detektive in sich vereint und dass diese Vermischung mit ein Grund für sein Scheitern ist.
Der Ort der Handlung, bzw. das in der Erzählung entworfene Weltbild, ist insofern von Bedeutung, als dass sich der Kriminalroman im Zuge seiner Entwicklung--insbesondere durch den Einfluss der „hard-boiled novels“--immer mehr dem Gesellschaftsroman angenähert hat. So ist der Film Es geschah am hellichten Tag, wie bereits erwähnt, als Warnung vor Sexualverbrechen an Kindern gedacht. Aber auch im Roman selbst tritt Dürrenmatts Einstellung zur Mentalität der Eidgenossen an vielen Stellen deutlich zu Tage, und sein Bild von der Schweiz ist voll subtiler Wertungen. Diese Gesellschaftskritik findet sich auch in The Pledge wieder, jedoch aufgrund der Verlegung des Orts der Handlung in völlig anderer Form. Mary Olson-Kromolowski erklärt dazu: „[W]e found a way to Americanize the story, to reset the moral dilemma, the constricted feeling of a tight, rural community“ (Donohue F18). Es wird zu untersuchen sein, wie genau sich das Gesellschaftsbild in The Pledge durch den neuen Handlungsort verändert.
1.2 Methodologie
Wer sich mit der Verfilmung literarischer Werke beschäftigen will, sollte sich immer eines bewusst sein: „Wenn ein Werk aus einem Kunstbereich entnommen und einem anderen zugeführt wird, [. . .] dann wird es den Gestaltungsmöglichkeiten und -prinzipien des einen Bereichs entzogen und denen des anderen Bereichs zugeführt“ (Estermann 369).
Aus diesem Grund lässt sich einzig durch die Anwendung einer synthetisierenden Methode den beiden Kunstformen gerecht werden. Dies ist auch deshalb angebracht, da dem Roman stellenweise deutlich anzumerken ist, dass er aus einem Drehbuch entwickelt wurde: “Yet the character of the original medium [des Films] can be seen behind the text of the novel: There is quite a lot of movement and action, there are clearly shaped scenes charged with dramatic tension” (Tiusanen 168).
Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt auf der Handlung. Wie der Roman wird auch der Film The Pledge in erster Linie im Kontext der Kriminalerzählung analysiert. An einigen Stellen wird allerdings Bezug auf gängige Motive des (amerikanischen) Kriminalfilms genommen, insbesondere dann, wenn The Pledge sie nicht im üblichen Sinne benutzt. Eine vollständige Analyse des Films ist im Rahmen dieser Arbeit nicht erforderlich. Eine Untersuchung der visuellen und auditiven Mittel (Kameraführung, Licht, Geräuscheffekte etc.) wird nur dort vorgenommen, wo diese für die Analyse im Kontext der oben genannten Fragestellung eine Rolle spielen.
Der Roman erzeugt unter anderem durch die Verwendung eines unverlässlichen Erzählers eine Distanz zum Protagonisten, wodurch der Leser gezwungen wird, sich mit der in der Erzählung enthaltenen Problematik auseinanderzusetzen. Im Film wird diese Distanz nicht hergestellt; ein entsprechendes Kapitel zur Erzählperspektive ist hier also nicht erforderlich.
Bei der Besprechung des Films wird die von Hickethier (33-34) vorgeschlagene hermeneutische Interpretation angewandt. Im Unterschied zur empirisch-sozialwissenschaftlichen Methode, welche sich mit quantifizierbaren Merkmalen beschäftigt, geht sie von der Mehrdeutigkeit des Werkes aus und ermöglicht durch einen zirkulären Interpretationsprozess das Vorstoßen in tiefere Sinnebenen.
Durch die Konzentration auf die stofflich-inhaltliche Ebene lassen sich Buch und Film mittels einer textsemantisch-komparatistischen Methode vergleichen, da auch der Roman auf hermeneutische Weise analysiert wird. Die Gefahr der unzulässigen „Gleichmachung“ der beiden Medien besteht also nicht. Außerdem spielt der Begriff „Werkstreue“ in dieser Arbeit keine Rolle, d.h. es soll nicht untersucht werden, wie nahe der Film an der literarischen Vorlage bleibt. Es geht vielmehr um die Interrelation der verschiedenen Bedeutungspotentiale.
Zum Zweck der besseren Übersicht und um das Aufsuchen einzelner Sequenzen zu erleichtern, enthält die Arbeit im Anhang eine Sequenzanalyse (gemäß Hickethier 38). Diese ist schon allein deshalb dem Drehbuch vorzuziehen, weil Drehbücher auch in ihrer letzten Fassung noch erheblich vom fertigen Film abweichen können. Um die Analyse des Films nicht durch eventuelle Schwächen der deutschen Übersetzung zu beeinträchtigen, wird auf die englische Originalfassung Bezug genommen.
