Die vorliegende Dissertation ist der Versuch, vor dem Hintergrund neuerer theoretischer Perspektiven die Frage nach "persuasiven" Medienwirkungen im Wahlkampf auch empirisch neu zu überprüfen. Dies geschieht mit Hilfe von zeitreihenanalytischen Modellen und Verfahren und auf der Grundlage in der Wahlforschung bisher nicht diskutierter theoretischer Überlegungen zur Asymmetrie der Wahrnehmung und Beurteilung von Kandidaten in Wahlkämpfen.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht zuerst die theoretische Frage nach der Beziehung zwischen Medien und Politik im allgemeinen (Kap.2) und zwischen Massenmedien und Wählern im besonderen (Kap.3), einschliesslich der in der Wahlforschung etablierten Einflussfaktoren auf Kandidatenurteile (Kap.4) – und insbesondere der von Zaller kognitionspsychologisch begründeten Mechanismen von Einstellungs- bzw. Meinungswandel als Folge persuasiver Medieneffekte (Kap.5).
Vor dem Hintergrund dieser umfassenden theoretischen Überlegungen und Herleitungen wird die spezifische empirische Fragestellung nach der Wirkung von Fernsehnachrichten auf die Meinung der Zuschauer entwickelt und ihre methodologische Fundierung und Umsetzung sorgfältig diskutiert (Kap.7). In den beiden Ergebniskapiteln werden zuerst die deskriptiv-analytischen Befunde dargestellt (Kap.8), um schliesslich die Ausgangsfrage nach dem Einfluss von Nachrichten-Aussagen (bzw. Wirtschaftserwartungen) auf Kanzlerpräferenzen mit Hilfe zeitreihenanalytischer dynamischer Transferfunktions-Modelle zu diskutieren.
Trotz aller Beschränkungen ist die Botschaft der Analysen eindeutig: Starke persuasive Medieneffekte können durch angemessene theoretische Perspektiven, Messungen und Analyseverfahren ans Licht gebracht werden – ganz wie es Zaller in seinem pointierten Zitat 1996 prognostiziert hat ("very large media persuasion effects are lurking all around us, waiting to be brought more fully to light by more appropriate measures, models, and theoretical perspectives", Zaller 1996: 38). Obwohl Schulz die These vom wahlentscheidenden Einfluss des Fernsehens für "nicht mehr zeitgemäß" hält (Schulz 1998: 386), zeigen die Analysen dieser Arbeit, dass es doch Konstellationen gibt, die einen wahlentscheidenden Einfluss des Fernsehens möglich machen (hier die Nachrichtenlage beim Herausforderer Scharping).
Allerdings gilt dies (natürlich) nicht für jede Medienberichterstattung zu jeder Zeit.
Inhalt
1 Einführung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau der Arbeit Theoretische Verortung und Forschungsstand
2 Politische Kommunikation
2.1 Beziehungen zwischen Medien und Politik
2.2 Anwendungsfall Wahlkampf
3 Massenmedien und Wählerverhalten
3.1 Relevante Ansätze der Medienwirkungsforschung
3.1.1 Das Paradigma der mächtigen Medien
3.1.2 Das Paradigma der "minimalen Effekte"
3.1.3 Was Medienwirkungen hemmt: z.B. Selektivität
3.1.4 Die kognitive Wende: z.B. Agenda-Setting
3.1.5 Rückkehr zu persuasiven Medienwirkungen: z.B. Priming und Framing
3.1.6 Fazit: Die Wiederbelebung der Untersuchung massiver Medienwirkungen
3.2 Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens
3.2.1 Der soziologische oder sozialstrukturelle Ansatz
3.2.2 Der sozialpsychologische Ansatz
3.2.3 Der Rational-Choice-Ansatz
3.2.4 Fazit: Die Erklärungsmodelle und ihr Bezug zur Kandidatenorientierung
3.3 Personalisierung der Politik
3.3.1 Personalisierung der Wahlkampfführung
3.3.2 Personalisierung der Medienberichterstattung
3.3.3 Personalisierung des Wählerverhaltens
3.3.3.1 Candidate-Voting
3.3.3.2 Entpolitisierung der Kandidatenbewertung
3.3.4 Fazit: Personalisierung – eine neue Form der Wahlkampfführung, "Amerikanisierung" oder alter Wein in alten Schläuchen?
4 Bestimmungsfaktoren der Kandidatenorientierung
4.1 Der Prozess der Urteilsbildung über Spitzenkandidaten
4.2 Zum Einfluss des Fernsehens
4.2.1 Theoretische Überlegungen und methodische Beschränkungen
4.2.2 Empirische Untersuchungen
4.2.3 Fazit
4.3 Zum Einfluss der Wirtschaftslage
4.3.1 Theoretische Erklärungen
4.3.1.1 Incumbency-Hypothese und Policy-Hypothese
4.3.1.2 "Personal Experience"-Hypothese und "National Assessment"-Hypothese
4.3.1.3 Fazit
4.3.2 Empirische Untersuchungen
4.3.2.1 Methodische Probleme
4.3.2.2 Ergebnislage
4.3.3 Zum Einfluss der Medien auf die Wahrnehmung der Wirtschaftslage
5 Das RAS-Modell von Zaller – theoretische Überlegungen und empirische Lösungsvorschläge für den Nachweis starker Medieneffekte in der politischen Kommunikation
5.1 Die Rolle der Medien in Zallers Modell
5.2 Kritik
5.3 Empirische und analytische Randbedingungen für den Nachweis starker Medieneffekte
5.4 Fazit
6 Zusammenfassung und Überleitung zur empirischen Untersuchung Empirische Untersuchung
7 Problemstellung und Konzeption der Studie
7.1 Der Untersuchungsgegenstand
7.2 Die Untersuchungsperspektive
7.3 Der Untersuchungszeitraum
7.4 Die Untersuchungsmethoden
7.4.1 Die Befragungsdaten aus dem DFG-Projekt "Wählerwanderung und Politikverdrossenheit"
7.4.2 Die Inhaltsanalysedaten der Nachkodierung von Fernsehnachrichten
7.4.2.1 Untersuchungsanlage
7.4.2.2 Kategoriensystem
7.4.3 Die empirischen Analysen
7.4.3.1 Deskriptiv-analytische Betrachtungen von Bevölkerungsmeinung und Nachrichteninhalten
7.4.3.2 Zeitreihenanalysen
8 Ergebnisse aus Befragung und Inhaltsanalyse: Kanzlerpräferenzen der Bevölkerung und Darstellungen der Kandidaten in den Medien
8.1 Kanzlerpräferenzen der Bevölkerung
8.2 Kandidaten in den Fernsehnachrichten
8.2.1 Verteilung der Aussagen auf die Sender
8.2.2 Verteilung der Aussagen über den Untersuchungszeitraum
8.2.3 Aussage-Typen
8.2.4 Akteursbeziehungen
8.2.5 Thematischer Kontext der Aussagen (Framing)
8.2.6 Bewertungen
8.2.6.1 Bewertungen und Themen
8.2.6.2 Konsonanz der Berichterstattung? Bewertungen der Kandidaten nach Sendern
8.2.6.3 Bewertungen über die Zeit
8.2.7 Fazit
9 Kausalanalysen: Die Abhängigkeit der Kanzlerpräferenz von Medieninhalten und Wirtschaftserwartungen (Zeitreihenanalysen)
9.1 Herausforderer Scharping
9.1.1 Grafische Darstellungen
9.1.2 Prognose der Kanzlerpräferenz mit dem Zeitreihen- Modell
9.1.3 Zeitreihenanalyse nach Box/Jenkins
9.1.3.1 Univariate ARIMA-Modelle
9.1.3.2 Kreuzkorrelationen
9.1.3.3 Transfer- und Gesamtmodelle
9.1.3.4 Interpretation der Modelle
9.1.4 Effekt-Validierung durch Einbeziehung intervenierender Variablen
9.1.4.1 Positive Aussagen über Scharping
9.1.4.2 Mediennutzung
9.1.5 Fazit
9.2 Amtsinhaber Kohl
9.2.1 Grafische Darstellung
9.2.2 Zeitreihenanalysen nach Box/Jenkins
9.2.2.1 Nachrichteninhalte
9.2.2.2 Allgemeine Wirtschaftslage
9.2.3 Fazit
10 Schlussbetrachtungen
10.1 Zusammenfassung der wichtigsten empirischen Ergebnisse
10.1.1 Medieninhaltsanalyse
10.1.2 Kausalanalysen
10.2 Interpretation und Rückbezug zur Theorie
10.3 Beschränkungen
10.4 Ausblick
Literaturverzeichnis
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Anhang
I. Codeplan der Inhaltsanalyse
II. Original SAS-Ausdrucke der Zeitreihenanalysen
1 Einführung
1.1 Problemstellung
Wenn Wähler bei Bundestagswahlen ihr Kreuzchen für eine Partei machen, wissen sie auch immer, welchen Kanzlerkandidaten sie damit wählen. Dies gilt seit der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949, als die CDU mit Konrad Adenauer gegen die SPD mit Kurt Schumacher antrat, bis zur letzten Bundestagswahl 2002, als die SPD mit Gerhard Schröder gegen die CDU/CSU mit Edmund Stoiber kandidierte. Die Wähler haben bei ihrer Entscheidung oft sehr differenzierte Vorstellungen von den Kanzlerkandidaten, über ihre politischen Kompetenzen und ihre Persönlichkeit (Kindelmann 1994, Lass 1995). Und das, obwohl kaum ein Wähler jemals einen der Kandidaten persönlich gesehen, geschweige denn gesprochen hat. Politikvermittlung findet in unserer Gesellschaft nicht persönlich, sondern über die Massenmedien statt. Natürlich sprechen die Menschen auch miteinander über Politik und Politiker, doch diese interpersonale politische Kommunikation hat ihre Informationsbasis ebenfalls ganz überwiegend in massenmedialen Politik-/Politikerdarstellungen. Die Medien sind ein Konstrukteur politischer Realität (Sarcinelli 1991: 439) und wichtigstes Instrument der Politikvermittlung (Kindelmann 1994: 13).
Politische Informationen werden vor allem über die Nachrichtenkanäle der Massenmedien verbreitet und diese werden damit zum Bindeglied zwischen politischen Akteuren und Wählern. Zu den wichtigsten Nachrichtenkanälen zählen die Haupt-Nachrichtensendungen der reichweitenstarken Fernsehsender. Besonders bei der Berichterstattung über Personen (Kanzlerkandidaten) wird ihnen aufgrund von Darstellungsmöglichkeiten, Glaubwürdigkeit beim Publikum und Aktualität eine besondere Wichtigkeit zugeschrieben.
Diese Konstellationen legen die Frage nahe, inwieweit die Wähler bei ihrem Urteil über Kanzlerkandidaten von Fernsehnachrichten beeinflusst werden. Bedeutet Politikvermittlung in den Fernsehnachrichten nur eine Übertragung neutraler Informationen, die beim Wähler zwar kognitive, aber keine persuasiven Effekte zeitigen? Oder werden in den Fernsehnachrichten neutrale und bewertende Informationen übermittelt, die den Wähler in seinem Wahlentscheid inhaltlich beeinflussen – ihn also dazu bringen eher den einen als den anderen Kandidaten zu favorisieren?
Die untersuchungsleitende Fragestellung dieser Arbeit ist daher die Suche nach Abhängigkeiten der Wählermeinung von den Darstellungen der Kanzlerkandidaten in den Haupt-Nachrichtensendungen.
Die beiden Kanzlerkandidaten gehen jedoch mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen "ins Rennen". Während der Herausforderer[1] vielen Wählern weniger gut bekannt ist und sie ihn vor allem noch nicht als politische Führungsfigur einschätzen können, ist der Amtsinhaber den Wählern seit Jahren sehr gut bekannt und sie machen ihn als Regierungschef für viele gesellschaftliche Zustände verantwortlich. Vor allem die wirtschaftliche Lage des Landes ist für die Wähler ein wichtiges Bewertungskriterium des Kanzlers.
Aufgrund dieser Konstellationen muss die Wirkung von Medieninhalten im Wahlkampf bei den beiden Kandidaten sehr unterschiedlich ausfallen. Beim Amtsinhaber ist die Wirtschaftslage als zusätzlicher Erklärungsfaktor zu beachten, da die Missachtung wichtiger Variablen zu verzerrten Effekten in Medienwirkungsmodellen führen würde. Aus diesem Grund wird die Kanzlerpräferenz für die beiden Kandidaten einzeln untersucht und auf verschiedene Einflussfaktoren zurückgeführt: Beim Herausforderer werden die Medien als wichtigste Einflussgröße angenommen, beim Amtsinhaber dagegen die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage durch die Wähler.
1.2 Aufbau der Arbeit
Zu diesem Zweck wird erst eine theoretische Verortung der Fragestellung sowie eine Darstellung des Forschungsstandes in den relevanten Teilgebieten der Kommunikationswissenschaft vorgenommen (Kapitel 2 bis 6). Nach einer allgemeinen Betrachtungen der Beziehungen zwischen Medien und Politik (Kapitel 2) wird auf das Verhältnis von Massenmedien und Wählern fokussiert (Kapitel 3). Dort werden die relevanten Ansätze der Medienwirkungsforschung in historischer Abfolge vorgestellt (3.1) und speziell die Erklärungsmodelle für Wahlverhalten erörtert (3.2). Eine ausführliche Diskussion der Debatte um die "Personalisierung der Politik" (3.3) schließt dieses Kapitel ab. Im folgenden Kapitel wird weiter auf die Forschungsfrage fokussiert und die Einflussfaktoren auf die Kandidatenurteile der Wähler beleuchtet (Kapitel 4). Nach einer Einführung "Zum Prozess der Urteilsbildung" (4.1) wird speziell der Einfluss des Fernsehens (4.2) und der Wirtschaftslage (4.3) betrachtet. Mit der Darstellung eines Ansatzes, der neuere kognitionspsychologische Vorstellungen von Einstellungs- und Meinungswandel integriert und speziell auf den Nachweis von persuasiven Medieneffekten abhebt (Das RAS-Modell von Zaller, Kapitel 5), endet dieser mehr theoretisch orientierte Teil der Arbeit in einer zum empirischen Teil überleitenden Zusammenfassung (Kapitel 6).
Die eigene empirische Untersuchung wird in ihrer Konzeption detailliert beschrieben (Kapitel 7) und umfasst sowohl sekundäranalytische Auswertungen von Bevölkerungsumfragen aus dem DFG-Wahlprojekt "Wählerwanderung und Politikverdrossenheit"[2] als auch eine eigene Medien-Inhaltsanalyse der Haupt-Nachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT.1. Die Ergebnisse von Umfragen und Inhaltsanalyse werden in einem ersten Schritt einzeln ausgewiesen (Kapitel 8) und anschließend kausal-analytisch verknüpft mit Hilfe von Zeitreihenanalysen (Kapitel 9). Mit einer kritischen Würdigung der Ergebnisse, einer Abschätzung ihrer Bedeutungen für die theoretischen Annahmen sowie den nötigen Hinweisen auf ihre Beschränkungen endet diese Arbeit (Kapitel 10).
Theoretische Verortung und Forschungsstand
2 Politische Kommunikation
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit politischen Inhalten von Massenmedien und mit politischen Vorstellungen und Verhaltensweisen von Rezipienten. Ausgeschlossen wird damit der – mengenmäßig – weitaus größere Teil der Medieninhalte, also z.B. Unterhaltung und die damit verbundenen Phänomene auf Rezipientenseite (Weiss 2001). Diese Untersuchung lässt sich also im Bereich der "Politischen Kommunikation" einordnen, einem Bereich, der sich mittlerweile als eigenständiges Wissenschaftsfeld emanzipiert und institutionalisiert hat (Schulz 1997: 13)[3].
Das Forschungsfeld "Politische Kommunikation" lässt sich jedoch aus sehr unterschiedlichen theoretischen Perspektiven bearbeiten. Es können z.B. die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen Medien und Politik untersucht werden – eine Sichtweise, die eher makrosoziologisch und politikwissenschaftlich orientiert einer systemtheoretischen Betrachtung folgt. Oder es können z.B. die Wirkungen von politischen Inhalten in den Medien auf die politischen Vorstellungen und Verhaltensweisen der Rezipienten untersucht werden – eine Sichtweise, die eher mikrosoziologisch und kommunikationswissenschaftlich orientiert einer individualpsychologischen Betrachtung folgt. Allerdings ist diese Dichotomie nicht zwingend oder gar erschöpfend. Sie soll lediglich deutlich machen, dass selbst die thematische Abgrenzung eines Forschungsfeldes immer noch viele unterschiedliche Perspektiven ermöglicht – und damit die Anwendung unterschiedlicher Theorien, Modelle und Instrumente. Die theoretische Perspektive dieser Arbeit wird in den folgenden beiden Unterkapiteln entwickelt.
2.1 Beziehungen zwischen Medien und Politik
Das Verhältnis zwischen Massenmedien und Politik wird von jeher als spannungsreich angesehen und oft als Problem diskutiert, das einer Steuerung bedarf (Schulz 1997, Iyengar 1991, Gerbner/Gross 1994). Positive Effekte werden eher selten angeführt, obwohl seit McLuhan/Powers die Vision vom "globalen Dorf" existiert, in der die Medien eine elektronische Weltöffentlichkeit herstellen (als moderne Variante der griechischen Polis) und das Publikum aktuell und authentisch über das gesamte politische Geschehen unterrichten (McLuhan/Powers 1989).
Der Grund für das spannungsreiche Verhältnis wird in der starken Expansion der Massenmedien gesehen: Die Massenmedien "durchdringen" mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere politische Prozesse, und sie "absorbieren" immer mehr Zeit des Publikums. Dieser Prozess der Expansion läuft – mit qualitativen Sprüngen bei Einführung eines neuen Massenmediums o.ä. – seit Beginn des 20. Jahrhunderts, er verläuft aber seit Beginn der achtziger Jahre beschleunigt und scheint eine "kaum mehr zu steuernde Eigendynamik" anzunehmen (Schulz 1997: 11). Die Gründe für diese beschleunigte Eigendynamik werden im technischen Wandel sowie in der Kommerzialisierung und Globalisierung der Mediensysteme gesehen. Dabei wird vor allem dem Fernsehen eine spezielle Rolle zugeschrieben: Seine weite Verbreitung und große Reichweite sowie seine scheinbare Informationsqualität aus Sicht des Rezipienten (Augenzeugenschaft, weltweit und live) lassen ein besonders hohes Wirkungspotential vermuten.
Die Medien werden im Spannungsfeld zwischen Politik und Medien sowohl als "Opfer" als auch als "Täter" gesehen – je nach Perspektive des Autors bzw. Ansatz des Forschers. "Opfer" sind sie, weil politische Akteure mit Instrumenten aus Marketing, PR und Werbung darin erfolgreich sein können, die Medien für ihre Zwecke einzusetzen, sie zu instrumentalisieren. "Täter" sind sie, wenn andererseits eine Abhängigkeit der Politik von den Medien konstatiert wird und diese Abhängigkeit zu Veränderungen im Verhalten politischer Akteure führt, die häufig als demokratietheoretisch bedenklich eingeschätzt werden. In der Politik- und Kommunikationswissenschaft wird diese grundsätzliche Beziehung zwischen Medien und Politik unter den Begriffen "Instrumentalisierungsthese" versus "Dependenzthese" diskutiert (Schulz 1997: 26, Jarren 1988a/b, Sarcinelli 1991, Reiser 1994; speziell Dependenzthese: Kepplinger 1983, 1985; speziell Instrumentalisierungsthese: Schatz 1978, 1982). Zusammengefasst kann man das Verhältnis zwischen Politik und Medien auf diesem abstrakten Niveau folgendermaßen ausdrücken: "Zweifellos haben die Massenmedien einen starken Einfluss auf die Politik, aber andererseits verstehen es viele Politiker, Parteien und Regierungen auch meisterhaft, die Medien für ihre Zwecke einzusetzen und zu instrumentalisieren. Zwischen Medien und Politik gibt es ein Verhältnis wechselseitiger Dominanz und Abhängigkeit" (Schulz 1997: 235).
Die Beurteilung des Verhältnisses von politischem System und Mediensystem hat direkte Auswirkungen auf die Beurteilung dessen, was als "Medienwirkungen" bezeichnet werden kann. Dies wird am besten deutlich, wenn man die beiden Extrempositionen gegenüberstellt. Wenn die politischen Akteure die Berichterstattung in den (Nachrichten-)Medien weitestgehend bestimmen könnten (Instrumentalisierungsthese), müsste man Langenbucher recht geben, der sagt, dass in diesem Falle das, "was als Medienwirkung erscheint, … tatsächlich die Wirkung der Kommunikationsstrategien der politischen Primärkommunikatoren ist, die sich der Medien instrumentell bedienen" (Langenbucher 1983: 114f.). Wenn dagegen die Medien den politischen Akteuren ihr öffentliches Erscheinungsbild diktieren würden (Dependenzthese), so müsste man die Bemühungen der politischen Akteure um eine vorteilhafte Berichterstattung als aufgenötigte Anpassungsleistung an die Regeln des Mediensystems verstehen und als "reine" Medienwirkungen interpretieren (Oberreuter 1989).
Keine der Extrempositionen beschreibt jedoch das Beziehungssystem zwischen Medien und Politik hinreichend differenziert. Eine angemessene, mittlere Position konzeptualisiert die Beziehung als "komplexe Interaktion zwischen zwei Gruppen von wechselseitig abhängigen und daher anpassungsbereiten Akteuren" (Pfetsch/Schmitt-Beck 1994: 232). Beide Gruppen verfolgen ein gemeinsames globales Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der politischen Kommunikation. Ansonsten haben sie verschiedene, zum Teil entgegengesetzte Intentionen und gehen daher eine Beziehung zum gegenseitigen Nutzen ein, in der routinemäßig Information gegen Öffentlichkeit getauscht wird (Blumler/Gurevitch 1981). Keiner der Akteure hat die Macht, den jeweils anderen zu kontrollieren: "Das politische System ist zwar auf die Kapazitäten des Mediensystems zur Verbreitung von Informationen angewiesen. Dieses gewinnt aber keine Machtposition, weil es kein Sanktionspotential besitzt" (Pfetsch/Schmitt-Beck 1994: 232). Die Medien können ihre Leistung nicht einfach einstellen, da die Informationsvermittlung ihr Daseinszweck ist. "Umgekehrt ist das Mediensystem darauf angewiesen, dass ihm die politischen Eliten Informationen zukommen lassen, um darüber berichten zu können. Da die Bedingungen und Regeln vom Mediensystem selbst gesetzt werden, können auch die Medien nicht verlässlich kontrolliert, sondern nur mehr oder weniger erfolgreich beeinflusst werden" (ebd.).