Eine Untersuchung der Protagonisten mit psychoanalytischen Methoden könnte--vor allem beim Film--zu interessanten Ergebnissen führen. Dies müsste jedoch in einer gesonderten Arbeit erfolgen, da die Schwerpunktsetzung hier eine andere ist. Nicht die psychologische, sondern die weltanschauliche Komponente steht hier im Vordergrund. Insbesondere die Entstehung des Werks und die Person des Autors, welche bei der psychoanalytischen Methode im Vordergrund steht, sind hier nicht von Interesse.
Im Falle des Buchs ist eine psychoanalytische Interpretation schon deswegen nicht erforderlich, weil Dürrenmatt es nicht darauf anlegt, seinen Charakteren ein komplexes Seelenleben zu geben. Insbesondere die Hauptfiguren stehen stellvertretend für ein bestimmtes Weltbild.
Die einzige Szene im Film, in der sich eine psychoanalytische Interpretation wirklich anbieten würde, ist die Psychiater-Szene. Hierbei handelt es sich jedoch um eine zweckorientierte Episode, die sich in erster Linie auf das detektivische Anliegen des Protagonisten beschränkt. Die Fragen der Psychiaterin verdeutlichen zwar dessen labilen seelischen Zustand. Dies lässt sich jedoch auch ohne psychoanalytische Methoden feststellen.
1.3 Entstehungsgeschichte des Versprechens
Schon die Entstehungsgeschichte des Versprechens ist in mancher Hinsicht ein Kuriosum. „Im Frühjahr 1957 bestellte der Produzent Lazar Wechsler bei mir eine Filmerzählung. Thema: Sexualverbrechen an Kindern“ (Dürrenmatt, Nachwort). Der Film, der später unter dem Titel Es geschah am hellichten Tag (dieser stammt im übrigen nicht von Dürrenmatt, sondern vom Produzenten) erscheint, soll die Öffentlichkeit auf diese Problematik hinweisen und deshalb durchaus pädagogischen Charakter haben. Dürrenmatt entwickelt eine „Vorfassung des Romans“ (Dürrenmatt, Nachwort) und verarbeitet sie zusammen mit dem Regisseur Ladislao Vajda und dessen Co-Autor Hans Jacoby zu einem Drehbuch.
Der auffallendste Unterschied zur späteren Romanfassung ist das positive Ende: Der Kommissar (im Film heißt er Matthäus) benutzt in der entscheidenden Szene nicht das Kind, sondern eine Strohpuppe als Köder. Der Mörder sticht auf die Puppe ein und wird vom Kommissar nach einer kurzen Rangelei erschossen.
Der Protagonist, dargestellt von Heinz Rühmann, dem seit jeher das Image des netten Mannes von nebenan anheftete, hat zudem viel menschlichere Züge als im Buch. Als heraus kommt, dass Annemarie Kontakt zum Mörder hat, klärt er Frau Heller selbst über seinen Plan auf und überredet sie, mit ihrer Tochter in eine andere Wohnung zu ziehen. Spycher bezeichnet ihn als einen „überaus sympathische[n] Held[en]“ (289). Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass Matthäus sich hier nicht schuldig am Tod des Hausierers macht. Dieser gesteht zwar das Verbrechen, das er nicht begangen hat, wird dann jedoch vom Vater des ermordeten Mädchens erschossen. Matthäus verkehrt auch nicht mit moralisch fragwürdigen Gestalten, wie Matthäi im Film. Frau Heller ist hier keine ehemalige Prostituierte, sondern führt eine Gastwirtschaft.
Nach Abschluss der Dreharbeiten beginnt Dürrenmatt, aus dem Stoff einen Roman zu schreiben, der der Vorlage zwar weitgehend folgt, von ihr jedoch in einigen grundlegenden Punkten abweicht.
Über die Ursprünge des Versprechens herrscht Uneinigkeit in der Forschung. Armin Arnold (168) und Ira Tschimmel (148) sehen es als Adaption von Georges Simenons im Jahre 1955 erschienenen Kriminalroman Maigret tend un piège, in dem ebenfalls ein menschlicher Köder benutzt wird. Arnold betont aber gleichzeitig, dass „von einem Plagiat keine Rede sein kann,“ (Quellen 168). Clemens Franken (282) und Peter Spycher (278-79) hingegen glauben, dass Dürrenmatt ein „Gegenbild“ (Franken 282) zu Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue entwirft, was allein schon deshalb nahe läge, weil Dürrenmatt mit seinem „Anti-Kriminalroman“ (Spycher 282) ein Genre persifliert, als dessen Vater Poe gilt.