Das Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen Medien und Politik ist demnach interdependenter Natur und dadurch in seiner ganzen Komplexität schwer zu untersuchen. Autoren und Wissenschaftler, die das Verhältnis von Medien und Politik solchermaßen konzeptualisieren, haben zumeist jedoch nicht individuelle Medienwirkungen auf den Wähler im Visier, sondern betrachten z.B. Wahlkampfkommunikation aus einer Makroperspektive, wie dies etwa Pfetsch/Schmitt-Beck explizit betonen (1994: 233).
Die Komplexität der Beziehungen entsteht bei dieser allgemeinen Betrachtungsweise meines Erachtens aber durch die Vermischung von Zusammenhängen unterschiedlichen Abstraktionsniveaus und unterschiedlicher temporaler Struktur.
Betrachtet man die Beziehungen zwischen Medien und Politik dagegen in einem konkreten "Anwendungsfall" (wie einem Wahlkampf), so lassen sich relevante Beziehungen (oder: Abhängigkeiten, Einflüsse – also Effekte) einfacher und klarer beschreiben.
2.2 Anwendungsfall Wahlkampf
Um die Perspektive dieser Untersuchung deutlich zu machen, ist die schematische Darstellung möglicher Perspektiven hilfreich. Das Feld "Politische Kommunikation" kann – neben der thematischen Begrenzung auf politische Inhalte – anhand der beteiligten Akteure definiert werden. Das Forschungsfeld und die möglichen Beziehungen zwischen den Akteuren lassen sich in einer allgemeinen Betrachtung folgendermaßen grafisch darstellen:
Abbildung 1: Beziehungen im Spannungsfeld Medien und Politik (1)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese einfachste schematische Sicht auf das Forschungsfeld Politische Kommunikation legt eine starke Interdependenz der beteiligten Akteure nahe. Und sicherlich gibt es für alle der möglichen Beziehungsarten auch empirische Hinweise. Wenn man allerdings in Kategorien von konkretem Einfluss eines Akteurs auf den anderen denkt, so sind diese Einflussmöglichkeiten m.E. unterschiedlich stark und relevant. Die Einflussmöglichkeiten des Publikums auf die Medien sind nur sehr bedingt und eher in langfristiger Betrachtung gegeben. Natürlich versuchen die Medien "Strömungen" im Publikum aufzunehmen und zu bedienen, und natürlich haben Journalisten Vorstellungen von "ihrem" Publikum, und natürlich gibt es auch gewisse Formen des Feedbacks vom Publikum (wie z.B. Leserbriefe), so dass man von einer Wirkung des Publikums auf die Medien sprechen könnte. Aber in einer eher kurzfristigen Betrachtung auf gesamtgesellschaftlichem Niveau – wie sie für eine Untersuchung von Medienwirkungen z.B. in einem Wahlkampf nötig ist – ist ein Einfluss des Publikums auf die Medien in einer direkt-kausalen Form kaum plausibel zu argumentieren. Der einflussreichste Feedback-Mechanismus vom Publikum zu den Medien ist sicherlich "der Markt": Das An- oder Abschalten bzw. Kaufen oder Nicht-Kaufen von Medien kann immense Wirkungen auf das Mediensystem entfalten. Diese Marktmechanismen wirken sich allerdings eher langfristig aus und verändern das Gefüge von Medieninhalten und Publikumseinstellungen im Rahmen eines konkreten Wahlkampfes höchstens indirekt.
Auch ein direkter Einfluss des Publikums auf die Politik (gemeint ist hier die politische Elite, also Parteien, Politiker, Institutionen) ist wenig plausibel. Die Beziehung läuft hier vielmehr vermittelt durch die Medien und Bevölkerungsumfragen, die die politische Elite ebenfalls oft über die Medien rezipieren. Während die Bevölkerungsumfragen in "normalen" Zeiten vielleicht eher eine geringere Rolle spielen, ist diese Beobachtung der Meinungen in der Bevölkerung über Parteien, Themen, Kompetenzen, Kandidaten u.ä. in Wahlkampfzeiten sehr ausgeprägt (Radunski 1980, Schulz 1997). Für den klassischen (und elementaren) Feedback-Mechanismus zwischen Publikum und Politik – die Wahl an sich – gelten dieselben Bedingungen wie für die Marktmechanismen zwischen Publikum und Medien: Zwar hat das Publikum (Wähler) mit der Wahl die Macht, das politische System elementar zu verändern, im Rahmen einer Wahlkampfperiode besteht jedoch keine direkte und kurzfristige Beeinflussungsmöglichkeit durch die den Wahlkampf ja erst beendende Wahl.
Eine angemessenere – aber immer noch allgemeine – grafische Darstellung der Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Akteuren ist aus einer kommunikationswissenschaftlichen Sicht daher folgende:
Abbildung 2: Beziehungen im Spannungsfeld Medien und Politik (in Wahlkampfzeiten)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Massenmedien bilden in dieser Sichtweise eine intermediäre Institution der Informationsvermittlung, die in einem interdependenten Aushandlungsprozess mit der politischen Elite Informationen aufgreift und aufbereitet und diese dann dem Publikum sowie der politischen Elite selbst wieder zur Verfügung stellt (Schmitt-Beck 2000: 321).[4] Aber auch diese Darstellung ist noch zu sehr systemtheoretisch orientiert und vermischt unter dem Label "Einfluss" Effekte unterschiedlicher Form, Stärke und Struktur. Am klarsten werden die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren Politik, Medien und Publikum, wenn neben der Konkretisierung des Ereignisses (hier: Wahlkampf) auch eine funktionale Betrachtung erfolgt. So kann die abstrakte Betrachtung "der Beziehungen zwischen Medien, Politik und Publikum" – ein Konstrukt ohne klare Definition – überführt werden in eine Betrachtung "des Prozesses der Politikvermittlung im Wahlkampf" – ein Konstrukt mit klarer Abgrenzung und Zielsetzung, dass trotz seiner Eingrenzungen noch sehr komplex ist. Pfetsch/Schmitt-Beck (1994) haben ein anschauliches Modell dieses Prozesses der Politikvermittlung im Wahlkampf entworfen:
Abbildung 3: Beziehungen im Spannungsfeld Medien und Politik (3): Politikvermittlung im Wahlkampf
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Pfetsch/Schmitt-Beck 1994: 241
Pfetsch/Schmitt-Beck (1994) verstehen die einzelnen Elemente ihres Modells der Politikvermittlung im Wahlkampf als Variablen, die ein Grundgerüst zur empirischen Analyse von Wahlkämpfen darstellen. Die Relationen zwischen den einzelnen Elementen sowie ihr jeweiliges Gewicht sind durch das Modell nicht festgelegt. Das Modell geht davon aus, dass die zentralen Akteure der Kampagnenkommunikation die Parteiführung bzw. die von ihnen bestellten Planungsstäbe aus Kommunikationsspezialisten und -managern sind. Diese politischen Akteure legen Kommunikationsziele und -strategien fest hinsichtlich Themen und Images der Spitzenkandidaten. Zwar erreichen die Parteien Wähler auch direkt über ihre Organisation (öffentliche Versammlungen, persönliche Kontakte mit Parteiaktivisten), den zentralen Kanal der Wahlkampfkommunikation stellt jedoch die "Medienkampagne via Massenkommunikation" dar. Innerhalb der Medienkampagne sind zwei "Vertriebswege" zu unterscheiden: Einerseits nutzen die Parteien die Massenmedien unter Einschaltung professioneller Werbeagenturen als Werbeträger für Anzeigen, Radio- und Fernsehspots. Selektionsfilter im Bereich bezahlter Werbung ("Paid Media") sind lediglich rechtlicher und ökonomischer Natur. Im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten haben die Parteien hier weitgehende Gestaltungsfreiheit. Andererseits steht jedoch der Versuch im Mittelpunkt des Medienwahlkampfes, die tagesaktuelle Berichterstattung der Nachrichtenmedien zu beeinflussen. Die Parteien betrachten die Medien in diesem Zusammenhang als "Free Media", d.h. als potentiellen kostenlosen Werbeträger. Durch die Inszenierung von Pseudoereignissen versuchen die Parteien, die von den Medien vermittelten Inhalte im Sinne ihrer Ziele zu beeinflussen. Allerdings sind die Selektionsfilter der "Free Media" sehr viel umfangreicher und schwieriger zu überwinden. Zu diesen Selektionsfiltern rechnen Pfetsch/Schmitt-Beck Faktoren wie die äußere Struktur der Medien sowie medieninterne Kriterien wie z.B. Nachrichtenfaktoren. Neben den geplanten Pseudoereignissen können genuine Ereignisse der materiellen Politik sowie Umweltkontingenzen die Strategie der Ereignismanagements der Parteien eventuell unterlaufen (Pfetsch/Schmitt-Beck 1994: 240f.).
Die Perspektive dieser Arbeit ist also die Annahme persuasiver Wirkungen der politischen Berichterstattung der Massenmedien auf die politischen Vorstellungen und Verhaltensweisen der Rezipienten. Die vielschichtigen Beziehungen zwischen den Teilsystemen Medien und Politik sind dagegen nicht Gegenstand dieser Arbeit. In dieser Studie soll vielmehr untersucht werden, wie sich die politische Berichterstattung der Massenmedien – wie immer sie zustande gekommen sein mag – auf die Vorstellungen und Verhaltensweisen der Rezipienten auswirkt. Die politische Berichterstattung der Medien wird also als gegeben angenommen und ihr Entstehungsprozess im Spannungsfeld zwischen Medien und Politik nicht weiter verfolgt. Modelltechnisch ausgedrückt heißt das, die politische Berichterstattung wird als Input, als exogene unabhängige Variable betrachtet; als Einflussgröße, die die Vorstellungen der Rezipienten (auf noch zu ermittelnder Art und Weise) beeinflusst.
3 Massenmedien und Wählerverhalten
3.1 Relevante Ansätze der Medienwirkungsforschung
Wähler erhalten ihre Informationen über die "große Politik" fast ausschließlich aus den Massenmedien. Medien nehmen als "intermediäre Institution der Informationsvermittlung" eine zentrale Stellung in der politischen Realitätserfahrung der Wähler ein (Ball-Rokeach 1985, Schmitt-Beck 2000). Daher ist die Frage, ob Massenmedien die Meinungen, Einstellungen oder sogar Verhaltensweisen ihrer Rezipienten verändern können, eine äußerst wichtige Frage. Diese Frage ist in der noch relativ jungen Geschichte der Medienwirkungsforschung unterschiedlich beantwortet worden.
3.1.1 Das Paradigma der mächtigen Medien
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herrschte die Annahme vor, dass die Massenmedien Einstellungen und Verhalten von Wählern direkt und in ihrem Sinne beeinflussen könnten. Diese Sichtweise resultierte nicht zuletzt aus den Erfahrungen mit der Propaganda in den beiden Weltkriegen, weshalb sie auch "Propaganda-Modell" genannt wird (Schmitt-Beck 2000: 321) oder "Paradigma der Wählerpersuasion" (Nimmo/Swanson 1990). Allerdings gab es zu dieser Vermutung starker Medienwirkungen nur wenig empirische Belege. Die immer wieder zitierten "Beweise" – wie zum Beispiel die Wirkung Orson Welles' Hörspiels "Die Invasion vom Mars" oder Kate Smiths Radio-Kampagne für die Zeichnung von Kriegsanleihen – haben oft eher anekdotischen Charakter und tragen sicherlich nicht die weit reichende Interpretation "allmächtiger Medien"[5]. Es ist aus heutiger, kritischer Sicht daher sehr fraglich, ob es die Vermutung der "allmächtigen Medien" überhaupt jemals als allseits anerkanntes Forschungsparadigma gegeben hat. Sicher gab es vereinzelte Äußerungen und Veröffentlichungen, die den Medien extreme Wirkungen zuschreiben – aber die hat es immer gegeben, solange es Medien gibt und wird es wohl auch immer geben. Wenn man allerdings wissenschaftlich-relevante Studien dieser Zeit sichtet – beispielsweise die breit angelegten und methodisch fortschrittlichen Payne-Fund-Studien oder die Yale-Studien von Hovland und Mitarbeitern – zeigt sich, dass nicht von einfachen, direkten und monokausalen Wirkungen der Medien auf die Rezipienten ausgegangen wurde, sondern dass die Abhängigkeit der Effekte von vielen anderen Faktoren, sowohl auf der Medien- als auch auf der Rezipientenseite, immer schon angenommen und in die Untersuchungsmodelle einbezogen wurde. So bezog z.B. Hovland bei den Untersuchungen zur Wirkung von Propaganda und Gegenpropaganda bei amerikanischen Soldaten in den 30er und 40er Jahren bereits viele Merkmale der medial vermittelten Inhalte (Präsentation der Argumente, Abfolge der Argumente, Einseitig- vs. Zweiseitigkeit der Argumente usw.) sowie Merkmale der Rezipienten (z.B. Bildung, vorherige Einstellungen) in seine Studien mit ein und deckte Interdependenzen zwischen Medien- und Rezipientenvariablen auf (Hovland/Janis Kelly 1953, Lowery/De Fleur 1983). Als Wirkungshypothese kann der Forschung dieser Zeit daher nicht die "Allmacht" der Medien unterstellt werden (Chaffee/Hochheimer 1983). Schulz spricht in diesem Zusammenhang von einem "Popanz", der aufgebaut wurde, um scheinbar neuere Thesen über Medienwirkungen "möglichst eindrucksvoll als Paradigmenwechsel erscheinen zu lassen" (Schulz 1997: 179). Auch das S-R-Modell, das den Studien dieser Zeit als Kommunikationsmodell unterstellt wurde (und teilweise immer noch unterstellt wird) war tatsächlich nie das konsensuell verwendete Wirkungsmodell. Brosius/Esser (1998) sprechen diesbezüglich von "Mythen in der Wirkungsforschung". So ist das Kommunikationsmodell schon bei Hovland ein S-O-R-Modell, bezieht also Merkmale der Rezipienten ("O" für Organism) mit in die Genese von Medienwirkungen ein und geht nicht von einem "hypodermic needle"-Denken aus, in dem die Medien bei allen Menschen gleich und direkt wirken würden. Trotzdem wird in der kommunikationswissenschaftlichen Literatur immer wieder die Meinung kolportiert, es habe dieses Paradigma allmächtiger Medien gegeben.
3.1.2 Das Paradigma der "minimalen Effekte"
Die Forschung der 40er und 50er Jahre konnte die vermutete Einflusskraft "mächtiger" Medien empirisch nicht befriedigend nachweisen. Als Beginn der empirischen Wahlforschung ist die Erie-County-Studie "The People's Choice" von Lazarsfeld/Berelson/Gaudet (1944) zu betrachten. Aus dieser Untersuchung – und einigen Anschlussuntersuchungen der Columbia-Schule von Lazarsfeld – wurde abgeleitet, dass die Medien nur einen sehr begrenzten Effekt auf die Einstellungen der Rezipienten haben. Allenfalls konnten sie bereits bestehende Einstellungen verstärken. Neben dieser "Verstärkerthese" oder "These minimaler Medieneffekte" ("minimal effects") wurde aus der Studie auch die "These vom Zwei-Stufen-Fluss" der Kommunikation oder "Meinungsführer-These" abgeleitet. Diese "Meinungsführer-These" besagt, dass politische Einflussnahme häufiger über interpersonale Kommunikation als über die Medien stattfindet, und zwar mit so genannten Meinungsführern, die ihrerseits überdurchschnittlich viele Medienkontakte haben, so dass es zu einen zweistufigen Kommunikationsfluss kommt.
Allerdings ist diese Lesart der Erie-County-Studie (deren Forschungsdesign auch heute noch als beispielhaft angesehen werden kann, Schulz 1997: 177) genau so unangemessen wie die Darstellung eines "Allmachts-Paradigmas" in der vorangehenden Forschungszeit. Die vorurteilsfreie Lektüre der Originalstudien und kritische Nachanalysen späterer Forscher (z.B. Chaffee/Hochheimer 1983, Kepplinger/Maurer 2000) zeigen, dass keine der neuen Thesen durch die Befunde der Erie-County-Studie tatsächlich gedeckt ist. Schulz (1997) weist daraufhin, dass Lazarsfeld diese Thesen auch nicht so stark in den Vordergrund gerückt hatten, "wie es die meisten Exegeten – bis auf den heutigen Tag – glauben machen wollen." (Schulz 1997: 177). Er spricht in diesem Zusammenhang von einer Legendenbildung und macht dafür v.a. die Sekundärliteratur und ihre einseitige Rezeption der Erie-County-Studie verantwortlich – allen voran das viel zitierte Buch von Klapper (1960), der in fast jedem Abriss über die Medienwirkungsgeschichte als Zeuge für das neue Paradigma herangezogen wird.[6]
Lazarsfeld entdeckte in seinen Untersuchungen v.a. die – damals überraschende – starke Prägekraft des Wahlverhaltens durch Prädispositionen. Mit nur wenigen Personenmerkmalen wie sozio-ökonomischer Status, Religion, Wohnort oder Bildung ließ sich die Wahlentscheidung relativ gut vorhersagen. Die Interpretation dieser Befunde war, dass wichtigere, medienunabhängige Faktoren existieren, die das Wahlverhalten erklären können. Allerdings war diese Interpretation stark durch die Erwartungshaltung "allmächtiger Medien" geprägt. Mit einer anderen Erwartungshaltung lassen sich die Ergebnisse von Lazarsfeld auch ganz anders deuten, wie es Kepplinger/Maurer (2000) tun: "Die Befunde dieser aufwendigen Analyse des Einflusses der Medienberichterstattung waren aus heutiger Sicht sensationell: Aufgrund von Kampagneneffekten hatten 17 Prozent der Wähler in der einen oder anderen Weise ihre ursprünglichen Wahlabsichten geändert, weitere 14 Prozent waren durch Kampagneneffekte aktiviert worden. Dagegen waren 53 Prozent weder aktiviert worden, noch hatten sie ihre Meinungen geändert. Sie wurden in ihren bereits gefassten Absichten bestärkt" (Kepplinger/Maurer 2000: 444f.)[7]. Lazarsfeld et al. machten für das Ausbleiben (noch) stärkerer Medienwirkungen vor allem die Selektivität und den Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation[8] verantwortlich.
3.1.3 Was Medienwirkungen hemmt: z.B. Selektivität
Eine wichtige kommunikationspsychologische Begründung für die schwachen Medienwirkungen war (neben der Rolle interpersonaler Kommunikation) die Entdeckung der "Selektivität" innerhalb der Mediennutzung: Rezipienten nutzen danach in den Medien häufig nur die Informationen, die ihren bereits bestehenden Einstellungen entsprechen. Dadurch beschränke sich Medienwirkung auf Verstärkung/Aktivierung bereits bestehender Einstellungen. Einstellungsänderungen/Konversionen können überwiegend vermieden werden.[9] In der Soziologie war die Kleingruppenforschung (Rolle interpersonaler Beziehungen) und in der Psychologie die Theorien der kognitiven Balance (z.B. die Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger 1957) unterstützende Ansätze der Nachbar-Disziplinen. Allerdings wurde eine generelle Selektivitätsannahme durch die empirische Forschung bald widerlegt. In einer Bilanz der relevanten Literatur durch Sears/Freedman (1967) konstatieren die Autoren allenfalls Hinweise auf eine gewisse De-facto-Selektivität, für die es allerdings keine eindeutigen Erklärungen gäbe. Außerdem finden sie sogar gegensätzliche Belege, also Bedingungen, unter denen Menschen Informationen suchen, die ihren Einstellungen widersprechen. Dieses Verhalten kann plausibel mit Neugier-Theorien erklärt werden (Früh 1980: 59f, Schulz 1997: 179).
Insgesamt lassen sich viele Situationen alltäglicher Mediennutzung finden, in denen die Selektivität nicht (oder nur in sehr geringem Umfang) greifen kann. So hat ein Rezipient zu vielen Themen oder Teilaspekten von Themen nicht unbedingt eine vorgefasste Meinung, die aber Vorraussetzung für Selektivität ist. Außerdem muss für den Rezipienten in der konkreten Mediennutzungssituation eine Tendenz des genutzten Inhalts erkennbar sein, damit eine Selektion einsetzen kann. Bei vielen typischen Formen der Mediennutzung ist aber gerade diese Voraussetzung nicht gegeben. Bei der Nutzung von Fernsehnachrichten wird dies besonders deutlich. Die Nutzung von Fernsehnachrichten läuft zum Teil stark habitualisiert ab. Eine Entscheidung (ob bewusst oder unbewusst) für bestimmte Inhalte findet nicht statt. Die Vielfalt der Beiträge und die Darbietungsform (zeitlineares Medium) machen es fast unmöglich, eine inhaltliche Tendenz der kommenden Information auszumachen. Der Rezipient ist den Medieninhalten sicherlich nicht hilflos ausgeliefert, aber eine bewusste Selektion jeder einzelnen Information nach Maßgabe bestehender Einstellungen ist eine unrealistische Annahme - ganz besonders für Fernsehnachrichten.[10] Fernsehnachrichten überwinden die Barriere der selektiven Zuwendung zudem besonders durch ihren qualitativen Status: Sie dienen eher zur Befriedigung von Neugier und Informationsinteressen als der Vermittlung persuasiver Inhalte bzw. Aussagen.
3.1.4 Die kognitive Wende: z.B. Agenda-Setting
Die Probleme mit der Erfassung von Medienwirkungen im Sinne direkter Einstellungsänderungen förderte in der Kommunikationswissenschaft die Beschäftigung mit anderen Dimensionen von Medienwirkungen. Wie auch in der Psychologie rückten in der Kommunikationswissenschaft kognitive Effekte in das Zentrum der Forschungsaktivitäten. In der Kommunikationswissenschaft ist der Agenda-Setting-Ansatz die Folge dieser "kognitiven Wende". Während die Idee dieses Ansatzes bereits in vielen früheren Texten gefunden werden kann (z.B. Trenaman/McQuail 1961, Cohen 1963, Luhmann 1970; aber auch schon bei Lazarsfeld et al. 1944 in den "new issues") und auch schon in Lippmanns Klassiker "Public Opinion" (1922, dort vor allem das Kapitel: "The world outside and the pictures in our heads") vorkommt, gelten als "Väter" des Ansatzes McCombs und Shaw mit ihrer Chapel-Hill-Studie von 1972. Der Agenda-Setting-Ansatz behauptet keine persuasiven Wirkungen der Massenkommunikation auf das Publikum wie z.B. Einstellungsänderungen, sondern er geht von kognitiven Wirkungen der Massenkommunikation aus wie z.B. Wahrnehmungs-/Lerneffekten. Dieser Einfluss der Medien auf die Wahrnehmung von Themen bei den Rezipienten wird als Thematisierungseffekt (awareness model) oder Themenstrukturierungsfunktion (priorities model) bezeichnet (Weiss 1989). Hinter der Trennung von persuasiven und kognitiven Medienwirkungen steht die Vorstellung der Existenz unterschiedlicher Wirkungsdimensionen, die in einer hierarchischen Abfolge zueinander stehen. McCombs und Shaw unterscheiden vier Dimensionen: awareness, information, attitude, behavior (McCombs/Shaw 1977). Die Dimensionen awareness und information bezeichnen kognitive Wirkungen, die Dimensionen attitude und behavior persuasive Wirkungen (Weiss 1989: 474). Demnach findet beim Rezipienten eine "Wirkungskette" statt, deren Glieder voneinander abhängen: Zuerst muss eine Wahrnehmung des Themas stattfinden, um weitere Wirkungen zu ermöglichen (awareness). Dann kann ein Lernprozess einsetzen, der das Wissen, die Kognition des Rezipienten, verändert (information). Erst dann ist eine Wirkung auf die Meinung und das Verhalten des Rezipienten bezüglich des Themas möglich (attitude, behavior). Der Agenda-Setting-Ansatz beschränkt sich auf den ersten Teil dieser Medienwirkungskette. Deshalb müssten Agenda-Setting-Effekte empirisch einfacher nachzuweisen seien als z.B. Einstellungsänderungen. Allerdings bedeutet die Trennung von Wirkungsdimensionen nicht, dass das Agenda-Setting-Konzept eine isolierte Größe darstellt. So schreibt Brosius, dass "Agenda-Setting ... nur die erste Stufe einer mehrstufigen Medienwirkungskette [ist], die bei einfachen Wahrnehmungen und Gewichtungen von Themen beginnt und bei weitergehenden Einstellungs- und Meinungsänderungen endet" (Brosius 1994: 280). Gladys und Kurt Lang hatten dies bereits 1981 formuliert: "What people think may not be as easily separable from what they think about... Many differences of opinion originate from different weights people attach to elements in a complex situation" (Lang/Lang 1981: 449, Hervorhebung A.D.). Um es noch mal zu betonen: Der Agenda-Setting-Ansatz verneint nicht persuasive Wirkungen der Massenmedien. Er untersucht sie lediglich nicht, da er sich auf kognitive Medieneffekte beschränkt. Es geht also um eine andere abhängige Variable als bei der Persuasionsforschung. Allerdings haben alle Agenda-Setting-Forscher die kognitiven Effekte auf Vorstellungen von Rezipienten immer schon als Vorstufe für weiterreichende Medienwirkungen wie z.B. Einstellungsänderungen betrachtet.
Nach Ansicht vieler Forscher war der Agenda-Setting-Ansatz lange Zeit keine eigenständige Theorie, sondern eher eine Wirkungsform, die in allgemeinere Medienwirkungstheorien integriert werden kann (stellvertretend für viele: Brosius 1994: 285). Mittlerweile halten jedoch viele Forscher das "theoretische Unterfutter" für ausreichend (Iyengar 1991, Schmitt-Beck 2000). Demnach kann Agenda-Setting als Tendenz der Menschen interpretiert werden, die Komplexität ihrer Umwelt durch Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik zu reduzieren (Ottati/Wyer 1990: 201, Iyengar 1991: 130f, Schmitt-Beck 2000: 323): In komplexen Entscheidungssituationen können nicht jederzeit alle relevanten Informationen berücksichtigt werden, sondern Menschen benutzen vor allem die im Moment der Entscheidung gedanklich besonders leicht zugänglichen Informationen als Entscheidungsgrundlage. Dieses "Top-of-the-head"-Phänomen besagt also, dass Urteile nicht durch Abwägen aller relevanten Informationen, sondern spontan anhand der "frischesten" und am leichtesten verfügbaren Eindrücke und Erinnerungen getroffen werden (Taylor/Fiske 1978, Schulz 1997: 215). Da Medien-Informationen außerordentlich leicht verfügbar sind, kann davon ausgegangen werden, dass wichtige "Medien-Themen" auch immer "top of the head" sein werden.
Die Verfügbarkeitsheuristik als theoretische Erklärungsgrundlage für Agenda-Setting macht gleichzeitig deutlich, wie eng dieses Konzept – das gedacht war, um "jenseits des Paradigmas der Wählerpersuasion" (Nimmo/Swanson 1990) Medienwirkungen zu erkunden – doch wieder an persuasiven Wirkungen angelehnt ist.
3.1.5 Rückkehr zu persuasiven Medienwirkungen: z.B. Priming und Framing
Ansätze, die diese persuasiven Implikationen des Agenda-Setting-Ansatzes weiterverfolgten und ausbauten sind das "Priming"-Konzept und der "Framing"-Ansatz.
Priming bedeutet im Wahlkampfzusammenhang, dass die Wähler Parteien oder Kandidaten besonders stark anhand der Kategorien (Themen, Ereignisse) bewerten, die sie (kurz) zuvor in den Medien wahrgenommen haben (Schulz 1997: 199). Theoretische Begründung ist auch hier die Verfügbarkeitsheuristik. Priming wird nach dieser Sichtweise als ein Folgeeffekt von Agenda-Setting betrachtet, der den Medien eben doch einen politischen Einfluss zuschreibt, nun aber eine "indirekte, kognitiv vermittelte Form des politischen Einflusses" (Schmitt-Beck 2000: 323f.).[11] Ähnlich verhält es sich beim Framing. Hier werden die Wähler durch die Art und Weise, wie politische Ereignisse in den Medien präsentiert werden, beeinflusst. Medien beeinflussen also nicht nur die Agenda der Themen, sondern auch die Agenda der Attribute, also der zugeschriebenen Eigenschaften von politischen Themen und Ereignissen oder Akteuren. McCombs/Estrada (1997) sprechen daher von einer "zweiten Dimension" der Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien und sehen weit reichende Folgen für die Medienwirkungsforschung: "…the media may not only tell us what to think about, they also may tell us how and what to think about it, and even what do about it" (McCombs/Estrada 1997: 239f.). Allerdings bleiben die Forscher die empirischen Belege für solch weit reichende Behauptungen schuldig. Daher ist das Zitat eher als Anlehnung an Cohens berühmte Bemerkung zu sehen, in der er bereits 1963 – lange vor der eigentlichen "Entdeckung" der Agenda-Setting-Funktion" – zusammenfasst, dass die Medien vielleicht nicht vorschreiben, was wir über bestimmte Themen zu denken haben (=persuasive Medienwirkung), aber dass sie sehr erfolgreich darin sind, uns zu sagen über welche Themen wir überhaupt nachdenken (=Agenda-Setting).
Der große Erfolg des Agenda-Setting-Ansatzes – vor allem in der empirischen Medienwirkungsforschung – hat zu vielen Varianten des ursprünglichen Konzeptes geführt, von denen Priming und Framing nur zwei sind. Weaver/Graber/McCombs sprachen z.B. schon 1981 vom "Image Agenda Setting": Bei personalisierten politischen Vorgängen nähmen die Medien über die Thematisierungsfunktion hinaus auch diese Funktion des "Image Agenda Setting" wahr. Indem sie über einen Kandidaten berichten, ihn beurteilen und bewerten, konstruieren sie ein Bild von ihm. Diese Urteile sind im Allgemeinen subjektive Einschätzungen persönlicher Qualitäten der Kandidaten seitens der Journalisten. Durch ihre besondere Stellung (z.B. persönliche Kontakte mit Politikern) können die Journalisten ein Medien-Image der Kandidaten kreieren, welches natürlich nicht folgenlos bleibt für das Bild der Kandidaten in den Köpfen der Wähler und damit letztendlich für deren Wahlentscheidung.
Die analytische Unterscheidung z.B. zwischen Agenda-Setting-Effekt und Framing-Effekt oder zwischen erster Dimension (Themen) und zweiter Dimension (Attribute) ist allerdings schwierig. Das, was bei der einen Studie eine Eigenschaft eines Themas ist (Framing), kann bei einer anderen Studie ein eigenes (Unter-)Thema sein (Agenda-Setting). Hier tritt allerdings keine neue Problematik zutage, sondern dies ist nur der Ausdruck eines generellen Problems beim Agenda-Setting-Ansatz, nämlich der Definition von "Thema" (oder "Issue"; vgl. Diskussion bei Dams 1996: 8f.). Weiss schlägt hier eine pragmatische Lösung vor: "… Ad-hoc-Unterscheidungen, die zum Teil durch den Gegenstand selbst, zum Teil jedoch auch durch den Stil begründet sein können, in dem der Gegenstand in den Medien thematisiert wird" (Weiss 1989: 476) Auch an dieser Formulierung wird deutlich, dass das Thema und sein "Frame" manchmal schwer voneinander zu trennen sein mögen. Einige empirische Studien haben in der Folgezeit die verschiedenen Agenda-Setting-Effekte daher auch im Verbund untersucht (z.B. Allen/O'Loughlin/Jasperson et al. 1994: The media and the gulf war: Priming, Framing, and the Spiral of Silence; Iyengar/Simon 1997: News Coverage of the Gulf Crisis and Public Opinion. A Study of Agenda Setting, Priming, and Framing.).
Auf jeden Fall haben diese konzeptionellen Erweiterungen des Agenda-Setting-Ansatzes zu einer "Wiederbelebung " der Untersuchung persuasiver Medienwirkungen geführt – anfänglich "gewissermaßen durch die Hintertür" (Schmitt-Beck 2000: 322), später jedoch immer offener und selbstbewusster. Schmitt-Beck formuliert: "Diese jüngeren Ansätze beschreiben, wie die Berichterstattung der Massenmedien auf indirektem, über die Vorstellung der Wähler vermitteltem Wege doch subtile Auswirkungen auf deren Entscheidungsverhalten nach sich ziehen kann." (Schmitt-Beck 2000: 322).
3.1.6 Fazit: Die Wiederbelebung der Untersuchung massiver Medienwirkungen
Man könnte also sagen, der "Kreis der Medienwirkungsforschung" hat sich geschlossen: Nach den ursprünglichen Befürchtungen "allmächtiger Medien", erbrachte die Beschäftigung mit der Beeinflussbarkeit von Wählern durch Propaganda als Ergebnis die "These der minimalen Medienwirkungen". Die Wirkungsforschung regenerierte sich dann durch begrenzte Konzepte des Medieneinflusses (z.B. Wissenserwerb, Agenda-Setting und Priming) Nachdem diese Ansätze ausdifferenziert waren, wurde die Diskussion "massiver Wirkungen" wiederbelebt (Iyengar 1997: 215f.). Zaller (1996) spricht von der "Wiederbelebung des Mythos massiver Medienwirkungen" und von "neuer Unterstützung für eine in Verruf geratenen Idee" ("The Myth of Massive Media Impact Revived: New Support for a Discredited Idea", Zaller 1996, Titel der Arbeit).
Viele Forscher gehen heute also wieder unvoreingenommen und ohne Berührungsängste mit dem Thema "starke Medienwirkungen" um (u.a. Page rt al. 1987, Ansolabehere/Behr/Iyengar 1993, Bartels 1993, Miller/Krosnick 1996, Mutz/Sniderman/Brody 1996, Zaller 1996, Graber 1997, Iyengar/Reeves 1997, Iyengar/Simon 1997, Petrocik 1997, Schulz 1997, Iyengar/Simon 2000, Schmitt-Beck 2000). Auf der Basis umfangreichen Wissens über Abhängigkeiten und Einschränkungen von Medienwirkungen werden vor allem die Effekte von Wahlkampagnen wieder verstärkt auf persuasive Wirkungen hin untersucht. Die Zeit der Beschränkung auf rein kognitive Effekte scheint endgültig überwunden. Die Trennung zwischen kognitiv und persuasiv ist oft auch eine eher theoretische Unterscheidung, die viel mit methodischen und konzeptionellen Problemen der Kommunikationswissenschaft zusammenhängt. Iyengar/Simon (2000) sprechen von "roadblocks", die zur Seite geräumt werden müssen und entwerfen neue Forschungsperspektiven, speziell für die Untersuchung von Wahlkampf-Effekten.
Als konzeptionelle "roadblocks" bemängeln Iyengar und Simon die frühere Begrenzung auf Persuasionseffekte im Sinne direkter Änderungen der Wahlabsicht. Hier habe die These der "minimalen Wirkungen" eine "gewisse Validität" ("some validity", Iyengar/Simon 2000: 151), da Kampagneninhalte überwiegend die Parteibindung der Wähler aktivieren und nur selten zu konkreten Änderungen der Wahlabsicht führen. "Überwiegend" und "selten" sind jedoch relative Begriffe und Schmitt-Beck (2000) kommt in seiner Untersuchung "Politische Kommunikation und Wählerverhalten" beim internationalen Vergleich von BRD, USA, Großbritannien und Spanien zu einer positiveren Schlussfolgerung, was die Persuasionseffekte von Massenmedien im Wahlkampf angeht, obwohl auch er herausfindet, dass Meinungs verstärkung häufiger als Effekt auftritt als Meinungs änderung: "… medienvermittelte politische Informationen … werden eher akzeptiert, wenn sie mit den Prädispositionen ihrer Rezipienten in Einklang stehen. Daraus folgt, dass Aktivierungen stets wahrscheinlicher sind als Konversionen, ausgeschlossen sind letztere aber keineswegs. Die Einflusspotentiale der Massenkommunikation sind substantiell, und sie werden bei reichweitenstarken Medien auch in beachtlichem Umfang realisiert" (Schmitt-Beck 2000: 361). Es ist also von der Perspektive des Betrachters abhängig, ob ein Effekt als stark oder schwach eingeschätzt wird.
Iyengar/Simon (2000) halten andere Kampagnen-Effekte für wichtig, die durch die Beschränkung auf das Wahlverhalten bislang vernachlässigt wurden: Effekte auf die Wahlbeteiligung, die Vermittlung von Wissen/Informationen, die Kontrolle über diskutierte Wahlkampfthemen ("Agenda-Control") oder die Veränderung der Kriterien für die Kandidatenbewertung (Priming). Als wichtigsten Effekt sehen sie die Wirkungen auf die Wahlbeteiligung, da durch Änderungen von Größe und Zusammensetzung des Elektorats die Verteilung der Kandidatenunterstützung verändert werden kann. Besonders interessant ist jedoch ihr Hinweis, warum Persuasion als Medieneffekt in den typischen Wahlstudien minimal sein muss: Die typische Wahlkampfrezeption eines Wählers umfasst immer "offsetting messages", d.h. Medieninhalte mit gegensätzlichen Wirkungspotentialen konkurrieren miteinander und neutralisieren sich dadurch gegenseitig. Beobachtbare Effekte können demnach nur auftreten, wenn ein politischer Akteur in Bezug auf Fähigkeiten und/oder Mittel deutlich überlegen ist. Diese Konstellation halten die Autoren bei den Präsidentschafts-Kampagnen aber für äußerst selten, so dass die meisten Studien zu einem scheinbaren Nullergebnis kommen müssen, was die Persuasionsmacht von Medienbotschaften angeht. Diese Sichtweise hat weit reichende theoretische Konsequenzen: Die These der "minimal effects" wäre demnach nicht Ausdruck schwacher Medienwirkungen, sondern die Folge methodischer Probleme bei der Isolation von Effekten. Zaller (1996) hat dies besonders plastisch veranschaulicht – er vergleicht die Situation mit einem Tauziehen: Wenn zwei Parteien mit starker Kraft an jeder Seite des Taus ziehen, könne man auch nicht von "keinem Effekt" sprechen, nur weil das Seil sich nicht bewegt. Man müsse sich nur einmal vorstellen, was passieren würde, zöge eine Seite plötzlich nicht mehr am Seil. Zaller fasst zusammen: "… it is a serious mistake for scholars to conflate mutually canceling effects with nonexisting or only "minimal" effects." (Zaller 1996: 37). Iyengar/Simon (2000) und Zaller (1996) kommen also zu ähnlichen Schlussfolgerungen, wobei Iyengar/Simon auf der theoretischen Ebene bleiben und oft aus der Sicht eines Kampagnen-Managers argumentieren. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das "hypodermic model" die Wirkungen von Kampagnen nicht adäquat abbilden kann, befürworten sie eine Sichtweise, die die Wichtigkeit von Rahmenbedingungen und die strategischen Logik von Kampagnen beachtet. Diese Sichtweise fassen sie in zwei Modellen zusammen: "Resonanz-Modell" und "Strategisches Modell". Resonanz bezieht sich dabei auf die Interaktion von Wahlkampfinhalten mit den Einstellungen der Wähler. Beginnend mit der (altbekannten) Erkenntnis, dass Wahlkampagnen vor allem dazu dienen, die eigenen (Stamm-)Wähler an sich zu binden ("reinforce voters' partisanship"), wird dieses Konzept ausgedehnt auf weitere "Resonanzen", also Interaktionen, die eine Wirkung der Kampagneninhalte begünstigen: So werden z.B. bestimmte Themen traditionell eher mit bestimmten Parteien in Beziehung gebracht (z.B. in den USA: Bildung eher mit den Demokraten, Steuern eher mit den Republikanern). Kampagnen sind nach Iyengar/Simon erfolgreicher, wenn die Parteien "ihre Themen" ins Rampenlicht setzen können. Das gilt neben der Parteizugehörigkeit auch für das Geschlecht: Weibliche Kandidaten kommen bei Themen wie Familie oder Erziehung besser weg, männliche Kandidaten eher bei Kriminalität oder Verteidigung. Das Resonanz-Modell steht also für die Erkenntnis, dass Kampagnen nicht im Vakuum ablaufen, sondern auf die Wahlmotive und Einstellungen der Wähler treffen und sich dort integrieren lassen müssen. Daher sind diese Wirkungen "inhärent interaktiv" - entweder sind Interaktionen zwischen Inhalt oder Quelle der Kampagneninhalte und der Parteisympathie des Wählers beteiligt oder es sind Interaktionen höherer Ordnung beteiligt, die individuelle Unterschiede bei der Rezeption von Kampagnen-Aussagen einfangen (Iyengar/Simon 2000: 158-160). Auch das "Strategische Modell" spezifiziert Kampagnen-Effekte als Interaktionen, fokussiert aber auf die Konkurrenz zwischen "message strategies". Diese Sichtweise stellt die Möglichkeit in Rechnung, dass strategische Interaktionen zwischen den konkurrierenden Kandidaten und zwischen den Kandidaten und den Medien unterschiedliche "Kampagnen-Kontexte" herstellen (Zaller 1996: 161). Diese beiden Sichtweisen (Resonanz- bzw. Strategisches Modell) schließen sich nicht gegenseitig aus, aber ihr Schwerpunkt ist jeweils ein anderer; das Resonanz-Modell fokussiert vor allem auf die Handlungen der Kandidaten gegenüber den Wählern, und die Handlungen der Gegner werden nur wenig beachtet. Das Strategische Modell sieht dagegen die Effekte jeder einzelnen Aussage als bedingt durch die Effekte anderer "Elite-Akteure"; daher sind im Gegensatz zur Hypodermic-Perspektive die Kandidaten und Medien eher abhängige, interdependente Akteure als autonome Kontrahenten. Strategische Größen sind vor allem die "verhältnismäßige Lautstärke" einer Kampagne (Umfang, Beachtungsgrad) sowie das individuelle Niveau politischer Beteiligung des Rezipienten. Konkreter ausgedrückt: Manche Kampagnen sind lauter als andere und manche Leute hören eher zu als andere. Die Kombination dieser strategischen Variablen (Kampagnen-"Lautstärke" und politisches Involvement des Wählers) hat wichtige Konsequenzen für die Untersuchung von Kampagnen-Effekten.
Im Übrigen sprechen Iyengar/Simon auch das Problem der Auswahl des richtigen Zeitpunkts für eine Untersuchung von Medienwirkungen an. Die meisten Studien beginnen ihrer Ansicht nach zu spät – nämlich erst in der "heißen Wahlkampfphase", wo Meinungen oft bereits gebildet sind. Viele relevante Ereignisse für die Meinungsbildung – vor allem über Kandidaten – finden jedoch vor der letzten heißen Wahlkampfphase statt (bei ihnen z.B. in den Primaries). Diese Beobachtung, die viele deutsche Wahlforscher, war einer der Gründe für die Anlage der empirischen Untersuchung dieser Arbeit in der vorliegenden Form: Statt auf einen Zeitraum festgelegt zu sein, kann man sich mit den vorliegenden Daten einen Zeitraum "herausschneiden", der besonders geeignet ist, Medienwirkungen aufzuspüren.
3.2 Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens
In der modernen Demokratietheorie ist die Ausübung des Stimmrechts bei Wahlen das Kernelement der Staatsbürgerrolle. Die Wahl der politischen Führung durch die Bürger ist der zentrale Prozess im demokratischen System, der die Demokratie von allen anderen politischen Systemen unterscheidet. Wahlen dienen vor allem der Artikulation politischer Präferenzen, der Machtverteilung und -kontrolle, der politischen Integration und der Innovation, damit eng verknüpft ist die Legitimationsfunktion von Wahlen (stellvertretend für viele andere: Kaltefleiter/Nissen 1980: 21f., Woyke 1994: 18f., Gabriel 1999: 435f.) "Wahlen sind damit die zentrale demokratische Veranstaltung, mit der die ansonsten herrschaftsunterworfenen Staatsbürger selbst Herrschaft ausüben" (Pappi 2000: 85).