2 Hintergrund
2.1 Zur Geschichte und Theorie des Kriminalromans
2.1.1 Die Anfänge
2.1.1.1 Prodesse et delectare: Die Pitavalerzählung
Ihren Ursprung hat die Kriminalgeschichte im 18. Jahrhundert in Prozessberichten, also in der Wiedergabe und Nacherzählung realer Verbrechen. Im Zuge der Aufbereitung für ein breites Publikum wird der rein informative Charakter der Gerichtsakten zunehmend unterhaltsamer gestaltet. „Wahres und Fiktives wurden in diesen Geschichten zu einer nicht immer harmonischen Einheit verspannt“ (Marsch 7). Ziel ist es einerseits, das Sensationsbedürfnis der Leser zu befriedigen. Andererseits haben die Verfasser durchaus auch didaktische Ansprüche.
Der bedeutendste von ihnen ist François Gaynot de Pitaval (1673-1743), ein französischer Anwalt. Er stellt eine Sammlung ungewöhnlicher Gerichtsverfahren zusammen, die ab 1734 in mehreren Bänden unter dem Titel Causes célèbres et intéresantes erscheinen. Pitaval überschreitet als erster die Schwelle vom Bericht zur Erzählung--eine Entwicklung, die sich in späteren Überarbeitungen der jetzt nur noch als Der Pitaval bezeichneten Sammlung weiter fortsetzt. So werden für Laien nur schwer verständliche juristische Begriffe und Formulierungen herausgenommen oder umgeschrieben.
1842 wird in Deutschland von J.E. Hitzig und W. Häring (d.i. W. Alexis) der erste Band des Neuen Pitaval herausgebracht. Sie führen die Tradition Pitavals fort und fügen der Sammlung Berichte von zeitgenössischen Fällen hinzu. Im Neuen Pitaval wird sehr viel ausführlicher auf die Psyche des Täters eingegangen. Außerdem werden, um die Erzählungen noch unterhaltsamer zu machen, fiktive Elemente und Spekulationen eingebracht. Zwar geht dadurch jeglicher Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verloren, doch diesen Anspruch hat man sowieso schon lange zugunsten der Erschließung eines breiteren Publikums aufgegeben.
An dieser Stelle sei auf die Kritik Hans-Otto Hügels hingewiesen, der argumentiert, dass die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Pitaval-Erzählungen und dem Kriminalroman die Behandlung eines Kriminalfalles ist. Hügel sieht keinerlei Parallelen in der Erzählweise und hält den Pitaval weniger für einen Vorläufer, als mehr für einen Wegbereiter des Kriminalromans: „Die Pitavaltradition hat für die Entwicklung der Detektiverzählung nur Bedeutung als stoffliche Quelle, und sie machte insgesamt Kriminalerzählungen in jeder Form populär“ (86).
Auch im englischsprachigen Raum erscheint im Jahr 1773 unter dem Titel The Newgate Calendar--Newgate ist der Name eines berühmten englischen Gefängnisses --eine Sammlung von Berichten über ungewöhnliche Kriminalfälle. Die meisten dieser Geschichten basieren allerdings nicht auf Gerichtsakten und auch nur ein Teil der in ihnen erwähnten Verbrecher hat tatsächlich in Newgate eingesessen. Wie Der Pitaval wird der Newgate Calendar viele Male neu aufgelegt und erweitert. Die wohl bekannteste und erfolgreichste Ausgabe dürfte die von Knapp und Baldwin im Jahre 1809 veröffentlichte sein.
Wie ihre deutschen und französischen Kollegen wollen die angelsächsischen Autoren ihre Leser nicht nur unterhalten, sondern auch erziehen und fügen ihren Erzählungen meist eine kurze Moral hinzu. Auf der Titelseite einer Ausgabe ist sogar ein Bild zu sehen, auf dem eine besorgte Mutter ihrem kleinen Sohn den Newgate Calendar zu lesen gibt, damit dieser nicht so endet wie die vor dem Fenster am Galgen hängenden Verbrecher.
Auch darin, dass die psychologische Entwicklung der Täter unter Miteinbeziehung des gesellschaftlichen Kontexts nachgezeichnet wird, ähneln sich Der Pitaval und der Newgate Calendar. Stephen Knight schreibt zu letzterem: „crime is not seen as some foreign, exotic plague visited on the British public, but as a simple disease that can, by some aberration, grow from inside that society” (Knight 11). Analog schreibt Edgar Marsch zum Pitaval: „Der Gegensatz Mensch und Verbrecher, Norm und Abweichung, wirkt nicht mehr befremdlich und wird eingebunden in die Möglichkeiten eines komplizierten Lebens und einer verwickelten Umwelt“ (132).