Entsprechend dieser herausragenden Rolle von Wahlen in demokratischen Staaten hat die Untersuchung des Wahlverhaltens eine lange Tradition und umfasst unzählige Studien. Versuche, die hauptsächlichen Theoriestränge dieses Feldes zu systematisieren, gibt es entsprechend häufig (z.B. Falter/Schumann/Winkler 1990, Bürklin/Klein 1998, Roth 1998, Gabriel/Holtmann 1999, Kaase 2000). Sie unterscheiden meist zwischen drei verschiedenen theoretischen Erklärungsansätzen: dem "klassischen" sozialstrukturellen Ansatz, dem sozialpsychologischen Ansatz sowie dem Rational-Choice-Ansatz.
Die drei Theoriestränge sind nicht in dem Sinne als Konkurrenten zu verstehen, als dass sie unterschiedliche Erklärungsansätze anbieten, die sich gegenseitig ausschließen. Sie sind historisch gewachsen, entstammen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und bieten daher unterschiedliche Sichtweisen auf das interdisziplinäre Phänomen "Wahlverhalten". Ein "Theorienstreit" kann daher nicht die angemessene wissenschaftliche Vorgehensweise zu Untersuchung von Wahlverhalten sein. Vielmehr muss geprüft werden, wie die verschiedenen Erkenntnisse aus eher soziologisch, eher sozialpsychologisch oder eher ökonomisch orientierten Wahlstudien gewinnbringend zusammengeführt werden können. In der Wissenschaftspraxis ist daher heute kaum eine Studie anzutreffen, die nur einen der genannten Ansätze in Reinform als untersuchungsleitende Theorie benutzt. Vielmehr ist ein Vorgehen anzutreffen, das als eklektisch oder interdisziplinär zu bezeichnen ist: Aus den einzelnen Ansätzen werden die Teile zusammengeführt, die aus der Sicht der jeweiligen Forscher die besten Erklärungen für das Wahlverhalten der Bürger darstellen. Kaase (2000: 28f.) formuliert im ersten Beitrag des Sammelbandes "50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland" (Klein/Jagodzinski/Mochmann/Ohr 2000) zum Thema "Entwicklung und Stand der Empirischen Wahlforschung in Deutschland" dementsprechend: "Man wird […] den Vertretern dieser unterschiedlichen Theoriepositionen [sozialstrukturell, sozialpsychologisch, rational choice; AD] kein Unrecht zufügen, wenn man feststellt, dass in der deutschen wie übrigens auch der europäischen Wahlforschung der sozialstrukturelle und der sozialpsychologische Theoriestrang – übrigens aus guten sachlich-historischen Gründen – spätestens seit der Kölner Wahlstudie 1961 gemeinsam die konkreten Fragestellungen und Datenerhebungen angeleitet haben und der Rational-Choice-Ansatz bisher eher dateninterpretierend als erhebungssteuernd gewirkt hat, wenn man einmal von den auf Downs zurückgehenden Modellen der räumlichen Parteienkonkurrenz in der Umsetzung in Distanz- und Richtungsmodell absieht". Die folgende Darstellung der drei Haupterklärungsansätze in einzelnen Kapiteln heißt also nicht, dass sie scharf voneinander abgegrenzt werden müssen. Verschiedene Ansätze entstehen zwar oft in Abgrenzung voneinander – so ist der sozialpsychologische Ansatz als Alternative zum soziologischen Ansatz entstanden (siehe im entsprechenden Kapitel) – jedoch bedeutet die "Entdeckung" weiterer, bislang vernachlässigter Erklärungsfaktoren nicht automatisch, dass die bisherigen Einflussgrößen plötzlich ohne Wirkung sind. Es handelt sich weniger um eine substitutive als vielmehr um eine komplementäre Beziehung zwischen verschiedenen Ansätzen: Jeder Ansatz bringt andere Mosaiksteinchen, die zusammengenommen vielleicht irgendwann ein Gesamtbild entstehen lassen.
3.2.1 Der soziologische oder sozialstrukturelle Ansatz
Sozialstrukturelle Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens gehen davon aus, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und weitgehend durch seine Umwelt bestimmt wird. Dabei kann eine individuell orientierte, mikrosoziologische Sicht und eine gesamtgesellschaftliche, makrosoziologische Perspektive unterschieden werden.
Das mikrosoziologische Erklärungsmodell geht auf die bereits erwähnte Untersuchung von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet "The People's Choice"[12] zurück. Als Soziologe hatte Lazarsfeld mit seiner "Columbia School" die Theorie der sozialen Kreise (Simmel 1989, erstmals 1890) auf Wahlverhalten übertragen. Soziale Lebenskontexte wie ökonomischer Status, Religion, Wohnort, Beruf, Alter definieren demnach soziale Kreise, die einen Einfluss auf die Wahlentscheidung haben. Jeder soziale Kontext übt einen Anpassungsdruck auf das Individuum aus, weil der einzelne mit seiner sozialen Umwelt in einem möglichst spannungsfreien Verhältnis leben möchte.[13] Die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen erzeugt dadurch ein weitgehend homogenes (Wahl-)Verhalten: "voting is essentially a group experience" (Lazarsfeld et al. 1944: 137; Wüst 2000: 3). Die wichtigsten sozialen Kontexte fasste Lazarsfeld in einem Index der "politischen Prädisposition" zusammen. Hierbei handelt es sich um den sozioökonomischen Status, die Religion und die Wohngegend. Die sozialstrukturell bedingte politische Prädisposition konnte die Wahlentscheidung relativ gut vorhersagen. Lazarsfeld et al. zogen daher die viel zitierte Schlussfolgerung: "A person thinks politically as he is socially." Soziale Merkmale bestimmen also die politischen Präferenzen (Lazarsfeld et al. 1944: 27). Lazarsfeld et al. hoben außerdem die Bedeutung des Primärumfeldes (Familie, Freunde, Berufskollegen) und der damit verbundenen Kommunikationsmuster für das politische Verhalten hervor. Der "Columbia-Ansatz" kann daher als "sozialisationstheoretisches Konzept" eingestuft werden (Gabriel 1999: 482). Allerdings sind moderne Gesellschaften durch eine starke soziale und räumliche Mobilität geprägt, so dass Individuen einerseits weniger stark an einzelne Gruppen gebunden und andererseits immer Mitglied in verschiedenen Gruppen sind. Dadurch wirken auf den Einzelnen verschiedene, teilweise auch entgegengesetzte soziale Kräfte, was Lazarsfeld et al. als "Cross Pressure" bezeichnet haben. Diese "Inkonsistenzen" führen zu einer Verzögerung der Wahlentscheidung, zu einer Wahlenthaltung oder erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines wechselnden Wahlverhaltens (Gabriel 1999: 482; Wüst 2000: 4). Spätere Studien der Columbia School haben die Wirkungen der politischen Prädisposition und von Cross-Pressure-Situationen immer wieder bestätigt. Auch in deutschen Wahlstudien konnte bis in die jüngste Zeit immer wieder die grundsätzlich starke Beeinflussung des politischen Verhaltens des Einzelnen durch sozialstrukturelle Faktoren gezeigt werden.
Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive nimmt dagegen der makrosoziologische Ansatz von Lipset/Rokkan (1967) ein. Ihre "Theorie der sozialen Konflikte" (oder: "sozialstruktureller Cleavage-Ansatz", Gabriel 1999: 471) macht nicht die soziale Einbindung des Individuums in Gruppen, sondern die typischen Konflikte in einer Gesellschaft für die Herausbildung von bestimmten Parteiensystemen (und damit für die Verteilung von Stimmanteilen bei einer Wahl) verantwortlich. Große gesellschaftliche Konflikte bildeten demnach sozialstrukturell abgrenzbare Konfliktgegnerschaften heraus, die wiederum von den politischen Parteien mobilisiert werden konnten. So führen "Konfliktlinien" auch zu Parteilinien, also zu unterschiedlichen Stimmanteilen von Parteien bei den jeweiligen Anhängerschaften der Konfliktgegner. Anders ausgedrückt: ""Cleavage Structures" – Interessen- und Wertgegensätze in der Gesellschaft – konnten so ihren Niederschlag in "voter alignments" – im Wahlverhalten der Bürger – finden" (Schmitt 2001: 623). Vier auch heute noch mit unterschiedlichem Gewicht wirksame Hauptspannungslinien sind:
2 (1) der Zentrum-Peripherie-Konflikt, der sich auf den Reformationskonflikt im 16. und 17. Jahrhundert, den daran anschließenden Prozess der Nationenbildung und die damit verbundene Machtverschiebung von den alten auf die neuen Willensbildungszentren bezieht;
3 (2) der Konflikt zwischen Staat und Kirche, der sich über die Konfliktfelder Säkularisierung sowie kirchlicher gegenüber staatlicher Kontrolle des Bildungswesens spannt;
4 (3) der Stadt-Land-Konflikt, der in der entstehenden Industrialisierung die Differenzen zwischen Landbevölkerung und städtischem Bürgertum widerspiegelt (primärer versus sekundärer Sektor der Wirtschaft);
5 (4) der heute noch in fast allen europäischen Staaten wirksame Klassenkonflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern.
Diese Konfliktlinien spannen einen Raum auf, in dem Parteien positioniert werden können. In der Darstellung werden die vier Konflikte oft im zweidimensionaler Raum verortet mit einer sozio-kulturellen (Staat-Kirche, Zentrum-Peripherie) und einer sozio-ökonomischen "Konfliktachse" (Stadt-Land, Arbeit-Kapital)[14]. Das Cleavage-Konzept lässt sich damit als ein Ansatz interpretieren, der auf Sozialisations- und Ressourcenfaktoren abhebt (Gabriel 1999: 483).
Und nach wie vor steht das Wahlverhalten einzelner gesellschaftlicher Gruppen (in den alten Bundesländern) im Einklang mit den Annahmen der Cleavage-Theorie (Gabriel 1999: 483). Allerdings ist die Zuordnung von Cleavages und Parteien nicht statisch. Der Bedeutungsverlust gesellschaftlicher Gruppen mit historisch gewachsenen Parteiloyalitäten wird in der Wissenschaft unter dem Schlagwort "Dealignment" intensiv diskutiert und ist eine empirisch hinreichend belegte Annahme (v.a. Dalton et al. 1984, Dalton 1984, 1988, Dalton/Rohrschneider 1990. Kaase spricht in diesem Zusammenhang von "common wisdom" (Kaase 2000: 30). Allerdings greift er diesen "common wisdom" sofort an, in dem er auf "differenzierte komparative Analysen" in dem von Evans (1999) herausgegeben Buch "The End of Class Politics?" verweist. Dort wird ein vielschichtiges, die These keineswegs durchgängig bestätigendes Bild entworfen. Insbesondere wird die Abhängigkeit der Ergebnisse von theorieadäquaten Operationalisierungen von "sozialer Klasse" und von gewählten Analyseverfahren deutlich (ebd.). Einer der Aufsätze kommt daher zu dem Schluss, dass es ziemlich unangebracht wäre, von einer deutlichen Abschwächung der Relevanz der sozialen Position auf das Wahlverhalten zu sprechen (Müller 1999:177).
Umstritten bleibt auch die Erklärung bzw. Konsequenz der Beobachtung des Bedeutungsverlust gesellschaftlicher Gruppen: Behalten die traditionell einer bestimmten Partei verbundenen Wählergruppen im Laufe der Zeit ihre angestammten Loyalitäten bei oder lockern sich die Koalitionen der Parteien mit den bestimmten gesellschaftlichen Großgruppen (oder lösen sie sich gar auf)? (Gabriel 1999: 484). Sicher ist zumindest, dass sich der seit längerem erkennbare Trend zur "Entsäulung" des Parteiensystems (Gabriel 1999: 484) fortsetzt (und verstärkt, insbesondere wenn man das Wahlverhalten der Bevölkerung in den neuen Bundesländern dazu nimmt) und dass die Parteien daher kaum noch damit rechnen können, nur durch die Mobilisierung ihrer Stammwähler Wahlen gewinnen zu können. Personen ohne langfristig stabile Parteibindung und Wechselwähler werden als strategische Größe immer wichtiger. Der Wahlentscheid dieser Gruppen ist jedoch stark von mittel- bis kurzfristigen Faktoren abhängig. Hier wurden bislang vor allem die Sachkompetenz der Parteien sowie deren Kandidatenangebot als Einflussgrößen identifiziert. Ein Ansatz, der die Abhängigkeit des Wahlentscheids von diesen von Wahl zu Wahl neu bewerteten Größen explizit untersucht, ist der sozialpsychologische Ansatz.
3.2.2 Der sozialpsychologische Ansatz
Während der sozialstrukturelle Ansatz sowohl in seiner mikrosoziologischen Variante (Lazarsfeld, Columbia School: Index der politischen Prädispositionen, s.o.) als auch in seiner makrosoziologischen Variante (Lipset/Rokkan: Theorie der sozialen Konflikte, s.o.) Wahlverhalten überwiegend durch gesellschaftlichen Kontext erklärt (soziale Gruppenzugehörigkeit bzw. gesellschaftliche Konflikte), stellte eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern an der University of Michigan in Ann Arbor das Individuum selbst stärker in den Mittelpunkt der Erklärung. Ihre Untersuchungen des Wahlverhaltens in den US-Präsidentschaftswahlen 1948 und 1952 (Campbell/Gurin/Miller 1954: The Voter Decides) und anlässlich der Kongresswahlen 1954 und der Präsidentschaftswahlen 1956 (Campbell/Converse/Miller/Stokes 1960: The American Voter – Das "Hauptwerk" des Ansatzes) brachten neben der Beachtung individualpsychologischer Erklärungsfaktoren auch zwei methodische Erweiterungen: Zum einen wurden landesweite Umfragen durchgeführt (statt eng begrenzter County-Umfragen der Columbia School) und zum anderen fand die Zufallsauswahl Eingang in die Stichprobenziehung (statt des Quotaverfahrens bei Lazarsfeld).
Der sozialpsychologische Ansatz dieser Forscher-Gruppe wird wegen seiner Herkunft auch "Michigan-Modell" (Schmitt-Beck 2000) genannt oder "Ann-Arbor-Trias" (Kaase 2000), da er drei Variablen als erklärende Faktoren ins Zentrum des Modell stellt: Das Wahlverhalten lässt sich aus Sicht dieses Ansatzes aus einer langfristig entstandenen und ebenso wirkenden "Parteiidentifikation" und zwei eher kurzfristig gebildeten und wahlspezifisch wirksam werdenden Einflussfaktoren – der Orientierung an Sachthemen (Issues) und an Kandidaten – prognostizieren. Den "soziologischen Variablen" (wie z.B. der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen bei Lazarsfeld) wird zwar der unmittelbare Einfluss auf das Wahlverhalten abgesprochen, sozialstrukturelle Gegebenheiten der Wähler finden jedoch trotzdem Beachtung im sozialpsychologischen Ansatz, da die Variable "Parteiidentifikation" als Summe aller für das Individuum persönlich und politisch relevanten, vorgelagerten Erfahrungen definiert ist. Die Parteiidentifikation kann daher als sozialpsychologisches Äquivalent zum sozialstrukturell festgelegten index of political predisposition der Columbia School verstanden werden, da beide Konzepte dazu dienen, die für die Forscher anfänglich überraschende Kontinuität im Wahlverhalten zu erklären (Falter et al. 2000: 237).[15] Die Parteiidentifikation wird als "psychologische Parteimitgliedschaft" verstanden, als Destillat eines Kausalitätstrichters ("funnel of causality"), in den die persönlichen und politischen Erfahrungen des bisherigen Lebens eingeflossen sind (Campbell/Converse/Miller/Stokes 1960: 24f). Dabei geht die Ann Arbor Schule davon aus, dass die Parteiidentifikation in einer frühen Phase der politischen Sozialisation in der Familie intergenerationell übertragen – gleichsam vererbt – wird und sich anschließend durch den Mechanismus der kognitiven Konsistenz des "Attitüdengefüges" im Laufe der Zeit intensiviert (Campbell et al. 1960: 146f; Falter et al. 2000: 238; allerdings widerlegen Falter et al. bei ihren Analysen die Hypothese der Intensivierung von Parteiidentifikationen allein durch die Zeit – es zeigt sich erneut, dass nicht die Zeit, sondern die wiederholte Bestätigung der gleichen (!) Parteiidentifikation durch wiederholtes Wahlverhalten der ausschlaggebende Faktor ist, so wie es Converse bereits 1969 ("Of Time an Partisan Stability") zutreffend analysiert hatte).
Die Messung der Parteiidentifikation – also der Einfluss des "Kausalitätstrichters" auf die Wahlentscheidung – erfolgt sehr spät, nämlich an einer bereits sehr "engen Stelle" dieses Trichters, in zeitlicher Nähe zur Wahl. Daher ist die Parteiidentifikation einerseits von kurzfristigen Einflüssen betroffen (wie der Issue- und Kandidatenorientierung), beeinflusst aber umgekehrt als eine Art Filter die Wahrnehmung und Einschätzung der kurzfristigen Einflüsse. Allerdings sind Kandidatenpräferenzen und Issueorientierungen als kurzfristig gebildete Meinungen größeren Veränderungen und Fluktuationen unterworfen als die Parteiidentifikation, die zwar langfristig nicht unabhängig von diesen Größen ist, aber in der Betrachtung auf eine einzelne Wahl als stabile psychologische Parteibindung verstanden werden kann, die von den kurzfristigen Einflussfaktoren nicht tangiert wird (Campbell et al. 1960: 121f, 183, Bürklin/Klein 1998: 56f, Roth 1998: 40, Wüst 2000: 12).
Das ursprüngliche Erklärungsmodell aus der ersten Studie von Campbell et al. 1954 und seine Ausarbeitungen und Veränderungen lassen sich am besten grafisch erläutern.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Sozialpsychologisches Erklärungsmodell nach Campbell et al.
Quelle: Campbell et al. 1954, 1960, Wüst 2000: 12
Abbildung 4 zeigt sowohl das ursprüngliche Modell, wie es Campbell et al. in "The Voter Decides" 1954 verbal dargestellt haben, als auch die Veränderung 1960 in "The American Voter". Ursprünglich waren die Beziehungen zwischen den Variablen interdependenter Natur – also stand auch die Parteiidentifikation unter dem Einfluss der Issue- und Kandidatenorientierungen. 1960 (The American Voter) wurde die Parteiidentifikation dann explizit als langfristig wirksame Einstellung konzeptioniert, die daher nicht unmittelbar von einer spezifischen Wahlsituation beeinflusst ist und die Issue- und Kandidatenorientierung strukturiert. Dieses Konzept veranschaulicht Abbildung 4, wenn man die grauen Pfeile außer Acht lässt. Von einer Normalwahl (normal vote) spricht Converse (1966), wenn Kandidaten- und Issueorientierung mit der Parteiidentifikation übereinstimmen und der Wahlentscheid entsprechend der Parteiidentifikation erfolgt.
Campbell et al. haben dieses Modell ausgearbeitet und in ein "Six-Component-Model" differenziert. Dabei haben sie die Issue- und Kandidatenorientierungen in einen Satz von sechs Einstellungen zu politischen Faktoren, die jeweils von der Parteiidentifikation beeinflusst werden, operationalisiert.[16] Budge/Crewe/Farlie (1976) haben dieses Modell dann noch um weitere kurz- und langfristige Effekte erweitert: Bei ihnen erhält die soziale Gruppenmitgliedschaft wieder einen eigenen Stellenwert (nicht nur vermittelt über die Parteiidentifikation), vor allem aber werden die Bedeutung des Wahlkampfeinflusses und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in ihren mittelbaren Wirkungen auf die Wahlentscheidung berücksichtigt (Budge/Crewe/Farlie 1976: 6). Dieses erweiterte Erklärungsmodell des "American Voter" zeigt Abbildung 5.
Abbildung 5: Das erweiterte Erklärungsmodell des "American Voter"
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Budge et al. 1976: 6, Bürklin/Klein 1998: 62;
Die Erweiterungen des ursprünglichen Modells wurden jedoch auch kritisiert. Neben der eher methodischen Kritik, dass die Variablen nicht adäquat gemessen wurden, ist einer der Hauptkritikpunkte die theoretisch behaupteten Kausalitäten (siehe zur Kritik v.a. Asher 1983). Die Entfernung einiger theoretisch plausibler Kausalitätsbeziehungen (siehe graue Pfeile in Abbildung 4) geschieht ja vor allem aus auswertungstechnischen Gründen. "Realitätstüchtiger", d.h. die gesellschaftliche Realität besser abbildende Modelle sind "nicht-rekursive" Modelle, in denen alle Variablen voneinander abhängen als auch aufeinander wirken. Die "Extrem-Form" eines solchen nicht-rekursiven Modells für das sozialpsychologische Modell beschreibt Abbildung 6.
Abbildung 6: Ein vollständig nicht-rekursives Erklärungsmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Modelle, die "vermutlich am ehesten die gesellschaftliche Realität abbilden" (Bürklin/Klein 1998: 63), können die Effektparameter jedoch gar nicht schätzen, da das zugrunde liegende Gleichungssystem mehr Unbekannte als Gleichungen besitzt. Außerdem geben Bürklin/Klein selbst zu bedenken, dass einige der Effekte wahrscheinlich sehr klein sein werden. Da ein Hauptanliegen wissenschaftlicher Modellierung aber die Vereinfachung und damit die Beschränkung auf wichtige Einflussfaktoren ist (da ein Modell per Definition immer ein vereinfachendes Abbild der Realität ist), ist ein vollkommen nicht-rekursives Modell also nicht nur auswertungstechnisch unbrauchbar, auch sein wissenschaftlicher Erkenntniswert ist fraglich. Als "Ideal-Gesamt-Modell", nach dem man dann die wichtigsten Beziehungen untersucht, ist es jedoch sicherlich zulässig. Ich führe nicht-rekursive Modelle an dieser Stelle auch nur aus dem Grunde ein, da es eine sehr interessante Variante eines (nur teilweise) nicht-rekursiven Modells von Jackson (1975) gibt, das vor allem mit Sicht auf die Stellung der Kandidatenorientierung interessant ist. Jacksons Modell spiegelt Abbildung 7 wider.
Abbildung 7: Sozialpsychologisches Erklärungsmodell nach Jackson (1975)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Jackson 1975, Bürklin/Klein 1998: 64
Wie in den rekursiven Modellen von Campbell et al. (1960) oder Budge et al. (1976) beeinflusst die Parteiidentifikation die Wahrnehmung und Bewertung von Issues und Kandidaten. Die Parteiidentifikation wird bei Jackson aber durch die Wahrnehmung von Politikern und Parteien beeinflusst und hat selbst nur geringe direkte Einflüsse auf die Wahlentscheidung. Bei Jackson wird der Effekt der Parteiidentifikation in erster Linie über die Bewertung politischer Streitfragen (Issues) auf das Wahlverhalten wirksam. Die Parteiidentifikation wird sich aber auch ändern, wenn sich die Einstellungen zu den politischen Problemen ändern oder neue politische Probleme auftauchen, die nicht von den etablierten Parteien vertreten werden. Jackson entwirft also das Bild des informierten, nach politischen Sachfragen entscheidenden, "rationalen" Wählers. Die Stabilität in der Wähler-Partei-Beziehung ist dabei abhängig von der Dauerhaftigkeit, mit der die Parteien und Kandidaten die Themen und politischen Standpunkte des Wählers einnehmen. Allerdings ist Jacksons Modell bislang nur auf eine einzige amerikanische Präsidentschaftswahl (1964) angewendet worden, so dass eine Generalisierung seiner Ergebnisse bislang nicht möglich ist (Bürklin/Klein 1998: 64). Die Stellung der Kandidatenorientierung rückt in einer Erweiterung des Modells von Jackson in den Mittelpunkt des Interesses. Markus/Converse (1979) messen Parteiidentifikation, Issue- und Kandidatenorientierungen sowie den Wahlentscheid in einem Paneldesign (zwei Zeitpunkte: t-1=letzte Wahl und t=aktuelle Wahl) und berechnen die jeweiligen Wechselwirkungen. Zwei wichtige Ergebnisse ihrer Untersuchungen sind, dass a) die individuelle Parteiidentifikation relativ stabil ist (was wiederum für die Verwendung der Parteiidentifikation als exogene unabhängige Variable sprechen würde) und dass b) die Issue- und Parteiidentifikationseffekte die Wahl nicht direkt beeinflussen, sondern dass diese Effekte die Wahrnehmung der Kandidaten steuern und dass darüber die Wahlentscheidung beeinflusst wird (Markus/Converse 1979). Die Kandidatenbewertung wird damit zu einer zentralen Variable, die sowohl einen eigenen Effekt auf die Wahlabsicht hat, als auch die Einflüsse von Parteiidentifikation und Issuebewertungen moderiert.
>Abbildung 8: "Ein Modell der Wahlentscheidung" (Markus/Converse 1979)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Markus/Converse 1979: 1059
Da das Modell von Markus und Converse ein recht komplexes Strukturgleichungsmodell ist und in dieser Arbeit nicht der Wahlentscheid ("Vote") im Mittelpunkt steht, wird das Modell nur insoweit erläutert, als es für die Rolle der Kandidatenorientierung ("Candidate Evaluations") aufschlussreich ist.
Die Bewertung des Kandidaten spielt im Modell die Rolle der alles entscheidenden Schaltzentrale. Weder Issueorientierung noch Parteiidentifikation können ohne die vermittelnde Rolle der Kandidatenorientierung einen eigenen Effekt auf die Wahlentscheidung entwickeln. Beide – Issueorientierung und Parteibindung – gehen aber in die Kandidatenbewertung ein. Die Issueorientierung wird dabei aus einem Abgleich der eigenen Themen-Positionen ("Issue Stands") und den (wahrgenommenen) Themenpositionen des Kandidaten ("Perceived Candidate Stands") gebildet, bei dem der Wähler bewertet, wie viel er bei dem jeweiligen Kandidaten thematisch "verliert" ("Issue Losses"; oder positiv ausgedrückt: gewinnt). Die Parteibindung geht ebenfalls in das Urteil der Wähler über die Kandidaten ein, beeinflusst aber auch schon die Wahrnehmung der Kandidaten-Eigenschaften ("Perceived Candidate Personalities"). Die wahrgenommenen Kandidaten-Eigenschaften gehen dann in die Kandidaten-Gesamtbewertung ein, die einen "doppelten Effekt" auf die Wahlentscheidung ("Vote") hat: Einerseits entwickelt die Kandidatenbewertung einen eigenständigen Effekt auf den Wahlentscheid (Pfeil von "Candidate Evaluations" auf "Vote"), andererseits wirkt sie in Interaktion mit der Parteiidentifikation auf die Wahl (Pfeil von "Candidate Evaluations" auf den Pfeil von "Party Identification" auf "Vote"; im Modell bezeichnen Pfeile, die auf anderen Pfeilen enden generell Interaktions- bzw. vermittelnde Effekte).
Zwar haben Markus/Converse die Medien in ihrem Modell nicht explizit abgebildet, wenn jedoch von der Wahrnehmung sachpolitischer Positionen der Kandidaten ("Perceived Candidate Stands") und der Wahrnehmung ihre persönlichen Eigenschaften ("Perceived Candidate Personalities") die Rede ist, so sind damit die Medien mehr explizit als implizit angesprochen, da sie eine zentrale Stellung für die Wahrnehmung politischer Informationen innehaben (wie in Kapitel 0 dargelegt wurde).
Die verschiedenen referierten Beispiele (von Campbell et al. und Budge et al. bis hin zu Jackson und Markus/Converse) machen jedoch auch deutlich, dass es (noch) keinen Konsens über den Stellenwert und die kausalen Beziehungen der verschiedenen Faktoren in einer sozialpsychologischen "Theorie des Wahlverhaltens" gibt und – so argwöhnen Bürklin/Klein (1998: 64) – auch in absehbarer Zeit nicht geben wird. Dabei scheint mir insbesondere die Stellung der Issueorientierung und der Kandidatenorientierung bzw. ihr Verhältnis zueinander noch theoretisch unklar. Während die Parteiidentifikation – als langfristig gebildet und wahlüberdauernd wirkend konzeptioniert – meist eine exogene Stellung im sozialpsychologischen Ansatz einnimmt und damit auf Issue- und Kandidatenorientierung Einfluss nimmt, ohne von ihnen direkt und kurzfristig verändert zu werden, ist die Beziehung zwischen den beiden kurzfristig gebildeten und wahlspezifisch wirksam werdenden Faktoren zwar empirisch sicherlich vorhanden und für eine ex-post-Erklärung von Wahlverhalten mitunter entscheidend. Eine Prognose von Wählerverhalten (also eine Erklärung ex ante) ist mit dem Michigan-Modell jedoch schwierig, da die möglichen Wechselbeziehungen zwischen Themen- und Kandidatenorientierung schwer ex ante zu spezifizieren sind.
Einen Ausweg kann vielleicht die neueste Modifikation des sozialpsychologischen Modells von Brettschneider (2001) bringen. Er stellt fest, dass das traditionelle sozialpsychologische Modell – zumindest in seiner Rezeption in der empirischen Wahlforschung – durch die Behandlung von Themenkompetenz (Issueorientierung) und Kandidatenorientierung als zwei eigenständigen Erklärungsfaktoren Bewertungs objekte (Kandidaten) und Bewertungs dimensionen (z.B. Themenkompetenz) analytisch gleichsetzt: "Dies ist jedoch unpräzise und verursacht bei der Einordnung themenspezifischer Kandidatenorientierungen in das Modell Schwierigkeiten" (Brettschneider 2001: 382). Brettschneider stellt in seinem empirischen Vergleich der Kandidatenorientierungen in Deutschland, Großbritannien und den USA fest, dass die Bewertung der Kandidaten sehr stark durch deren wahrgenommene Problemlösungskompetenz bestimmt wird. Die Beurteilung der Kompetenz von Kandidaten zur Lösung politischer Sachfragen (Themenkompetenz) ist also ein integraler Bestandteil der Kandidatenbewertung (Kandidatenorientierung). Man kann von einer themenspezifischen Kandidatenorientierung sprechen (Brettschneider 2001: 382). Ein solcher Faktor lässt sich aber in das bisherige sozialpsychologische Modell nicht adäquat einordnen, da Themenkompetenz und Kandidatenorientierung sich im Modell als einzelne Variablen gegenüberstehen. Als Lösung schlägt Brettschneider die strikte analytische Trennung von Beurteilungsobjekten und Beurteilungsdimensionen vor. Die zentralen Beurteilungsobjekte sind Kandidaten und Parteien. Als Dimensionen unterscheidet Brettschneider Themenkompetenz, Integrität, Leadership-Qualitäten und "Unpolitisches".[17] Daraus entsteht die "Beurteilungs-Matrix" in Tabelle 1.
Tabelle 1: Dimensionen zur Bewertung von Parteien und Kandidaten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Brettschneider 2001: 383
Die Beurteilungsdimensionen sind zwar aus Untersuchungen des Beurteilungsobjekts "Kandidaten" entstanden, jedoch können sie nach Brettschneider auch auf Parteien übertragen werden. So werden selbstverständlich auch Parteien hinsichtlich ihrer aktuellen Vorschläge bewertet, was als themenspezifische Parteiorientierung in das Wahlverhalten einfließt. Und Wähler beurteilen nicht nur die Integrität von Kandidaten, sondern auch Parteien können als ehrlich bzw. verlässlich oder als verlogen bzw. nicht vertrauenswürdig angesehen werden. Auch Leadership-Qualitäten lassen sich auf Parteien übertragen, wobei die Entscheidungsfähigkeit einer Partei direkt beurteilt werden kann und die "Führungsstärke" eines Kandidaten bei einer Partei als "Geschlossenheit" und "Koordination" auftaucht, also z.B. ob die Partei über eine effiziente (Wahlkampf-)Organisation verfügt und in sich geschlossen ist oder eher als Ansammlung zahlreicher Einzelmeinungen in Erscheinung tritt. Die "unpolitischen" Eigenschaften eines Kandidaten wie Sympathie und Ausstrahlung scheinen auf eine Partei schwierig zu übertragen, aber auch das Erscheinungsbild einer Partei kann nach Brettschneider mit unpolitischen Adjektiven wie sympathisch/unsympathisch, optimistisch/pessimistisch oder alt/jung bewertet werden (Brettschneider 2001: 383). Die jüngste Diskussion um die FDP und ihr neues Image als "Spaß-Partei" unterstreicht diese Sichtweise. Grafisch stellt Brettschneider sein modifiziertes Modell folgendermaßen dar:
Abbildung 9: Das modifizierte sozialpsychologische Modell des Wählerverhaltens
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Brettschneider 2001: 385; eigene Bearbeitung
Statt zwischen Themen- und Kandidatenorientierungen zu unterscheiden, schlägt Brettschneider also vor, die kurzfristigen Faktoren des politischen Angebots in Partei- und Kandidatenbewertungen (in ihren jeweiligen Dimensionen) zu differenzieren. Diese Konzeptualisierung eröffnet zudem neue interessante Analyseperspektiven: Es können nicht nur die Effekte der Kandidaten verglichen werden, sondern auch die Kandidaten mit ihren Parteien: Gleichen Kandidaten Defizite der Parteien aus und erhöhen sie deren Siegchancen oder wirken sie als "Mühlstein", der die betreffende Partei in der Wählergunst nach unten zieht oder stimmt die Bewertung von Partei und Kandidat überein? Oder für die USA gefragt, wo die Parteien eher im Hintergrund stehen und die Kandidaten eher einen eigenen Wahlkampf führen: Erweisen sich die Bewertungen der Partei als Belastung für den Präsidentschaftskandidaten oder helfen sie ihm, eigene Schwächen zu kompensieren? Brettschneider hat diese Fragen nicht empirisch überprüft, ist jedoch der Meinung, dass die Distanzierung der Kandidaten von den Parteien in den letzten Wahlkämpfen darauf hin weist, dass die Kandidaten ihre Parteien eher als für den eigenen Wahlerfolg abträglich empfinden (Brettschneider 2001: 384).
In Brettschneiders modifiziertem sozialpsychologischen Modell stellt die Parteiidentifikation nach wie vor das "langfristig stabile Grundgerüst des Wählerverhaltens" (Brettschneider 2001: 384) dar. Sie wirkt – wie im traditionellen Modell – sowohl direkt auf die Wahlentscheidung als auch indirekt über die Partei- und Kandidatenorientierungen. Partei- und Kandidatenorientierungen wirken sich aber auch ihrerseits auf die Parteiidentifikation aus, wobei der stärkere Effekt hier von der Parteiorientierung anzunehmen ist. Auch die Partei- und Kandidatenorientierungen bzw. einzelne Dimensionen dieser Bewertungen stehen in einer wechselseitigen Beziehung, bestimmte Dimensionen wahrscheinlich stärker als andere. Diese wechselseitigen Beziehungen dürften desto stärker ausfallen, je länger ein Spitzenkandidat mit seiner Partei in Verbindung gebracht wird. In den USA dürften solche Verbindungen aufgrund der Beschränkung der Amtszeit auf acht Jahre vermutlich geringer ausfallen als z.B. in Großbritannien oder Deutschland, wo das Bild der Conservatives bzw. CDU lange Zeit stark durch die jeweiligen Regierungschefs (und Parteivorsitzenden) Margaret Thatcher bzw. Helmut Kohl geprägt wurde (Brettschneider 2001: 384).
Aufgrund der Neuartigkeit des Modells kann Brettschneider es nicht anhand empirischer Daten testen, vor allem da die Bewertungsdimensionen bislang fast nie in dieser Art für Parteien abgeragt wurden. Als "Demonstration der Möglichkeiten" kann er jedoch auf eine Befragung aus dem Wahlkampf der Bundestagswahl von 1998 zurückgreifen, wo die Kompetenz sowohl der Parteien als auch der Kandidaten bezüglich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit abgefragt wurden. Dort kann er zumindest illustrativ zeigen, dass Helmut Kohl 1998 nur wenige Wähler für die CDU gewinnen konnte, die der Partei nicht grundsätzlich schon nahe standen, während Gerhard Schröder dies in beträchtlichem Umfang für die SPD gelang (Brettschneider 2001: 386).
Relevante empirische Überprüfungen der Anwendbarkeit und des Nutzens Brettschneiders Modifikationen des sozialpsychologischen Modells stehen allerdings noch aus.
Die beiden Hauptprobleme des sozialpsychologischen Erklärungsmodells sind einerseits das Konstrukt der Parteiidentifikation bzw. dessen Operationalisierung sowie andererseits die von Wahl zu Wahl unterschiedliche Erklärungskraft der drei Faktoren Parteiidentifikation, Issueorientierung und Kandidatenorientierung.
Die Parteiidentifikation erweist sich in Wahlstudien oft nicht so stabil wie theoretisch angenommen. In den Wahlperioden zeigen sich immer wieder zyklische Bewegungen der Parteiidentifikation, was Roth (1998:43) "ohne Zweifel" als Effekte der (Re-)Aktivierung von Parteibindungen durch den Wahlkampf interpretiert (so zeigen z.B. die Werte des Politbarometers immer wieder kurz vor den Wahlen einen starken Anstieg der Parteiidentifikation, siehe Roth 1998: 44, Abb. 2.3). Allerdings verweist Küchler darauf, dass es sich auch um Probleme einer adäquaten Operationalisierung des Konzepts Parteibindung handelt und deshalb nicht das ganze theoretische Konstrukt der Parteiidentifikation verworfen werden muss (Küchler 1986: 201f., Roth 1998: 44).
Die Erklärungskraft der drei Faktoren ist bereits von Campbell/Gurin/Miller (1954: 183f.) als wahlabhängig eingestuft worden, d.h. die Erklärungskraft der einzelnen Determinanten ist von Wahl zu Wahl unterschiedlich. Es gibt also Wahlen, bei denen bestimmte Themen im Vordergrund stehen und stärker den Wahlentscheid beeinflussen (für Deutschland wird oft die Bundestagswahl 1990 mit dem beherrschenden Thema "Deutsche Wiedervereinigung" genannt), aber auch Wahlen, bei denen sich die Wähler stärker an den Kandidaten orientieren (z.B. der "Schröder-Effekt" bei der Bundestagswahl 1998, aber auch schon bei der Bundestagswahl 1980 mit den Kandidaten Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß oder 1961 mit Konrad Adenauer gegen Willy Brandt). Ebenso kann die Parteiidentifikation den stärksten Einfluss ausüben, wenn z.B. markante Themen oder Kandidaten fehlen (für einen Vergleich der Bundestagswahlen 1949-1998: Wilke/Reinemann 2000). Je nach Wahl variiert also die Stärke bzw. Konstellation der drei Erklärungsfaktoren, womit – nach Ansicht von Roth – eine exakte Wahlprognose allein auf Grundlage des Ann-Arbor-Modell nicht möglich ist (Roth 1998: 41). M.E. ist die Möglichkeit variierender Stärken und Konstellationen der drei Erklärungsfaktoren jedoch eine Voraussetzung für eine möglichst gute Erklärung des Wahlverhaltens. Das Unbehagen mancher Forscher ist vielleicht eher mit der Komplexität der möglichen Wechselbeziehungen zu erklären. Hier gibt es in der Tat noch Bedarf für theoretische Überlegungen und vor allem empirische Analysen.
3.2.3 Der Rational-Choice-Ansatz
Kern jeder Anwendung des Rational-Choice-Ansatzes ist die Grundannahme, dass Akteure stets eine Handlungsalternative vorziehen, deren Vorteile relativ zu einer alternativen Handlungsmöglichkeit größer bzw. deren Nachteile geringer erscheinen. Unter den verfügbaren Handlungsalternativen wird also diejenige ausgewählt, durch die der Akteur seinen Nutzen maximiert (Fuchs/Kühnel 1994: 354; Kühnel/Fuchs 2000: 340f.). Verhalten, das auf dieser Grundannahme beruht, ist "rationales Handeln". Rationalität in diesem Sinne hat also nichts zu tun mit den Zielen, die ein Wähler mit seiner Wahl verfolgt. Diese können im alltäglichen Sprachgebrauch durchaus "irrational" sein – sein Verhalten im Rational-Choice-Ansatz wird als "rational" betrachtet, wenn er aus einer Reihe von Alternativen diejenige aussucht, mit der er sein Ziel am ehesten zu erreichen glaubt. Rationalität bezieht sich in diesem Erklärungsansatz nur auf die Mittel – nicht auf die Ziele. Eben so wenig bedeutet "rational" daher die Ausrichtung der Wahl an politischen Sachfragen bzw. "nicht-rational" die Ausrichtung an Personen oder affektiven Parteibindungen; und auch ein besonders informiertes und reflektiertes Wahlverhalten ist im Rational-Choice-Ansatz nicht mit rationalem Verhalten zu verwechseln. Der Begriff der Rationalität im Kontext von Rational-Choice-Theorien ist eng definiert und darf nicht mit dem Alltagsverständnis von "rational" – im Sinne einer sachlich begründeten Wahlentscheidung – verwechselt werden (Bürklin/Klein 1998: 108f.).
Der Rational-Choice-Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten nimmt meist eine Sonderstellung unter den drei Theoriesträngen ein. Während die anderen beiden Ansätze speziell zur Erklärung von Wahlverhalten entwickelt wurden, handelt es sich beim Rational-Choice-Ansatz um die Übertragung einer universellen Theorie – der ökonomischen Theorie der Politik – auf konkretes (Wahl-)Verhalten. Die ökonomische Theorie der Politik liefert zwar einige generelle Erklärungen für das Auftreten bestimmter Formen des politischen Verhaltens, allerdings treten bei ihrer Anwendung in der empirischen Forschung Probleme auf. Gabriel (1999: 471) fasst die wichtigsten beiden Probleme zusammen: "Erstens bezieht sich die für diese Theorien grundlegende Rationalitätsannahme ausschließlich auf zweckrationales Verhalten und blendet andere Formen sozialen Verhaltens aus. Zweitens fehlt bisher eine überzeugende und allgemein akzeptierte Operationalisierung des für die ökonomische Theorie der Politik wichtigen Konstrukts der Nutzenmaximierung." Da es keine akzeptierte Operationalisierung der Nutzenmaximierung gibt, kann die Anwendung des Rational-Choice-Ansatzes zu unterschiedlichen Erklärungsmodellen führen. Kühnel/Fuchs (2000) unterscheiden zwei "generelle Theorietraditionen":
- zum einen die in ökonomischen Analysen vorherrschende Tradition, Handlungen ausschließlich über die objektiv messbare Ressourcenausstattung der Akteure und die jeweils vorliegenden Handlungsrestriktionen zu erklären. Individuelle Präferenzen werden als weitgehend beliebig und als nicht direkt beobachtbar angesehen – sie werden daher nicht explizit in die Erklärungsmodelle aufgenommen (allerdings wird als generelle Annahme über die Präferenzen unterstellt, dass Akteure egoistisch sind, d.h. einzig und allein ihre eigenen, persönliche Wohlfahrt zu verbessern trachten; in wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen wird hier meist vom homo oeconomicus gesprochen);
- zum anderen die eher sozialpsychologisch orientierte Theorietradition, in der nicht nur objektive Ressourcen und Restriktionen betrachtet werden, sondern gerade auch die subjektiv wahrgenommenen Ressourcen und Restriktionen und die individuellen Wertorientierungen und Präferenzen – die in empirischen Analysen dieser Theorietradition daher auch gemessen werden ( 2000: 341).