2.1.1.2 Der pointierte Kriminalroman
Es wäre leicht, die allmähliche Entwicklung der Ritter-, Schauer- und Geistergeschichten durch ein Jahrhundert bis hin zum eigentlichen Kriminalroman zu verfolgen, wenn da nicht fast am Anfang schon ein scharfer Einschnitt wäre, eine Art literarischer Schock, ein Blitzschlag: Amerika - und E.A. Poe (Haas 65)
Edgar Allan Poes (1809-1849) im Jahr 1841 erschienener Kriminalroman Murders in the Rue Morgue wird allgemein als der erste Vertreter des Genres angesehen. In ihm finden sich sämtliche, bis dahin nur einzeln auftretende Merkmale der Detektivgeschichte vereint. So ermittelt mit Auguste Dupin eine personale Detektivfigur in einem Mordfall, der sich bereits vor Beginn der eigentlichen Handlung ereignet hat und sich einzig durch Anwendung des genialen Intellekts des Ermittlers lösen lässt. Die Aufklärung des Verbrechens hat bei Poe, wie auch bei seinen Nachfolgern, den Charakter einer Denksportaufgabe. Auch der Leser kann miträtseln und, sofern er nicht auf eine der vielen falschen Spuren (sog. „red herrings“) hereinfällt, zu dem Ergebnis gelangen, das vom Detektiv am Ende der Erzählung in aller Ausführlichkeit dargeboten wird. Die Welt, in der der pointierte Kriminalroman spielt, ist klein, in sich geschlossen und geradezu paradiesisch perfekt. Das Verbrechen, bei dem es sich fast immer um einen Mord handelt, erschüttert diese Idylle und es ist die Aufgabe des Detektivs, durch die Aufklärung den ursprünglichen, reinen Zustand wiederherzustellen.
Poe ist seiner Zeit weit voraus. Erst mehr als vierzig Jahre später findet er in Arthur Conan Doyle (1859-1930) einen legitimen Nachfolger. Doyle, der in seinen Memoiren schreibt, Dupin, Poes Meisterdetektiv, „had from boyhood been one of my heroes“ (74), entwickelt in seinen berühmten Sherlock Holmes Geschichten--die erste, A Study in Scarlet, erscheint 1887--das Genre weiter. Wie Dupin ist auch Holmes ein Einzelgänger, der sich abgesehen von seinem genialen Verstand durch eine Reihe von exzentrischen Angewohnheiten auszeichnet. So brütet er gerne stundenlang vor sich hin, spielt befremdend atonale Melodien auf seiner Geige und ist dem gelegentlichen Genuss harter Drogen nicht abgeneigt. An die Stelle des Erzählers, dem Dupin seine Schlussfolgerungen erklärt und der diese dann an den Leser weitergibt, tritt bei Doyle der Arzt Dr. Watson, der ebenfalls vorrangig die Aufgabe hat, die Erlebnisse seines Freundes zu dokumentieren. Neu ist bei Doyle vor allem, dass sein Detektiv aktiv in die Ereignisse eingreift und den Fall nicht wie Dupin ausschließlich aus seinem abgedunkelten Zimmer durch bloße Deduktion löst. Sherlock Holmes wird zum Prototyp des Detektivs, an dem sich alle Kriminalautoren der darauffolgenden Jahrzehnte orientieren.
Nach dem ersten Weltkrieg erlebt der Kriminalroman sein „goldenes Zeitalter“. Eine große Zahl von Autoren verwendet und verfeinert in ihren Geschichten das von Poe und Doyle geschaffene, strenge Schema: Mord - Suche nach dem Täter - Rekonstruktion des Tathergangs - Ermittlung des Motivs - Lösung - Überführung des Täters. Besonders hervorzuheben sind die über 100 Romane Agatha Christies (1890-1976), die solch berühmte Detektivfiguren wie Hercule Poirot und Miss Marple erfindet, sowie G.K. Chestertons 50 Pater Brown-Romane. Pater Brown ist bewusst als Gegenfigur zu Sherlock Holmes entworfen worden und agiert weniger als Analytiker, denn als Seelsorger.
2.1.1.3 Der Kriminalroman in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung
Seit seiner Entstehung hatte das Genre des Kriminalromans damit zu kämpfen, dass es der Trivialliteratur--schon in dieser Bezeichnung schwingt eine pejorative Wertung mit--zugeordnet wurde und deshalb lange Zeit in der Fachwelt nur wenig Beachtung fand. Das Verhältnis von Qualität und Quantität spielt also seit Anbeginn eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Gattung. Früh stellte sich die Frage, ob Unterhaltungsliteratur, die in großem Umfang produziert und von der breiten Masse konsumiert wird, der literaturwissenschaftlichen Untersuchung würdig ist. „Anstößig ist seine Popularität, und für anstößig gilt sein Thema“ (Alewyn 52). Gerade weil er auch von weniger gebildeten Bevölkerungsschichten gelesen und verstanden werden kann, steht der Kriminalroman lange in dem Ruf, anspruchslos zu sein und nur der Unterhaltung zu dienen. So schreibt Paul Reiwald im Jahre 1948: „Viele Gebildete - jedenfalls auf dem Kontinent - schämen sich des Eingeständnisses, daß so etwas wie Kriminalgeschichten sie interessieren könnten“ (76), und Richard Gerber wettert noch 1966: „Sagen wir es vorläufig noch ohne Beweis, etwas krass, aber unmißverständlich: Der Kriminalroman ist kastrierte Verbrechensdichtung“ (75)--eine Einstellung, die von Marsch als „bereits bekannter, methodisch hinderlicher, kritischer Hochmut“ (62) gebrandmarkt wird.