Roller (1998) unterscheidet zwischen einem "klassischen" und einem "revidierten" rationalen Modell der Wahlentscheidung (Roller 1998: 184). Beide Modelle verwenden Downs "Ökonomische Theorie der Politik" (Downs 1957, dt. 1968; siehe auch Dalton/Wattenberg 1993) als Ausgangspunkt und gehen von der Prämisse aus, die Wahlentscheidung werde für die Partei getroffen, die den größten individuellen Nutzen verspricht, d.h. die am ehesten die individuellen politischen Ziele zu realisieren vermag (ebd.). Die klassische Version stellt die politischen Positionen in den Mittelpunkt und geht auf räumliche Modelle des Wahlverhaltens von Downs zurück: Wähler maximieren ihren Nutzen, indem sie die Partei wählen, die ihren eigenen Zielpräferenzen am nächsten kommt ("Position Issues").[18] Bei der revidierten Version – die auch die "realistische Version" genannte wird – werden zusätzlich Orientierungen an anderen politischen Sachverhalten als Einflussfaktoren mitberücksichtigt. Insbesondere "politische Performanzen", also Erfahrungen mit den Parteien und ihren Leistungen in der Vergangenheit, sind ein wichtiger Zusatz-Faktor der revidierten oder "realistischen" Version des Rational-Choice-Ansatzes (Roller 1998: 184). Hintergrund sind Downs Überlegungen zur Informationsverarbeitungskapazität der Wähler, die demnach insbesondere hinsichtlich der zukünftigen Konsequenzen des gegenwärtigen Handelns unsicher sind. Im revidierten Modell werden die kognitiven Postulate des klassischen Modells als unrealistisch abgelehnt. Popkin (1976) formulierten das "Investitionsmodell des Wahlverhaltens" (Popkin 1976: What Have You Done For Me Lately? Toward an Investment Theory of Voting), wonach Wahlentscheidungen ein kollektives Gut sind, womit nur ein geringerer Anreiz besteht, die Entscheidungsrationalität durch den Erwerb zusätzlicher Informationen zu verbessern. In dieser Situation der "low information rationality" werden Wähler Mechanismen der Informationsverarbeitung anwenden, die die Aufnahme, Speicherung und Anwendung der Informationen vereinfachen. Aus dieser Informationsverarbeitungsperspektive ist die vergangene Leistung einer Partei oder eines Kandidaten einer der wichtigsten Einflussfaktoren, da die vergangene Leistung ein stark nutzenorientierter Indikator ist, der zudem als zuverlässig empfunden wird und mit niedrigen Informationskosten verbunden ist (Nebenprodukt von Alltagshandlungen; "Performance Issues").
Man kann also innerhalb des Rational-Choice-Ansatzes eine Entwicklung vom "rational voter", der seine Wahlentscheidung alleine auf der Basis von Positionen trifft, hin zum "reasoning voter" (Popkin 1994) erkennen, der eine Vielzahl von "Informationsvereinfachungsmechanismen" benutzt (Roller 1998: 185f.).
Bei Kritik an dem Rational-Choice-Ansatz, muss also beachtet werden, dass es sehr unterschiedliche Ausformungen dieser Idee gibt. Bürklin/Klein (1998) formulieren: "Bis auf den heutigen Tag besteht eine gewisse Unklarheit darüber, was unter den Begriff der Rational-Choice-Theorie zu subsumieren ist, was der Begriff der Rationalität im Bereich des Wählerverhaltens konkret bedeutet und wo die Vorteile und Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes liegen" (Bürklin/Klein 1998: 108). Neben den grundsätzlichen Theorie-Varianten (z.B. "ökonomisch" vs. "sozialpsychologisch" bei Kühnel/Fuchs 2000, "klassisch" vs. "revidiert" bzw. "realistisch" bei Roller 1998) lassen sich zudem unterschiedliche Forschungsschwerpunkte konkreter Rational-Choice-Anwendungen in der Empirischen Wahlforschung identifizieren: Die Erklärung der Wahlbeteiligung (skeptisch zur Erklärung der Wahlbeteiligung im Kontext des Rational-Choice-Ansatzes: Aldrich 1993, Bürklin/Klein 1998), die Informationssuche und -beschaffung als Grundlage für Wahlentscheidungen (Informationskosten/Informationsheuristiken, Downs 1957; "information short-cuts", Popkin 1994) und vor allem die als strategische Interaktion zwischen den Wählern einerseits und Parteien bzw. Kandidaten andererseits aufgefasste Wahlentscheidung (z.B. Fuchs/Kühnel 1994, Schmitt 1998, Wirth/Voigt 1999, Kühnel/Fuchs 2000).
Der Rational-Choice-Ansatz wird in der Wahlforschung in neuerer Zeit verstärkt angewendet (Bennet/Salisbury 1987: "Emerging Paradigm in Election Studies", Bürklin/ Klein 1998, Kaase 2000: "mehr und mehr en vogue", S. 28). Bennet/Salisbury (1987) sehen den Grund dafür in den Problemen des sozialpsychologischen Ansatzes (siehe dazu auch Bürklin/Klein 1998: 107f.): Da menschliches Verhalten "psychologisch überdeterminiert" sei (ein bestimmtes Verhalten ein und desselben Menschen kann durch verschiedene psychologische Mechanismen hervorgerufen werden), sei die Aufdeckung psychologischer Regelmäßigkeiten menschlichen Verhaltens naturgemäß nahezu unmöglich. Aufgrund seiner mangelnden theoretischen Klarheit sei der sozialpsychologische Erklärungsansatz Gegenstand "endloser Dispute über die Interpretation und den Bedeutungsgehalt seiner Konzepte" (Bürklin/Klein 1998: 107). Rational-Choice-Theorien seien demgegenüber sehr viel einfacher und klarer angelegt und bieten mit nur wenigen Basisannahmen eine empirisch gehaltvolle Beschreibung von Wählerverhalten. Und während der soziapsychologische und auch der sozialstrukturelle Ansatz letztlich bloß induktive Verallgemeinerungen über empirische Einzelbeobachtungen darstellen, geht die Rational-Choice-Theorie auf eine allgemeine Verhaltenstheorie zurück, die sich in den Wirtschaftswissenschaften bereits bewährt hat (Falter/Schumann/Winkler 1992: 65; Bürklin/Klein 1998: 107).
Die Bewertung des Rational-Choice-Ansatzes ist also zwiespältig. So sieht Gabriel den Nutzen utilitaristischer Theorien bislang eher in ihrem heuristischen Potential – eine ähnliche Meinung, wie sie von Kaase vertreten wird (Kaase 2000: 29). Andere Kritiker weisen darauf hin, dass die Annahme rationaler Abwägungen der Verhaltensalternativen bei einer politischen Wahl zu unlösbaren Widersprüchen führe und mit empirisch beobachtbaren Verhalten nicht in Einklang zu bringen sei (Green/Shapiro 1994). Kühnel/Fuchs (2000) weisen in einer neueren Studie zum Rational-Choice-Ansatz jedoch darauf hin, dass es wissenschaftstheoretisch durchaus sinnvoll sein kann, sich nicht mit solchen "Grundsatzdebatten" zu beschäftigen, sondern konkret folgende beiden Fragen zu beantworten: "1. Welche empirischen Konsequenzen folgen aus der Annahme, dass Wahlverhalten das Ergebnis rationaler Entscheidung ist? 2. Lassen sich diese Konsequenzen tatsächlich beobachten?" (Kühnel/Fuchs 2000: 340). Sie kommen m.E. jedoch nicht zu einem eindeutigen Gesamt-Ergebnis, was die "Rationalität" von Wahlverhalten angeht. Ihre Ergebnisse im Einzelnen:
- die Wahlbeteiligung steigt, je stärker im sozialen Umfeld Wahlnormen vorherrschen (auch wenn diese Wahlnormen die Wahl gegensätzlicher Parteien nahe legen);
- bei einem Konflikt zwischen eher affektiver Parteipräferenz und der Aussicht auf finanzielle Vorteile durch die Regierungsbeteiligung einer Partei folgt die Wahlentscheidung eher der affektiven Parteipräferenz als dem ökonomischen Vorteil;
- bei einer erwarteten Niederlage der präferierten Partei steigt die Zahl der Nichtwähler sowie auch der Wähler, die mit einer oder beiden Stimmen eine andere als die präferierte Partei wählen (Stimmensplitting);
- bei einem erwarteten Misserfolg der präferierten Partei ist die relative Bedeutung der Problemlösungskompetenz geringer.
Kühnel/Fuchs deuten ihre Ergebnisse dahingehend, dass Wählen durchaus (auch) als instrumenteller Akt im Sinne der Beeinflussung von Politik verstanden wird. Sie schränken zwar selber ein: "Der instrumentelle Nutzen des Wählens ist aber nicht im Sinne einer direkten ökonomischen Nutzenmaximierung zu verstehen. In den Augen der Wähler geht es vielmehr um generelle politische Ziele. Mit dem Wählen wird somit nicht die Produktion eines direkten, persönlichen Vorteils, sondern die Produktion eines Kollektivguts angestrebt. […] Die affektive Bindung der Wähler an politische Programme und politische Parteien stellt vermutlich eine wichtige zusätzliche Motivation für die Wahlbeteiligung dar. Effekte gibt es darüber hinaus durch den Einfluss der sozialen Umgebung." (Kühnel/Fuchs 2000: 358). Aber die Ergebnisse (und dieses Zitat) machen trotzdem deutlich, dass der ursprünglich eher ökonomisch-rational orientierte Rational-Choice-Ansatz mehr und mehr sozialpsychologische und selbst soziologische Einflussfaktoren einbezieht. Dies lässt sich auch an der zusammenfassenden Aussage von Wirth/Voigt (1999) ablesen, wonach wegen der Unschärfen von Nutzenbewertungen und -maximierung, der fortschreitenden Lockerung des restriktiven ökonomischen Ausgangsverständnisses und des Rationalitätsbegriffs mehrere, "durchaus unterschiedliche Entscheidungsmodelle unter dem gemeinsamen Dach des Rational Choice abgehandelt werden" (Wirth/Voigt 1999: 135). Mit Blick auf die Stellung der Kandidatenorientierung in den Wahlerklärungsansätzen sind die "vier Modelle des rationalen Wählers", die Wirt/Voigt in Anlehnung an Kühnel (1990) und Lass (1995) entwerfen, von besonderem Interesse (Wirth/Voigt 1999: 135f.):
- Das Modell des rationalen Issue-Verarbeiters: Wähler mit einer fundierten, sachbezogenen (issue-orientierten) Entscheidung auf hohem Informationsniveau; Informationen über Partei- und Kandidatenpositionen zu den wichtig erscheinenden aktuellen Streitfragen werden möglichst emotionslos, rational und vollständig verarbeitet; Kandidatenorientierung: die Person der Kandidaten spielt keine Rolle im Entscheidungsprozess;
- Das Modell des rationalen Image-Verarbeiters: Wähler mit einer fundierten, kandidatenbezogenen Entscheidung auf hohem Informationsniveau; Kandidateninformationen mit unmittelbarem Bezug zur politischen Arbeit werden rational und möglichst vollständig verarbeitet; Kandidatenorientierung: Leistungen, Kompetenzen und Managementfähigkeiten eines Kandidaten haben eine überragende Bedeutung für das Wahlverhalten;
- Das Modell des politischen Vereinfachers (auch: heuristischer Verarbeiter): Wähler mit Interesse an Sachfragen und auch mit entsprechenden Kenntnissen, jedoch beziehen sie Personinformationen in erheblichem Umfang in die Wahlentscheidung ein; Gründe für ihr Verhalten: Unsicherheiten bezüglich der Realisierungschancen der Nutzenerwartungen, Komplexität mancher Issues oder politisches Kalkül; daneben gehen aber auch Ergebnisse aktueller Informationsverarbeitung sowie stabilisierte und generalisierte Nutzerwartungen in die Entscheidung mit ein, z.B. in Form von Parteibindungen; Personinformationen dienen als "shortcut" oder Heuristik auf dem Weg zu einer durchaus sachorientierten Wahlentscheidung; Kandidatenorientierung: es müssen unmittelbare Zusammenhänge zwischen politischer Programmatik und Personinformationen vorliegen oder konstruierbar sein, also etwa Images von Kompetenz, Integrität oder Führungsstärke; Vertrauen oder Glaubwürdigkeit sind Ergänzung und teilweise Substitut für Sachinformationen;
- Das Modell des unpolitischen Vereinfachers: Wähler mit wenig Interesse und Wissen über Sachfragen und Streitpunkte; politische Überlegungen werden weitgehend durch unpolitische Personbewertungen ersetzt; Orientierung an Alltagsinhalten, die einfach (weil schematisiert) zu verarbeiten sind: Charaktereigenschaften, private Aspekte der Kandidaten (Familiäres, Hobbys); Kandidatenorientierung: unpolitische Eigenschaften aus dem Privatleben des Kandidaten haben starken Einfluss auf den Wahlentscheid.
Diese vier Modelle wurden in dieser Form noch nicht empirisch überprüft. Nach Meinung von Wirth/Voigt "scheinen empirische Evidenzen am ehesten für das Modell des politischen Vereinfachers zu sprechen" (Wirth/Voigt 1999: 136). So hat Lass (1995) herausgefunden, dass zwar Management- und politische Eigenschaften die Vorstellungsbilder der Rezipienten von den Kanzlerkandidaten prägen, Integritätsvorstellungen – wie sie der politische Vereinfacher verstärkt verwendet – üben jedoch einen stärkeren Einfluss auf die Wahlentscheidung aus ("Kongruenzmodell" bei Lass). Wirth/Voigt untersuchen in ihrer eigenen Studie dann das Konzept der Personalisierung und können daher nicht zur "empirischen Evidenz" der angeführten vier Modelle des rationalen Wählers beitragen. Aus ihrer Sicht bedient zwar das Fernsehen mit seiner Berichterstattung am besten den "politischen Vereinfacher", jedoch können sie mit ihrer Inhaltsanalyse der Wahlkampfberichterstattung natürlich keine Aussagen über das Wahlverhalten der Rezipienten machen.
3.2.4 Fazit: Die Erklärungsmodelle und ihr Bezug zur Kandidatenorientierung
Diese überblicksartige Darstellung der wichtigsten Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens hat gezeigt, dass die Grenzen zwischen den Theoriesträngen weniger starr sind, als es die schematische Darstellung in Lehrbüchern vermuten lässt. Insofern muss am Ende der Vorstellung der drei Erklärungsmodelle die Frage nach Konvergenzen, Überschneidungen und Abgrenzungen geklärt werden, um dann ihre Anwendung in empirischen Wahlstudien verstehen und bewerten zu können.
Das Verhältnis von sozialstrukturellem und sozialpsychologischem Ansatz ist komplementär, nicht kompetitiv. Während der sozialstrukturelle Ansatz (in seiner mikrosoziologischen Variante nach Lazarsfeld) nur auf den Einfluss sozialer Gruppenzugehörigkeiten auf das Wahlverhalten abstellt, fügt der sozialpsychologische Ansatz individuelle, politische und kurzfristige Erklärungsfaktoren hinzu. Dabei verneint der sozialpsychologische Ansatz nicht die soziologischen Einflussgrößen, sondern lässt sie in Form der Parteiidentifikation ins Erklärungsmodell mit einfließen. Schmitt (2001) vergleicht explizit diese beiden Modelle miteinander und hält das sozialpsychologische Modell für "reicher instrumentiert" (Schmitt 2001: 628). Neben langfristigen Einflussfaktoren würden auch kurzfristige, wahlspezifische Effekte einbezogen und ihr Zusammenhang zu modellieren versucht. Die Wahlentscheidung selbst ist nach Schmitt beim sozialstrukturellen Ansatz eine black box."Neben der Wahl selber werden zumeist nur soziale Merkmale der Stimmbürger in die Analyse aufgenommen" (Schmitt 2001: 627). Ein black box model sei zwar ausreichend, wenn es nur um die Beschreibung des Wahlverhaltens bestimmter sozialer Gruppen ginge, aber wenn das Wahlverhalten aller Wähler erklärt werden solle, dürfe man die gesellschaftlichen Einflüsse auf das Wahlverhalten nicht isoliert betrachten: "Deshalb wurde dem black box model das sozialpsychologische Modell der Wahlentscheidung entgegengehalten, welches neben sozialen Prädiktoren auch genuin politische berücksichtigt und so das komplexe Ursachenbündel hinter der Wahlentscheidung angemessener erfassen kann" (Schmitt 2001: 642). Zusammen mit der richtungsweisenden Studie von Dalton/Flanagan/Beck (1984), die die "Dealignment-These" nachhaltig unterstützt, scheinen soziologische Ansätze veraltet und weniger erklärungskräftig. Jedoch stellt Schmitt in seiner eigenen Studie fest, "dass gesellschaftliche Faktoren das Wahlverhalten der Deutschen nach wie vor deutlich prägen und dass ihr relatives Gewicht in den vergangenen 40 Jahren nicht geringer, sondern eher stärker geworden ist. Sicherlich ist die Prägekraft der alten zentralen Cleavages zurückgegangen. Dieser Rückzug wurde jedoch durch die Politisierung neuer gesellschaftlicher Gegensätze mehr als wettgemacht" (Schmitt 2001: 643). Dabei vermeidet Schmitt bewusst den Begriff "Cleavages" für seine "neuen gesellschaftlichen Gegensätze", da die Dauerhaftigkeit dieser neuen Konfliktlinien noch zweifelhaft ist (Schmitt 2001: 643). Soziale Strukturen "erklären" also immer noch einen größeren Teil der Wahlentscheidung (dazu passen auch die Ergebnisse in dem Sammelband von Evans (1999), über die bereits beim sozialstrukturellen Ansatz berichtet wurde). Allerdings ist der Begriff "erklären" nach Schmitt noch zu wenig kausal-theoretisch spezifiziert und spielt sich als black box ab. Vor allem im internationalen Vergleich zeigt sich die größere Flexibilität und damit höhere Erklärungskraft des sozialpsychologischen Ansatzes: "In Ländern, in denen politisches Verhalten sozial nur schwach determiniert wird, springen "politische" Faktoren ein – Variablen wie Parteibindungen, Issueorientierungen und Kandidatenbewertungen sind dort für die Erklärung von Wahlverhalten wichtiger als soziale Faktoren" (Schmitt 2001: 643). Nimmt man die umfangreichen Validierungsanalysen des Konzepts der Parteiidentifikation von Falter et al. (2000) hinzu, wonach Dealignment als gesicherter empirischer Befund bezeichnet werden kann und die zunehmende Betonung kurzfristiger Überlegungen und Einflüsse auf das Wahlverhalten als abgesichert gelten können (Falter et al. 2000: 265f.), so wird die im Vergleich zum sozialstrukturellen Modell höhere Erklärungskraft des sozialpsychologischen Modells erneut deutlich. Daher bezeichnen Falter et al. das Michigan-Modell auch als ein "Standard-Instrument in der bundesdeutschen Wahlforschung" (Falter et al. 2000: 242). Auch Wüst (2000) kommt in einer Untersuchung der Bundestagswahl 1998, in der er das sozialstrukturelle Wahlmodell mit dem sozialpsychologischen vergleicht, zu ganz ähnlichen Ergebnisse: "Insbesondere wenn klare Zuordnungen einzelner Gruppen, wie der Angestellten und Beamten, zu bestimmten Parteien nicht möglich sind, bieten der mikro- und makrosoziologische Ansatz wenig Greifbares." (Wüst 2000: 25). Auch Roth (1998: 47) favorisiert das sozialpsychologische Modell. In einem Beispiel der Anwendung des Modells auf die Bundestagswahl 1994 kommt er zu dem Schluss: "Erstens ist die Bedeutung des sozialpsychologischen Ansatzes für die Wahlanalyse groß. Zweitens ist die Vielfalt der Analysemöglichkeiten ungleich größer als bei den anderen Ansätzen. Schließlich erfuhr der sozialpsychologische Ansatz in der Praxis eine ganze Reihe, auch länderspezifischer Modifizierungen, ohne dass dabei auch nur eines der Kernelemente des Ann-Arbor-Modells aufgegeben wurde" (Roth 1998: 47).
Schwieriger sind die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen dem sozialpsychologischen und dem Rational-Choice-Ansatz zu analysieren, da man es auf Seiten des Rational-Wahl-Modells mit einer ganzen Reihe von Einzel-Ansätzen zu tun hat, die – wie verschiedene Autoren betonen (z.B. Gabriel 1999, Wirth/Voigt 1999, Kaase 2000) – unterschiedliche Entscheidungsmodelle enthalten können. Einen Vergleich des sozialpsychologischen Ansatzes und der Rational-Wahl-Theorie auf der empirischen Ebene unternimmt Schmitt (1998). Er findet in seiner Studie "Issue-Kompetenz oder Policy-Distanz?" heraus, dass der Ann Arbor-Trias insgesamt besser erklärt als die Rational-Wahl, die er in seiner Untersuchung als "Policy Distanzen" operationalisiert. Allerdings wird die Abhängigkeit der Ergebnisse von der speziellen Operationalisierung der Rational-Wahl mit Hilfe der "Policy Distanzen" bei einigen ausgesuchten Themen deutlich. Diesen, für den Rational-Choice-Ansatz negativen Ergebnissen, kann also entgegengehalten werden, dass sich der Rational-Choice-Ansatz weiterentwickelt hat und mittlerweile in "realistischen" Varianten vorliegt (Roller 1998). Allerdings birgt die oft an empirischen Erfordernissen erfolgte "Weiterentwicklung" des Ansatzes auch theoretische Probleme: Die Ansammlung immer weiterer "rationaler" Verhaltensweisen entfernt sich zusehends von der ursprünglichen ökonomischen Theorie, wodurch ein Vorteil des Ansatzes – eben die Verankerung in einer bewährten Theorie – verloren geht.
Betrachten wir als Beispiel eine Variante des "rationalen Wählers" bei Wirth/Voigt 1999 (siehe Kapitel 3.2.3): Der politische Vereinfacher hat Interesse und Kenntnisse bezüglich Sachfragen, trifft seine Wahlentscheidung aber stärker aufgrund von Informationen über Kandidaten, wobei aber auch generalisierte Nutzenerwartungen wie z.B. Parteibindungen mit in die Entscheidung eingehen (Wirth/Voigt 1999: 136, ähnliche Beschreibungen auch bei Lass 1995 im "Kongruenzmodell"). Die Erklärungsfaktoren dieses Rational Choice Modells sind also Kandidatenpräferenz, Issueorientierung und Parteibindung – genau die drei Erklärungsfaktoren des sozialpsychologischen Ansatzes.
Eine endgültige Bewertung des Rational Choice Ansatzes kann an dieser Stelle daher nicht erfolgen und ich kann nur (wiederholt) zitieren: "Bis auf den heutigen Tag besteht eine gewisse Unklarheit darüber, was unter dem Begriff der Rational-Choice-Theorie zu subsumieren ist, was der Begriff der Rationalität im Bereich des Wählerverhaltens konkret bedeutet und wo die Vorteile und Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes liegen" (Bürklin/Klein 1998: 108). Wenn auch der Rational-Choice-Ansatz wichtige Erkenntnisse in den Blickpunkt gerückt hat im Hinblick auf Entscheidungsverhalten von Rezipienten (Herbert A. Simon (1955): "A behavioral model of rational choice"; Entscheidungsheuristiken: z.B. Tversky/Kahneman (1973): "Availability: A Heuristic for Judging Frequency and Probability"; dies. (1974): "Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases"), so scheint er seine theoretische Grundlage momentan eher zu verlieren, ohne eine neue gefunden zu haben. Allerdings muss dieses "Theorie-Problem" nicht unbedingt negativ gewertet werden, wie Fuchs/Kühnel meinen: "Wir sehen einen Vorteil des Rational-Choice-Ansatzes gerade darin, dass er bei konkreten Anwendungen zum einen offen für Anreicherungen aus anderen Theorietraditionen ist, gleichzeitig aber auch die heuristische Kraft hat, die Richtung solcher Anreicherungen zu bestimmen." (Fuchs/Kühnel 1994: 356). Auf jeden Fall ist die theoretische wie empirische Entwicklung des Rational-Choice-Ansatzes noch nicht abgeschlossen und die Frage, ob es zu einem "Paradigmenwechsel" in der empirischen Wahlforschung kommt – wie dies Bennet/Salisbury (1987) zu beobachten glauben – ist noch nicht beantwortet.
Bei dem bereits angesprochenen empirischen Vergleich von Schmitt (1998) schneidet der sozialpsychologische Ansatz auf jeden Fall besser ab, wobei – wie bereits erwähnt – die Ergebnisse stark von der Operationalisierung des Rational-Choice-Ansatzes mit Hilfe von "Policy Distanzen" abhängen. Interessant ist bei Schmitts Studie jedoch auch die Hierarchie innerhalb der Erklärungsfaktoren des sozialpsychologischen Ansatzes: Während die Parteiidentifikation als "Herzstück" des Ansatzes in früheren Studien immer den größten Teil des Wahlverhaltens in der Bundesrepublik erklären konnte, rückt sie bei Schmitt hinter die kurzfristigen Variablen Issue- und Kandidatenorientierung: "Die Parteiidentifikation ist ein wichtiges zusätzliches Konzept, das zum Verständnis der Wahlentscheidung beiträgt, aber nicht – vielleicht nicht mehr – im Konzert des sozialpsychologischen Modells die erste Geige spielt" (Schmitt 1998: 166).
Zusammenfassend lässt sich – fast salomonisch – feststellen: Für eine befriedigende Erklärung des Wahlverhaltens eignet sich keine der dargestellten Theorien alleine (Wüst 2000: 19, Kaase 2000: 28). Entweder werden sozialstrukturelle und sozialpsychologische Theoriestücke in einer Wahlstudie kombiniert oder es wird eine Variante des Rational-Choice-Ansatzes entwickelt, die auf den sozialpsychologischen Variablen aufbaut. So benutzt z.B. Lass (1995, und in Anlehnung daran Wirth/Voigt 1999) den "in der Wahlforschung klassischen Ansatz" (gemeint ist der sozialpsychologische Ansatz), wonach "drei Faktoren die Wahlentscheidung bestimmen: Einstellungen zu Parteien, zu politischen Sachfragen und zu den Kandidaten" (Lass 1995: 45). Davon ausgehend benutzt er dann Erklärungsmuster aus dem Rational-Choice-Ansatz – hier vor allem das Prinzip der Nutzenmaximierung und entsprechende Heuristiken der Informationssuche und Informationsverarbeitung – um die Beziehung zwischen den erklärenden Faktoren und ihre Wirkung auf den Wahlentscheid zu definieren. Vielleicht ließe sich eine Verbesserung dieses "Theorienstreits" erzielen, wenn der Rational-Choice-Ansatz weniger als dritte Theorie des Wahlverhaltens gewertet wird (neben sozialstruktureller und sozialpsychologischer Theorie), sondern vielmehr als Erklärungsansatz menschlichen Verhaltens, der kausaltheoretische Implikationen z.B. des sozialpsychologischen Ansatzes, genauer spezifiziert und damit zu einer klareren Formulierung und zu einem besseren Verständnis von Wahlmodellen verhelfen kann. Allerdings ist es nicht das Anliegen dieser Arbeit, die genauen Grenzen zwischen den Ansätzen sowie ihre wissenschaftstheoretische Stellung zu diskutieren. In der empirischen Forschung ist auch kein Theorienstreit zu spüren. Dort wird eher so verfahren, dass die "besten" Stücke verschiedener Theorien und Zusammenhangsbegründungen (wie Heuristiken aus dem Rational-Choice-Ansatz) oder auch einfach "nur" empirisch gehaltvolle Variablen (wie die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage) kombiniert werden, um eine möglichst gute Erklärung des Wählerverhaltens – jenseits aller Theorien, die bislang alle als unvollständig betrachtet werden müssen – zu erreichen.
Diese Variabilität der theoretischen Grundlagen ist ein häufiger Kritikpunkt, der gegen den "mainstream" der Wahlforschung vorgebracht wird (Wüst 2000: 19). Allerdings ist es auch nicht das Ziel dieser Arbeit, die empirische Wahlforschung in theoretischer oder empirischer Hinsicht zu bewerten.[19] Die Fragestellung dieser Arbeit betrifft die Beeinflussung der Kanzlerpräferenzen der Wählerinnen und Wähler durch Aussagen in den Fernsehnachrichten. Zweck der bisherigen Darstellung ist daher lediglich die Bewertung der Relevanz der Kandidatenorientierung – der abhängigen Variablen meiner Untersuchung – in den unterschiedlichen Ansätzen.
Betrachtet man daraufhin die drei Erklärungsansätze des Wahlverhaltens, scheint die Relevanz der Kandidatenorientierung einfach zu bewerten:
- Der sozialstrukturelle Ansatz bezieht die wahlspezifischen Angebote und Leistungen der Parteien (z.B. Kandidaten, Problemlösungen) gar nicht unmittelbar ins Modell ein, so dass eine Kandidatenorientierung mit diesem Ansatz (allein) nicht zu rechtfertigen ist.
- Der sozialpsychologische Ansatz nimmt quasi als Antwort auf diesen Mangel des sozialstrukturellen Ansatzes die Bewertung der Kandidaten als Einflussgröße auf den Wahlentscheid explizit ins Erklärungsmodell auf. Er macht zwar keine Angaben über die Effektgröße und -struktur (im Zusammenhang mit den anderen beiden Einflussfaktoren Issueorientierung und Parteiidentifikation), jedoch scheint sich die Kandidatenorientierung von einem "Nebeneffekt" zu einem "Haupteffekt" entwickelt zu haben. War zu Beginn der Forschung mit diesem Ansatz in Deutschland immer die Parteiidentifikation die alles überragende Größe, so lassen neuere Studien die gewachsene Wichtigkeit der kurzfristigen Angebotsvariablen erkennen (z.B. , bei dem die Parteiidentifikation deutlich hinter Issueorientierung und Kandidatenbewertung zurücktritt; bei seinen Untersuchungen ist die Kandidatenorientierung teilweise der stärkste erklärende Faktor).
- Der Rational-Choice-Ansatz scheint in seiner "Urform" ebenfalls wenig geeignet, die Rolle der Kandidaten innerhalb des Wahlverhaltens zu untersuchen. Anfangs wurde "rationales Verhalten" hauptsächlich über die Nutzenmaximierung des Einzelnen definiert, was den Abgleich der eigenen Positionen mit den Positionen der Parteien bedeutete, um dann durch eine Minimierung dieser "Policy-Distanzen" zu einem rationalen Wahlentscheid zu kommen. Mit der Zeit wurde "rationales Verhalten" aber (realistischer) über Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsheuristiken definiert (und operationalisiert), so dass in der Vielzahl der neueren Ansätze, die alle die Rational-Choice-Theorie als Grundlage proklamieren, auch durchaus solche zu finden sind, die die Rolle der Kandidaten als zentral für die Wahlentscheidung ansehen (z.B. 1995, 1999). Oft verwenden solche Ansätze das sozialpsychologische Theoriegerüst, um darin mit Informationsverarbeitungsabläufen und Entscheidungsheuristiken aus dem Rational-Choice-Ansatz Beziehungen der Variabeln und Entscheidungsvorgänge zu spezifizieren.
Dieser Vergleich der theoretischen Verortung und vor allem der empirischen Ergebnislage bezüglich der Kandidatenorientierung ist auf bundesrepublikanische Verhältnisse fokussiert, da sich auch die empirischen Analysen dieser Arbeit auf eine deutsche Bundestagswahl beziehen. Bei US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen ist die Kandidatenorientierung seit je her eine der wichtigsten Entscheidungshilfen für die Wähler. Zuletzt konnte dies Brettschneider (2001) in einem internationalen Vergleich eindrucksvoll untermauern. Bei seinen Erklärungsmodellen für das Wahlverhalten bei den Präsidentschaftswahlen von 1960 bis 1996 (OLS-Regressionen mit den unabhängigen Variablen Parteiidentifikation, Kandidaten- und Themenorientierung und der abhängigen Variable Wahlabsicht) erwies sich die Kandidatenorientierung immer als der stärkste erklärende Faktor.
3.3 Personalisierung der Politik
Die Wichtigkeit, Kandidatenorientierung in Wahlmodelle zu integrieren, ergibt sich aus einer seit Jahren vehement und fast gebetsmühlenartig vorgebrachten Behauptung in fast allen Veröffentlichungen zum Thema Wahlen: der "Personalisierung der Politik". Diese abstrakte Formulierung bedarf allerdings einiger Differenzierungen, da verschiedene Autoren Unterschiedliches unter diesem Etikett verstehen. Am besten lässt sich Personalisierung als Strategie unterschiedlicher Akteure einteilen: die Personalisierung der Wahlkampfführung durch die Parteien und Kandidaten, die Personalisierung der Berichterstattung über Politik (speziell Wahlkämpfe) seitens der Medien, und die Personalisierung des Wahlverhaltens der Wähler (Brettschneider 2001: 352). Da das Verhalten jedes Akteurs sich auf das Verhalten der jeweils anderen Akteure auswirkt, kann man die Beziehungen der Personalisierungstendenzen der einzelnen Akteure folgendermaßen darstellen:
Abbildung 10: Beziehungen der Personalisierungstendenzen der Akteure im Wahlkampf
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Brettschneider 2001: 352
Das Verhalten der Akteure im Wahlkampf ist eine Form ihres allgemeinen politischen Verhaltens und kann daher direkt aus "Abbildung 1: Beziehungen im Spannungsfeld Medien und Politik " abgeleitet werden (siehe Seite 7). Dort, also bei der allgemeinen, nicht wahlspezifischen Beziehung der Akteure Medien, Politik und Publikum, konnte das anfänglich ebenfalls vollständig nicht-rekursive Modell Schritt um Schritt konkretisiert werden, so dass nur die relevanten Wirkungsbeziehungen übrig blieben (siehe Diskussion dort). Insofern kann auch hier, also bei den Personalisierungstendenzen der Akteure, davon ausgegangen werden, dass das obige Modell von Brettschneider nur eine erste Annäherung an das Problemfeld darstellt und durch theoretische Konkretisierung und empirische Untersuchungen differenziert werden muss.
3.3.1 Personalisierung der Wahlkampfführung
Mit der Personalisierung der Wahlkampfführung ist ein Bedeutungsgewinn der Spitzenkandidaten gegenüber ihren Parteien (Schönbach 1996: 94f.), eine zunehmende Entkopplung von Kandidat und Partei (Just/Crigler 1996: 66f) sowie die Art der Wahlkampforganisation gemeint: professionelle, personenbezogene Wahlkampfstäbe (Beiträge in Bertelsmann Stiftung 1996 oder Swanson/Mancini 1996; Schulz 1998; Noelle-Neumann/ Kepplinger/Donsbach 1999; Sarcinelli 1999; Brettschneider 2001: 356f; Holtz-Bacha 2002). Außerdem ist mit der Personalisierung der Wahlkampfführung die Vorstellung verknüpft, der Wahlkampf habe sich auf das Medium Fernsehen konzentriert: "Aus dem Parteienwahlkampf ist der Fernsehwahlkampf geworden" (Radunski 1996: 36). Aus einer medienkritischen Position wird behauptet, die Personalisierung der Wahlkampfführung sei eine Reaktion der Politik auf die Personalisierung der Berichterstattung in den Medien (z.B. Blumler/McQuail 1968; Radunski 1980; Schönbach 1996; Swanson/Mancini 1996; Oberreuter 1998), neutraler formuliert wird von einer gegenseitigen Verstärkung der Personalisierungstendenzen in den Medien und der Wahlkampfführung gesprochen (z.B. Brettschneider 2001: 387).
Seltener wird dagegen die Beziehung zwischen der Personalisierung der Wahlkampfführung und der Personalisierung des Wählerverhaltens explizit in Untersuchungen thematisiert. Dabei gibt es plausible Annahmen für beide Wirkungsrichtungen: Dass die Politik mit der Personalisierung der Wahlkampfführung auf ein verändertes Wählerverhalten reagiert, behaupten vor allem "Praktiker": "Je stärker das Wechselwählerpotential, je stärker die Personalisierung der Politik" schreibt der langjährige Bundesgeschäftsführer der CDU, Peter Radunski (Radunski 1996: 40). Das veränderte (personalisierte) Wählerverhalten bedingt demnach die Personalisierung der Wahlkampfführung. Nie/Verba/Petrocik sehen das Verhältnis jedoch genau entgegengesetzt: "The public respond to the political stimuli offered it" (Nie/Verba/Petrocik 1979: The Changing American Voter, S. 319). In diesem Sinne argumentiert auch Wattenberg, wenn er den Rückgang der Parteiloyalität in den USA auf Veränderungen im politischen Prozess – und hier vor allem auf die Konzentration auf Personen – zurückführt (Wattenberg 1996: The Decline of American Political Parties). Nach dieser Sichtweise beeinflusst also gerade die zunehmende Personalisierung der Wahlkampfführung durch die politischen Akteure das Wahlverhalten der Bevölkerung im Sinne einer zunehmenden Orientierung an Personen. Zelle (1998) gibt zu bedenken, dass, wenn diese zweite Sichtweise zuträfe, "die von Radunski angeratene Personalisierung der Wahlkampfführung genau das bewirken [würde], worauf sie vermeintlich reagiert: einen Anstieg der Wechselwählerschaft." (Zelle 1998: 222). Zelle kommt bei seinen Analysen zur Wechselwahl bei der Bundestagswahl 1994 zu dem Schluss: "Es erscheint möglich, dass die personalisierte Wahlkampfführung genau das bewirkt, worauf sie zu reagieren vorgibt: eine personenorientierte, wenig parteitreue Wählerschaft" (Zelle 1998: 254).
3.3.2 Personalisierung der Medienberichterstattung
Die Behauptung der Personalisierung der Medienberichterstattung bei Wahlkämpfen ist oft mit einer Medienkritik verbunden. Medien lenken demnach durch ihre Form der Berichterstattung von politischen Sachfragen – also "echter" Politik – ab und stellen eher die Persönlichkeiten der Spitzenkandidaten – also "Unpolitisches" – in den Vordergrund. Besonders dem Fernsehen wird dieses Verhalten vorgeworfen: "In der politischen Berichterstattung des Fernsehens [wird] auf die Präsentation von Politikern stärker Nachdruck gelegt […] als auf die eigentlichen politischen Fragen" (Lass 1995: 9). Die Einführung privater Fernsehprogramme habe diese Tendenz in Deutschland noch verstärkt (Kaase 1989, Pfetsch 1998). In den USA zeigte bereits eine Messung aus dem Jahre 1952, dass Kandidaten in Zeitungen und Magazinen verstärkt thematisiert werden: sie wurden doppelt so häufig erwähnt wie Parteien. Bei der Vergleichsmessung 1980 hatte sich dieses Verhältnis deutlich zu Gunsten der Kandidaten verändert: Jetzt wurden Kandidaten fünfmal häufiger erwähnt als Parteien. Wattenberg kommt daher zu dem Schluss, dass die Berichterstattung zunehmend kandidatenzentrierter wurde (Wattenberg 1996: 93)[20]. Fasst man die Ergebnisse verschiedener Autoren zusammen, so lassen sich für die amerikanische Wahlkampfberichterstattung folgende Langzeittrends identifizieren (Jamieson 1992, Patterson 1993, Wattenberg 1996, Capella/Jamieson 97, Schulz 1997):
- Personalisierung: Die Berichterstattung thematisiert immer häufiger Kandidaten und immer seltener Parteien
- Entauthentisierung: O-Töne von Politikern nehmen zugunsten von Journalisten-Aussagen ab
- Negativismus: Kritik steht immer mehr im Vordergrund der Berichterstattung
- Organisation und Wahlkampfberichterstattung: "game schema" bzw. "strategic game" statt "policy schema": Früher waren häufiger Themen und Positionen (issues, positions) Gegenstand der Berichterstattung, wodurch der Nutzer stärker in den politischen Prozess involviert wurde. Heute steht die "horse-race-Berichterstattung" im Vordergrund, wodurch der Nutzer nur noch als "spectator" fungiert.
Es kann an dieser Stelle allerdings nicht darum gehen, die amerikanischen Ergebnisse dieser ausgewählten – eher medienkritisch orientierten – Artikel einzuordnen und zu bewerten. Patterson selbst (1993) hält diese Ergebnisse für spezifisch amerikanisch und spricht von einer einzigartigen Veränderung der Berichterstattung, die in anderen Ländern so nicht anzutreffen sei. Institutionelle Unterschiede zwischen den USA und Deutschland lassen Unterschiede in der Berichterstattung zwar plausibel erscheinen, jedoch glauben nicht wenige Autoren, dass die starke Stellung des Kanzlers in der BRD und die Umfunktionierung von Bundestagswahlen zu De-facto-Plebisziten für den Kanzler eine Übertragung amerikanischer Beobachtungen und Thesen auf die deutsche Situation möglich machen (Gabriel/Vetter 1998: 508).
Bezüglich der Personalisierungstendenzen der deutschen Wahlkampfberichterstattung lassen sich in der empirischen Forschung widersprüchliche Ergebnisse finden. Brettschneider spricht von der Personalisierung als "Standardrepertoire der Politikberichterstattung" (Brettschneider 2001: 359). Als besonders anschauliches Beispiel führt er die Landtagswahl von Niedersachsen 1998 an. Sie wurde "zu einer Art Primary nach amerikanischem Vorbild umfunktioniert" (an dieser Wahl entschied sich, ob der niedersächsische Ministerpräsident Schröder oder der saarländische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Lafontaine Kanzlerkandidat der SPD werden würde): "Damit stellten die Massenmedien eine Landtagswahl erstmalig als Volksabstimmung über den Kanzlerkandidaten der größten Oppositionspartei dar" (Brettschneider 2001: 359). Neben dieser Hervorhebung von Kandidaten gegenüber Parteien oder Sachthemen, ist nach Brettschneider auch eine Form der Personalisierung innerhalb der Berichterstattung über die Kandidaten erkennbar. Bei den Wahlen 1994 und 1998 waren häufiger die personenbezogenen Eigenschaften der Kandidaten als deren sachpolitischen Vorstellungen Gegenstand der Berichterstattung (Brettschneider beruft sich dabei u.a. auf die Studien von Kepplinger/ Rettich 1996; Krüger/Zapf-Schramm 1999; Noelle-Neuman et al. 1999). Eine plakative Begründung aus Sicht der Medienmacher liefern Rettich/Schatz (1998) mit Ihrem Zitat des RTL-Chefredakteurs Hans Mahr zur personalisierten Berichterstattung seines Senders über den Bundestagswahlkampf 1998: "Die Leute wollen Menschen wählen und sich nicht mit den komplizierten Wahlprogrammen beschäftigen" (zit. nach Rettich/ Schatz 1998: 63).
Dagegen kommen Wilke/Reinemann in einem Vergleich der Berichterstattung überregionaler Tageszeitungen zu allen Bundestagswahlen zwischen 1949 und 1998 zu einem ganz anderen Ergebnis: "Eine lineare Entwicklung zu einer deutlich stärkeren Personalisierung der Wahlkampfberichterstattung zwischen 1949 und 1998 können wir nicht feststellen." (Wilke/Reinemann 2000: 173, Hervorhebung AD). Sie operationalisieren die Personalisierung anhand mehrerer Indikatoren: Bezug der Artikel zu Kandidaten, Erwähnung der Kandidaten in Text/Überschrift, Anzahl/Dimension wertender Aussagen über Kandidaten, Zahl der Abbildungen von Kandidaten. Nach ihren Ergebnissen kommen die Kandidaten seit 1980 zwar stets häufiger in der Berichterstattung vor, jedoch zeigen die übrigen Indikatoren eher einen Wechsel von intensiver und weniger intensiver Personalisierung der Wahlkampfberichterstattung. Auch bei der Detailanalyse von Willke/Reinemann bezüglich der Personalisierungstendenzen innerhalb der Berichterstattung (stärkere Betonung unpolitischer Persönlichkeitsmerkmale) kommen sie im Vergleich der Bundestagswahlen zu dem Ergebnis, dass sich keine Hinweise für einen Trend der Personalisierung ergeben: "Vielmehr war die Persönlichkeit der Kandidaten schon immer ein fast ebenso wichtiger Anlass für wertende Aussagen wie die Sachkompetenz und die Managerfähigkeiten der Kandidaten. Auch das Auftreten und die äußere Erscheinung der Kandidaten wurden keineswegs immer wichtiger." (Wilke/Reinemann 2000: 173). Es könne "nicht die Rede sein" von dominierender horse-race-Berichterstattung oder von stark zunehmender Personalisierung – zumindest nicht in den untersuchten Tageszeitungen (FR, FAZ, SZ und WELT im Zeitraum vom 1949 bis 1998, jeweils vier Wochen vor der Wahl). Der Grad der Personalisierung eines Wahlkampfes würde demnach stärker von medienexternen Faktoren wie der Kandidatenkonstellation, den politischen Rahmenbedingungen und der Ereignislage abhängen. Wilke/Reinemann stellen den deutschen Nachrichtenmedien (untersucht wurden allerdings nur die vier genannten Zeitungen) ein "gutes Zeugnis" aus, da sie die Personalisierung und die Wahlkampforientierung der Parteien eher "konterkarieren". Interessanterweise verweisen sie zur Stützung ihrer Ergebnisse auf ein Buch, auf das bereits Brettschneider (2001) zur Stützung der Personalisierung der Medienberichterstattung verwiesen hat: Noelle-Neumann/Kepplinger/Donsbach 1999: Kampa (hier speziell auf Seite 171).