Es ist insbesondere drei international renommierten Literaturwissenschaftlern zu verdanken, dass der Kriminalroman allmählich in der Fachwelt ernstgenommen und untersucht wird: Ernst Bloch schreibt 1960 eine Philosophische Ansicht des Detektivromans, Helmut Heißenbüttel denkt 1963 über die Spielregeln des Kriminalromans nach und Richard Alewyn versucht in seinem ebenfalls 1963 erschienenen Artikel Das Rätsel des Detektivromans eine grobe gattungstheoretische Einteilung. „[A]lle drei bekannten nicht nur einmütig, regelmäßig Detektivromane zu lesen; sie betonten auch noch, daß es ihnen Spaß mache!“ (Egloff 59). Der Kriminalroman gehört nun nicht mehr, wie Georg Hensel behauptet, „zum Kleingeld der Romantik“ (262).
Etwa ab 1975, dem Jahr in dem der erste Kongress der Kriminalschriftsteller stattfindet, erscheinen regelmäßig literaturwissenschaftliche Beiträge in Form von Artikeln und Büchern, die sich mit der Gattungsgeschichte und Gattungspoetik des Kriminalromans auseinandersetzen. Dabei zeigt sich, dass die Forschung zu diesem jungen Genre, dass sich als äußerst flexibel erwiesen hat, noch in den Kinderschuhen steckt und bis zum heutigen Zeitpunkt mehr Fragen als Antworten produziert.
2.1.2 Der moderne Kriminalroman
2.1.2.1 Die Komplexität der Typologie
Während das Genre im 18. und 19. Jahrhundert noch relativ überschaubar ist, ergibt sich im 20. Jahrhundert das Problem, dass eine große Vielzahl von Untergattungen entsteht. Die gattungstheoretische Untersuchung dieser Ableger wird dadurch nahezu unmöglich gemacht, dass die Beschreibung der Gattung selbst noch in den Anfängen steckt. „Eine strukturelle Poetik der Kriminalerzählung ist noch nicht umfassend beschrieben und steht als Forderung noch im Raum der Literaturwissenschaft“ (Marsch 76).
Verkomplizierend kommt der immense Einfluss der englischen und amerikanischen Autoren hinzu. Eine Gattungstheorie müsste sich also auch mit der englischsprachigen Typologie befassen und klären, in welchem Verhältnis diese Bezeichnungen zu den deutschsprachigen stehen. Dass dies alles andere als einfach ist, demonstriert Peter Fischer anschaulich an Ian Fleming:
Flemings Romane sind thrillers - was man wörtlich mit ‚Schauerromane’ übersetzen kann, etwas höflicher mit ‚Reißer’ und ganz neutral und nichtssagend mit ‚Abenteuerroman’. Daß sie wohl manchmal mit Kriminalromanen mehr oder weniger in einen Topf geworfen werden, ist ebenso unkorrekt wie bezeichnend. Es zeigt, wie unklar die Konturen der Gattung geworden sind, die einst so formstreng war wie das Sonett. (186)
Doch auch in der englischsprachigen Forschung herrscht ein Begriffschaos, welches, wie Gary Day behauptet, sogar auf die Romane selbst zurückwirkt:
Historians of the genre variously label it as ‚thriller’, ‚detective story’ or ‚crime novel’, and this failure to agree on definition is significant, for it reproduces the failure within the detective story itself to define who is really the criminal, who is really the detective and what is really the crime. In other words, the problem of identity within the detective story appears in criticism as the problem of how to identify the detective story. (39-40)
Den ersten Versuch einer Einteilung stellt der bereits in 2.1.1.3 erwähnte Artikel von Richard Alewyn dar. Er unterscheidet thematisch zwischen Kriminalroman und Detektivroman: „Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens“ (53). Obwohl dieser Ansatz viele Anhänger gefunden hat, muss er insbesondere angesichts der inzwischen entstandenen großen Anzahl an Sub-Genres als unzureichend angesehen werden (vgl. Marsch 56-57, Egloff 59-60).
Insgesamt lässt sich durch die gesamte Bandbreite der Publikationen eine gewisse Hilflosigkeit erkennen. Es scheint, als sei die germanistische Fachwelt mit dem Genre schlichtweg überfordert. Dies mag durchaus auch daran liegen, dass sie den Kriminalroman immer noch unterschätzt und sich, wie Gerd Egloff kritisiert, einbildet, „in schmalen Ansätzen eine so disparate Gattung [. . .] abhandeln zu können“ (60). Egloff ist auch zuzustimmen, wenn er konstatiert,
wie schwer es ist, die Geschichte einer Gattung zu schreiben, die sich in ihrer mehr als hundertjährigen Entwicklung zu stark aufgefächert hat, um noch für einen einzelnen überschaubar zu sein. Entweder wird ihre Vielfalt zu einer lockeren Folge einzelner Autoren oder Schulen verharmlost, oder sie ist in ein so starres Kategoriesystem gepreßt, daß ihr Charakter verloren geht. (61)
Die genaue gattungstheoretische Untersuchung des Kriminalromans stellt ein zwar lohnenswertes aber insbesondere angesichts seiner rasanten Evolution höchst umfangreiches literaturwissenschaftliches Unterfangen dar; sie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Noch 1985 schreibt Klaus Kammberger am Ende seines Essays über den deutschen Kriminalroman resignierend: „Was ist ein Krimi?“ (126).
Im Folgenden soll die recht weit gefasste Definition Edgar Marschs (17) als Grundlage dienen, die das Vorhandensein mindestens eines von vier Elementen verlangt:
1. Innere und äußere Vorgeschichte eines Falls (in der Regel ein Verbrechen oder sichtbarer Anschein desselben);
2. Der Fall als solcher (= ein Verbrechen oder der Anschein eines solchen);
3. Detektion und Lösung (auch Irrtum);
4. Gericht und ‚Sühnung’ (z.B. auch Justizirrtum etc.)
Marsch hält zusätzlich eine „analytische Struktur“ für notwendig (17).
2.1.2.2 Die amerikanische „hard-boiled school“
Bertolt Brecht schreibt Ende der 30er Jahre über den amerikanischen Kriminalroman:
Der Kodex des englischen Kriminalromans ist der reichste und der geschlossenste. [. . .] Die Amerikaner haben weit schwächere Schemata und machen sich, vom englischen Standpunkt aus, der Originalitätshascherei schuldig. Ihre Morde geschehen am laufenden Band und haben Epidemiecharakter. Gelegentlich sinken ihre Romane zum Thriller herunter, das heißt der Thrill ist kein spiritueller mehr, sondern nur noch ein rein nervenmäßiger. (33)
Was Brecht hier als „Thriller“ bezeichnet, sind die Detektivgeschichten der sogenannten „hard-boiled school“. Begründet wird diese Stilrichtung von Dashiell Hammett (1894-1961), der 1929 seinen ersten Roman Red Harvest veröffentlicht, und dessen wichtigster Nachfolger Raymond Chandler (1988-1959) ist.
Hammett und Chandler schreiben in den 20er und 40er Jahren bewusst gegen den englischen Kriminalroman an. „Die Engländer sind vielleicht nicht die besten Schriftsteller der Welt, aber sie sind die unvergleichlich besten langweiligen Schriftsteller“ (Chandler 176). Die amerikanischen Leser zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Prohibition können mit der Formstrenge des traditionellen Kriminalromans und der aristokratischen Abgehobenheit der Protagonisten nichts mehr anfangen. Innerhalb kurzer Zeit hat eine ganze Generation das Vertrauen in Wirtschaft, Politik und die alten Werte verloren. Die Folgen--ein kollektiver Hang zum Zynismus, erhöhte Gewaltbereitschaft und ein sprunghafter Anstieg der Kriminalität--spiegeln sich im neuen „realistischen“ Kriminalroman wieder. „Die amerikanischen ‚hard-boiled novels’ sind nicht mehr Gesellschaftsspiele, sondern Gesellschaftsromane“ (Marsch 283). Ihre Autoren müssen deshalb über ein feines Gespür für soziale Zusammenhänge und die Belange ihrer Zeitgenossen verfügen. Hammett kommt dabei zugute, dass er acht Jahre lang für die renommierte (und berüchtigte) Pinkerton National Detective Agency gearbeitet hat. Chandler hingegen ist in England aufgewachsen und dadurch in der Lage, die gesellschaftlichen Unterschiede zu erkennen und zu verdeutlichen.
Wie viele Kriminalautoren vor (z.B. Poe und Doyle) und nach ihnen (u.a. auch Dürrenmatt) haben Hammett und Chandler ihre Geschichten zuerst in Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht. In den USA heißen diese meist wöchentlich erscheinenden Blätter wegen dem billigen Papier, auf dem sie gedruckt werden, „pulp magazines“. Ihr Vorgänger ist die „dime novel“, die in deutschsprachigen Ländern ihre Entsprechung im Groschenroman hat. Dass die „pulps“ gerade zur Zeit der Depression aufkommen, ist kein Zufall: „Americans paid money to forget their troubles, and the pulps were willing to sell” (Hoppenstand und Browne 2, vgl. Hickethier und Lützen 268). Vieles spricht dafür, dass es die „hard-boiled school“ nie gegeben hätte, wäre nicht auch der amerikanische Alltag zu dieser Zeit „hard-boiled“ gewesen (vgl. Kamberger 125).
Oft wird angemerkt, dass es mit dem Realismus[2] der „hard-boiled novels” nicht weit her sei. So schreibt Cynthia S. Hamilton: „[t]he extent to which the much-heralded realism of Chandler’s hard-boiled fiction is really romanticism brought down to earth by local colour is also apparent“ (151). Ähnliche Kommentare finden sich auch bei Alewyn (68-69), Day (39) und Hensel (262). Diese Kritik wird vor allem an der Person des Detektivs festgemacht. Philipp Marlowe bewahrt „eine moralische Integrität und Unabhängigkeit des Handelns, die angesichts der Korruptheit seiner Umwelt etwas letztlich Unerklärliches und Märchenhaftes besitzt“ (Schulz-Buschhaus, Ohnmacht 15). Dennoch muss man Schulz-Buschhaus zustimmen, wenn er schreibt:
Indem die Momente der verschiedenen Gattungen [d.i. Kriminalroman und realistischer Roman] hier auf dem höchsten schriftstellerischen Niveau, das im Kriminalroman bislang erreicht wurde, auseinandertreten, wird ihre Zusammenführung, gleichsam die Quadratur des Zirkels, zu einer Provokation für alle nachfolgenden Autoren von Kriminalromanen mit realistischem Anspruch. (Formen 154)
Verglichen mit den „hard-boiled novels“ wird die Künstlichkeit der traditionellen Krimis überdeutlich. Poes, Doyles und Christies Protagonisten agieren in einer isolierten, überschaubaren Welt (Landhäuser, Züge, Schiffe, Kurorte, kleine Inseln), die vom Autor nach den strengen Regeln einer imaginären Logik konzipiert wurde. Das Verbrechen hat mehr von einem Schachproblem als von einer wirklichen Bluttat, und nach seiner Aufklärung herrscht wieder Ruhe und Ordnung, ganz so, als wäre es nie geschehen.
Der Schauplatz von Hammetts und Chandlers Romanen ist dagegen fast immer die Großstadt. Die Polizei steht dem organisierten Verbrechen hilflos gegenüber, ist sogar meistens selbst von ihm unterlaufen und korrumpiert. Sam Spade und Philip Marlowe müssen sich in einer Welt zurechtfinden, die chaotisch, unüberschaubar und grundlegend defekt ist. Von vorn herein ist klar, dass das vorliegende Verbrechen, dessen vollständige Aufklärung ebenfalls keine Selbstverständlichkeit mehr ist, nur eines von vielen ist und dass seine Aufklärung nichts am desolaten Zustand einer Gesellschaft ändern wird, „in der sich der besondere Bereich des Verbrechens unauflöslich mit dem allgemeinen Bereich von Geschäft und Politik verfilzt hat“ (Schulz-Buschhaus, Formen 130). Eine klare Abgrenzung von Gut und Böse wie in den traditionellen Kriminalromanen existiert nicht und hat nie existiert. Gerechtigkeit ist nurmehr ein fremdartiges, utopisches Ideal. „Die Welt nach dem Sündenfall kehrt nicht ins Paradies zurück“ (Marsch 283), denn „[t]here is no historical perspective to offer hope or nostalgia“ (Hamilton 129).
Konsequenterweise ist der Detektiv auch nicht mehr eine jungfräulich anmutende, kaprizöse Gestalt wie Holmes, Dupin oder Poirot. Spade und Marlowe sind „tough guys“, die gleichzeitig mit Polizisten, Gangstern und Prostituierten verkehren und alle legalen wie illegalen Mittel einsetzen, um ihre Fälle aufzuklären. Dieser Typus des Ermittlers ist durchaus keine Fiktion, sondern hat, wie A.E. Murch feststellt, seine Entsprechung in der Wirklichkeit:
In the States the professional private detective, licensed by the police, working sometimes with them, sometimes in defence of their suspect, has a prestige that his English counterpart does not possess outside the pages of fiction. (253)
Die neuen „private eyes“ versuchen sich in einem schmalen Raum zwischen Gesetz und Unterwelt zu behaupten und erschaffen sich ihre eigene Idee von Recht und Gerechtigkeit. Der Detektiv „became a law unto himself and administered his own brand of justice as he saw fit“ (Baker und Nietzel 20). Er beweist der Gesellschaft nicht mehr „die Gültigkeit ihres Realitätsprinzips“ (Wellershoff, Entwirklichung 76), sondern, ganz im Gegenteil, deckt ihre Korruptheit und Verlogenheit auf, insbesondere dann, wenn er an ihr scheitert. Trotz ihrer Abgebrühtheit sind die Großstadt-Cowboys nämlich auch verletzlich--physisch wie psychisch. Sie werden von ihren Gegnern--seien es Gangster oder Polizisten--nicht selten verprügelt, angeschossen, gekidnappt oder gefoltert und sie müssen sich immer in Acht nehmen vor dem anderen Geschlecht, das die Macht besitzt, ihre emotionale Seite bloßzulegen und sie damit verwundbar zu machen.
Obwohl Mord in der „hard-boiled novel“ fast schon alltäglich ist, steht er nicht im Vordergrund. Auch die Aufklärung des Verbrechens ist Nebensache. Was zählt ist die Erschaffung einer bestimmten Stimmung.
Man liest den Roman nicht zu Ende, um zu erfahren, wer die Mörder waren, sondern um den burlesken Stil Chandlers, die realistische Atmosphäre seiner Schauplätze, die Extravaganzen seiner Personen und die Präsenz seines Privatdetektivs Philip Marlowe zu genießen. (Hensel 262-263)
2.1.2.3 Der moderne deutschsprachige Kriminalroman
Angesichts der Überschrift dieses Kapitels mag man sich fragen, warum es nicht auch ein Kapitel über den „ traditionellen deutschsprachigen Kriminalroman“ gibt. Der Grund ist der, dass so etwas wie eine Tradition des deutschsprachigen Kriminalromans nicht existiert. Klassiker wie Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, Droste-Hülshoffs Judenbuche und Fontanes Unterm Birnbaum werden im allgemeinen nicht zur Kriminalliteratur gezählt, da „dort nur das Verbrechen, nicht aber ein detektivischer Auflösungsprozeß dargestellt wird, der von einem Detektiv personal geführt wird“ (Marsch 16).
Über die Ursachen des Phänomens herrscht bis heute Uneinigkeit in der Fachwelt. Richard Alewyn vermutet ein kollektives Unvermögen zur Realitätsdarstellung:
[D]ie deutschen Dichter tun sich nun einmal schwer mit der Wirklichkeit und gehen ihr darum aus dem Wege [. . .] Aber nur in einer sowohl kompakten wie normalen Realität findet die Explosion des Mordes den nötigen Widerstand, um eine Erschütterung zu erzeugen. (69)
Peter Fischer hingegen unterstellt den Schriftstellern Überheblichkeit gegenüber dem Genre:
Sieht man von einer Ausnahme wie Friedrich Dürrenmatt ab, so halten Autoren deutscher Sprache [. . .] den Kriminalroman meist für unter ihrer Dichterwürde, obwohl ihre Kollegen in England und Amerika dabei sind, aus der alten Form ein sehr brauchbares literarisches Instrument zu schmieden. (195)
Dieser Meinung schließt sich in jüngerer Zeit auch Klaus Kamberger an: „Die elitären und bildungsbürgerlichen Mißverständnisse im Umgang mit diesem Genre zu analysieren, wäre eine eigene Studie wert“ (120).
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Sichtweise angelsächsischer Literaturwissenschaftler. Kenneth S. Whitton schreibt über die national verschiedenen Lesegewohnheiten: „German critics seem to take crime stories, ‘thrillers’, much more seriously than Anglo-Saxons, who have traditionally bought them ‘to read on the train’” (37). Es drängt sich der Verdacht auf, dass den deutschsprachigen Autoren die spielerische Leichtigkeit im Umgang mit dem Genre fehlt (vgl. Egloff 61) und dass sie darauf fixiert sind, „gewichtige“ Literatur zu produzieren, um von den Kritikern und der Öffentlichkeit ernstgenommen zu werden.
[...]
[1] Nach dem Originalfilm von 1958 gab es noch drei weitere Fassungen: Die italienische Fernsehproduktion La promessa (1979), der holländisch-britische Film The Cold Light of the Day (1995) und eine Fernsehfassung für Sat.1 (1997), ebenfalls mit dem Titel Es geschah am hellichten Tag.
[2] Realismus im Sinne der Mimesis, also der Nachahmung der Natur
- Quote paper
- Thomas Lornsen (Author), 2002, Eine gattungsgeschichtliche Einordnung des Kriminalromans Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt und des Films The Pledge (2001), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7581
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