Lässt sich dieser "empirische Widerspruch" auflösen? Ein Großteil des Widerspruchs kann wahrscheinlich durch die Untersuchung verschiedener Medien aufgeklärt werden. Wilke/Reinemann vermuten selbst eine Veränderung der Berichterstattung der Zeitungen (also ihres Untersuchungsobjekts) durch das Aufkommen des Fernsehens: Eins ihrer vielen empirischen Einzel-Ergebnisse ist, dass sich die Berichterstattung der Zeitungen weg von den tatsachenbetonten Darstellungsformen "Nachricht" und "Bericht" hin zu den interpretierenden und meinungsbetonten Stilformen "Kommentar", "Reportage" und "Feature" verändert hat (z.B. Rückgang des Nachrichten-Anteils an der Wahlkampfberichterstattung von 82% auf 58% im Zeitraum 1949 bis 1998). Diese Veränderung interpretieren sie damit, dass sich die Presse durch die aufkommende Konkurrenz des Fernsehens stärker auf das beschränkt, was sie "wesentlich besser zu leisten vermag […]: Analysieren, Hintergründe aufdecken und kommentieren" (Wilke/Reinemann 2000: 176). Fernsehen und Presse haben also unterschiedliche thematische Schwerpunkte und Strukturen in ihrer jeweiligen Berichterstattung, so dass die von Brettschneider entdeckten Personalisierungstendenzen der Medienberichterstattung, die sich überwiegend auf Beobachtungen der Fernsehinhalte stützen, nicht mit den Aussagen von Wilke/Reinemann in Widerspruch stehen müssen, da diese sich ausschließlich auf die Beobachtung von vier überregionaler Tageszeitungen beziehen. Die überregionalen Tageszeitungen sind ja gerade für eine ausführliche und hochwertige Politikberichterstattung bekannt, so dass sich einzelne Trends – wie die Personalisierung der Berichterstattung – nur schwer oder sogar gar nicht auf die Gesamtberichterstattung dieser Medien durchschlagen müssen.
Ein weiterer Teil des Widerspruchs lässt sich eventuell aus der Art der Betrachtung und Interpretation der Personalisierungs-Indikatoren von Wilke/Reinemann durch die Autoren selbst erklären. Zwar können Wilke/Reinemann keinen langfristigen Personalisierungstrend in ihren Daten erkennen, jedoch heben sie als Wahlen mit den stärksten Personalisierungstendenzen folgende Bundestagswahlen hervor: 1961 (Adenauer/Brandt), 1965 (Erhardt/Brandt), 1980 (Schmidt/Strauß) sowie die drei letzten Wahlen vor ihrer Veröffentlichung, also 1990, 1994 und 1998 (jeweils Kohl gegen Lafontaine/Scharping/Schröder; Wilke/Reinemann 2000: 173). In einer historischen Verlaufsbetrachtung – wie sie die Autoren vornehmen – kann daher kein eindeutiger Trend (=linearer Anstieg über die Zeit) aus diesen Daten herausgelesen werden. Allerdings könnte man ihre Ergebnisse auch so interpretieren, dass es je nach Kandidatenkonstellation und Ereignislage immer wieder stärker oder schwächer personalisierte Wahlen in der BRD gegeben hat, dass aber seit 1990 der Grad der Personalisierung durchgehend erhöht ist. Da sich die Aussagen anderer Autoren über eine zunehmend personalisierte Medienberichterstattung (z.B. Brettschneider 2001) häufig auf Fernseh daten aus den Jahren 1990-1998 stützen, sind die unterschiedlichen Beobachtungen und Interpretationen also nicht unbedingt widersprüchlich, sondern Ergebnis der Betrachtung unterschiedlicher Medien und Zeiträume. Eine Studie nach dem Muster der Untersuchung von Wilke/Reinemann (Wahlkampfberichterstattung aller Wahlen der BRD in vier überregionalen Abonnementzeitungen) liegt für das Fernsehen bislang nicht vor, so dass ein direkter Vergleich der Entwicklungen in Tagespresse und Fernsehen für den Gesamtzeitraum nicht möglich ist. Personalisierung scheint demnach ein relatives Konstrukt zu sein, das vom gewählten Zeitraum der Betrachtung, den beobachteten Medien und der Operationalisierung abhängt.
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass man sich vor einer undifferenzierten und vorschnellen Medienschelte – in dem Sinne, dass "die Medien" nur noch über Kandidaten und Persönliches und das am liebsten per horse-race-Berichterstattung informieren und die eigentlichen politischen Inhalte auf der Strecke bleiben – hüten muss. Es gibt einige Daten, die für eine stärkere Personalisierung der Berichterstattung des Fernsehens in den neunziger Jahren sprechen. Allerdings zeigen Zeitreihen-Daten über die Tagespresse, dass dieser "Trend" eventuell gar kein Trend ist, sondern nur ein kurzfristiger Ausschlag in die eine Richtung (Personalisierung), dem auch wieder gegenläufige Ausschläge folgen können. Außerdem scheint die Personalisierung bei verschiedenen Mediengattungen verschieden stark ausgeprägt. Einige Autoren vermuten eine Art "Arbeitsteilung" zwischen dem Fernsehen und der Tagespresse: Während das Fernsehen als visuelles Medium besonders stark über Personen berichtet, scheinen Zeitungen sich stärker auf das "Analysieren, Hintergründe aufdecken und kommentieren" zu konzentrieren (Wilke/Reinemann 2000: 176).
3.3.3 Personalisierung des Wählerverhaltens
Untersuchungen und Vermutungen über Personalisierungstendenzen der Medien bzw. der politischen Akteure (siehe die beiden vorangehenden Kapitel) haben als Zielgröße immer das Wählerverhalten im Visier. Erst eine Veränderung des Wählerverhaltens macht eine Untersuchung der Personalisierungstendenzen der Medien und der politischen Akteure inhaltlich wichtig und nötig. Brettschneider (2001) nennt die Personalisierung des Wählerverhaltens daher den "wesentlichsten Aspekt" im Hinblick auf die Machtzuweisung in Demokratien (Brettschneider 2001: 352). Die Personalisierung des Wählerverhaltens umfasst zwei (behauptete) Verhaltenstendenzen:
- Wähler fällen ihre Wahlentscheidung immer stärker auf der Grundlage ihrer Bewertung der Spitzenkandidaten und immer weniger auf der Grundlage ihrer eigenen sachpolitischen Positionen (wachsender Einfluss der Kandidatenorientierung auf den Wahlentscheid: "Candidate-Voting")
- Bei der Bewertung von Kandidaten werden immer stärker unpolitische Persönlichkeitsmerkmale als Kriterien herangezogen und immer weniger die politischen Eigenschaften der Kandidaten (Veränderung der Gewichte von politischen zu apolitischen Kriterien bei der Kandidatenbewertung).
Es stellt sich also z.B. die Frage, ob Gerhard Schröder 1998 für die Stimmabgabe zugunsten der SPD wichtiger war als Konrad Adenauer für die Stimmabgabe zugunsten der Union 1961 (Aspekt 1 der Personalisierung des Wählerverhaltens: "Candidate-Voting") oder ob Bill Clinton 1992 von den amerikanischen Wählern stärker unter persönlichen Gesichtspunkten beurteilt wurde als John F. Kennedy 1960 (Aspekt 2 der Personalisierung des Wählerverhaltens: Entpolitisierung der Kandidatenbewertung) (Brettschneider 2001: 360f.).
Bislang lassen sich in der politischen Kommunikationsforschung zwei Haupt-Argumentationsstränge für eine stärkere Orientierung der Wähler an den Kandidaten finden. Bei der einen Begründung wird den Medien – und hier vor allem dem Fernsehen – eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Den Medien wird eine außergewöhnlich große Wirkung auf die gesamte Gesellschaft unterstellt, und es wird von einer Entwicklung zur "Mediendemokratie" gesprochen (Bürklin/Klein 1998: 184). Da das Fernsehen als wichtigstes Medium (aufgrund von Verbreitung/Reichweite sowie zugeschriebener Glaubwürdigkeit) ein auf Visualisierung angelegten Medienformat ist, würden politische Auseinandersetzungen zunehmend personalisiert dargestellt (schon 1963 sprach Maletzke in seinem "Feldmodell der Massenkommunikation" vom "Zwang des Mediums"; Maletzke 1963: 13). Mit der immer stärkeren Ausbreitung des Fernsehens, und der teilweise damit verbundenen Zurückdrängung anderer Medien, werden die Medien-Rezipienten nach dieser Theorie also immer häufiger durch personalisierte Politikdarstellung erreicht. Außerdem werden Bevölkerungsschichten erreicht, die Politikdarstellungen anderer Medien und/oder Formate bislang wenig oder gar nicht genutzt haben. Passend zu dieser Argumentation, weshalb sich Wähler immer mehr an Kandidaten orientieren (müssen), ist auch die Einschätzung von Politikmanagern, dass sich der Wahlkampf mittlerweile überwiegend auf das Medium Fernsehen konzentriert: "Aus dem Parteienwahlkampf ist der Fernsehwahlkampf geworden" (Radunski 1996: 36).
So plausibel diese Argumentation auf den ersten Blick klingen mag, so wenig sind ihre dargestellten Zusammenhänge zwingend notwendig – und eine empirische Absicherung liegt bislang nicht vor. Die Personalisierung der Medienberichterstattung wurde bereits in einem vorangehenden Kapitel kritisch analysiert ("3.3.2 Personalisierung der Medienberichterstattung", Seite 54). Die bislang vorliegenden Ergebnisse machen eine differenzierte Betrachtung nötig (siehe Diskussion dort) und relativieren einen allgemeinen und starken Trend der Personalisierung von Politikdarstellung in den Medien. Aber auch wenn eine stärker personalisierte Medienberichterstattung unterstellt wird, heißt das noch lange nicht, dass sich auch die Wähler verstärkt bei ihrer Wahlentscheidung an Personen orientieren müssen bzw. dies stärker tun als früher.
Der zweite Argumentationsstrang für eine verstärkte Kandidatenorientierung der Wähler führt dieses Verhalten ebenfalls auf gesellschaftliche Veränderungen zurück, stellt aber nicht die Medien ins Zentrum dieser Veränderungen, sondern die mit der gesellschaftlichen Entwicklung einhergehende Abnahme von Parteibindungen. Im soziologischen Ansatz von Lazarsfeld et al. oder Lipset/Rokkan wurde das Wahlverhalten vor allem mit der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen bzw. mit gesellschaftlichen Konfliktlinien erklärt (siehe "3.2.1 Der soziologische oder sozialstrukturelle Ansatz", Seite 25). Der soziale Wandel moderner Demokratien – wachsende soziale Mobilität und Schwächung traditioneller "Wählermilieus" – führte dann aber zu abnehmenden Gruppenbindungen der Individuen und zur Abschwächung sozialer Konfliktlinien.[21] Der soziologische Ansatz, der allein auf diese sozialstrukturellen Gegebenheiten abstellt, konnte Wahlverhalten daher immer weniger gut erklären und die Einbeziehung nicht-sozialer, kurzfristiger (wahlspezifischer) Politikvariablen im sozialpsychologischen Modell war eine logische Weiterentwicklung des Erklärungsmodells für Wahlverhalten (siehe dazu genauer Kapitel "3.2.4 Fazit: Die Erklärungsmodelle", Seite 46). Aber auch im sozialpsychologischen Modell ist die Parteibindung eine wichtige Erklärungsgröße, und die Abnahme dieser Identifikation der Bürger mit den Parteien ist auch im sozialpsychologischen Modell folgenreich. Wenn von drei erklärenden Variablen (Parteibindung, Issueorientierung, Kandidatenorientierung) eine Variable in ihrer "Erklärungskraft" abnimmt, wie dies für die Variable Parteibindung beobachtet wurde (z.B. Nie/Verba/Petrocik 1976: The Changing American Voter; Dalton/ Rohrschneider 1990: Wählerwandel und die Abschwächung der Parteineigung 1972 bis 1987; Schmitt/Holmberg 1995: Political Parties in Decline?; Zelle 1996: Steigt die Zahl der Wechselwähler? Trends des Wahlverhaltens und der Parteiidentifikation), gibt es für das Gesamtmodell zwei mögliche Konsequenzen: Entweder die beiden anderen, kurzfristigen Politikangebotsvariablen werden wichtiger und übernehmen Erklärungsanteile der abgeschwächten Parteibindung oder das Modell kann Wahlverhalten insgesamt schlechter erklären. Durch die Abnahme der Parteibindung rückten also die beiden anderen Variablen im sozialpsychologischen Modell in den Vordergrund und viele neuere Wahlstudien untersuchten, ob sich die Wähler bei ihrer Entscheidung nun verstärkt an den politischen Sachthemen orientierten ("Issue-Voting") oder ob die Kandidaten wichtiger für den Wahlentscheid wurden ("Candidate-Voting").
Eine dritte Begründung für eine stärkere Kandidatenorientierung der Wähler liegt auch in einer politisch-institutionellen Entwicklung. Nach der "Präsidentialisierungshypothese" wird der wichtigste politische Führer in parlamentarischen Demokratien dem amerikanischen Präsidenten zunehmend ähnlicher. Es stellt sich also die Frage, ob parlamentarische Wahlen zu einem Personalplebiszit über den Regierungschef werden, wodurch die Kandidaten natürlich eine große Bedeutung für das Wahlverhalten bei nationalen Parlamentswahlen gewinnen würden (Bürklin/Klein 1998: 184; Gabriel/Vetter 1998: 508).
3.3.3.1 Candidate-Voting
Die Abnahme der Parteibindung immer größerer Wählerschichten – sei es nun aufgrund sozialen Wandels, eines sich verändernden Mediensystems oder aufgrund anderer Faktoren – hat in der Forschung zu einer immer stärkeren Beachtung kurzfristiger und wahlspezifischer Variablen geführt. Nach dem sozialpsychologischen Erklärungsansatz heißt das: Themen und Kandidaten. Zunächst stand in der Forschung die Themenorientierung im Fokus der Aufmerksamkeit. Das "Issue-Voting" schien an Bedeutung zu gewinnen (z.B. Dalton/Wattenberg 1993: The Not So Simple Act of Voting). Die Kompensation der Parteibindung durch eine Orientierung an politischen Sachthemen (Issues) schien auch demokratietheoretisch begrüßenswert, stellte sie doch eine Ausrichtung an politischen Inhalten dar. Eine Kandidatenorientierung wurde dagegen anfangs eher kritisch betrachtet, da Kandidatenmerkmale eher als etwas "Persönliches" und "Unpolitisches" gesehen wurden und eine wichtige Entscheidung wie eine Bundestagswahl ungern von solchen "Äußerlichkeiten" beeinflusst gesehen wurde. Aus einer normativen Sicht schien issueorientiertes Wählen zunächst die wünschenswertere Alternative als das Candiate-Voting (Gabriel/ Vetter 1998: 509). Auch die häufigere Verwendung des Rational-Choice-Ansatzes in neueren Wahlstudien korrespondierte mit dem Issue-Voting, da die Zugrundelegung von Sachthemen zunächst als "rationaleres" Verhalten bei der Wahlentscheidung erscheint als die Orientierung an Personen (obwohl der Rationalitäts-Begriff im Rational-Choice-Ansatz nicht diese Form des rationalen Verhaltens meint, siehe Diskussion im Kapitel "3.2.3 Der Rational-Choice-Ansatz", Seite 40).
Empirische Überprüfungen des Issue-Voting machten jedoch schnell Probleme dieses Erklärungsmodells deutlich. Eine differenzierte Orientierung an Themen setzt voraus, dass die Wähler für die jeweiligen Themen sowohl eine eigene Position haben als auch die Positionen der konkurrierenden Parteien oder Kandidaten kennen und ihre eigene Position zu den Positionen der Parteien/Kandidaten in Bezug setzen können. Nur so lässt sich – aus dieser Perspektive – entscheiden, welche der Parteien/Kandidaten bei dem jeweiligen Thema eher die eigene Meinung vertritt. Diese Voraussetzungen, die der Operationalisierung von Rationalwahlmodellen als "Policy Distanzen" entspricht, sind aber für eine große Anzahl von Wählern und Themen nicht gegeben. In Befragungen zeigt sich, dass – je nach Art und Anzahl der Themen – oft weniger als 50% der Wähler alle Voraussetzungen erfüllen (z.B. Schmitt 1998). Ein Modell, das nur für einen Teil der Wähler anwendbar ist, kann natürlich nicht als allgemeiner Erklärungsansatz akzeptiert werden. Daher wurde Issue-Voting anders zu operationalisieren versucht. Nicht mehr genaue Positionen müssen bezogen bzw. bekannt sein und eingeordnet werden, sondern eine abstrakte Kompetenzzuschreibung von Parteien bezüglich einzelner Themen war ausreichend (Issue-Kompetenz).[22]
Mittlerweile haben aber sowohl theoretische Überlegungen wie auch empirische Ergebnisse gezeigt, dass das "Candidate-Voting", also die Beeinflussung der Wahlentscheidung durch die unterschiedlichen Kandidaten, mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie das Issue-Voting. Betrachtet man nämlich Wahlen in repräsentativen Demokratien genauer, so zeigt sich, dass sie kaum dazu geeignet sind, über die Lösung spezifischer politischer Probleme zu entscheiden, wie dies bereits von Schumpeter beschrieben wurde (Schumpeter 1950). Nach Schumpeter unterbreiten die politischen Parteien ihre personellen und programmatischen Führungsangebote und die Aufgabe der Wählerschaft besteht darin, eine Entscheidung zwischen den von den Parteien angebotenen Alternativen zu treffen. Dass der Wahlentscheid aber gar kein "so einfacher Akt des Wählens" ist, haben Dalton/Wattenberg 1993 betont ("The Not So Simple Act of Voting") und auf intervenierende Variablen im Entscheidungsprozess verwiesen: traditionelle Gruppenloyalitäten, von Parteien repräsentierte Ideologien und Wertvorstellungen, ihre Lösungsangebote zu einzelnen Sachfragen sowie die Persönlichkeit und vermutete (!) Leistungsfähigkeit der Kandidaten (Dalton/Wattenberg 1993: 193f; Gabriel/Vetter 1998: 506). Verba/Nie zeigen darüber hinaus, dass die Bürger mit ihrer Wahlentscheidung nicht spezifische Politikoptionen festlegen können (Verba/Nie 1972: Participation in America. Political Democracy and Social Equality, S. 52). Vielmehr wird von den Wählern ein generalisierter Führungsauftrag an für vertrauenswürdig gehaltene Personen für eine begrenzte Zeit erteilt. Wähler erteilen also ein auf die Zukunft gerichtetes Mandat und hoffen darauf, dass die mit dem Regierungsauftrag betrauten Personen mit diesem eingeräumten Vertrauenskredit angemessen umgehen. Diese Hoffnung stützt sich einerseits auf Erfahrungen in der Vergangenheit, andererseits aber auch auf die Persönlichkeit der Kandidaten. Dabei spielt Vertrauen nach Gabriel/Vetter (1998: 506) in unterschiedlichen sozialen Situationen eine Rolle und kann auch im politischen Leben nicht von vornherein als irrational oder demokratietheoretisch bedenklich "abqualifiziert" werden. Dies zeigen auch empirischen Analysen von Lass (1995): Er kommt in seiner Untersuchung der "Vorstellungsbilder über Kanzlerkandidaten" zu dem Schluss, dass die Wahlentscheidung in der Demokratie durch die Personalisierung des Wahlverhaltens nicht trivialisiert, sondern zusätzlich fundiert wird (Lass 1995: 193). Diese Fundierung entsteht nach Lass vor allem deshalb, weil die Vorstellungsbilder der Wähler über die Kanzlerkandidaten eben nicht vor allem aus unpolitischen Inhalten z.B. über das Privatleben der Kandidaten bestehen, sondern vor allem aus "rollennahen" Bestandteilen wie der politischen Performanz oder der Führungsstärke gebildet werden (siehe dazu genauer im folgenden Kapitel).
In Bevölkerungsgruppen mit einer schwachen Partei-Identifikation bzw. ohne langfristig stabile Parteibindung ist kandidatenorientiertes Wählen daher mindestens so wahrscheinlich wie issueorientiertes Wählen (Gabriel/Vetter 1998: 509).
Allerdings ist das Candidate-Voting nicht losgelöst von politischen Themen oder persönlichen Einstellungen der Wähler zu betrachten. Das Ausmaß des Candidate-Voting dürfte vielmehr an drei Faktoren geknüpft sein (Brettschneider 2001: 361f):
6 (1) die Parteiidentifikation des Wählers,
7 (2) die wahrgenommenen thematischen Unterschiede zwischen den Parteien und
8 (3) die wahrgenommenen Unterschiede zwischen den Kandidaten.
Bei Wählern mit einer ausgeprägten affektiven Parteibindung steht die Parteiidentifikation meist mit der Themen- und Kandidatenorientierung im Einklang ("normal vote", "Normalwahl" – Converse 1966b). Die starke Parteibindung wirkt dabei als Filter und Bewertungsschema für Themen und Kandidaten und führt so zu einem harmonischen Gesamtbild. Aber selbst wenn bei einer Wahl einmal die politischen Positionen der Partei oder des Spitzenkandidaten den starken Partei-Identifizierer nicht hundertprozentig überzeugen, wird er aufgrund seiner starken Parteineigung in der Regel trotzdem für seine ansonsten präferierte Partei stimmen. Eine eigenständige Bedeutung von Kandidatenorientierungen dürfte bei dieser Wählergruppe äußerst gering sein.
Eine stärkere Orientierung an den Spitzenkandidaten wird sich dagegen bei Personen zeigen, die sich nur schwach mit einer Partei verbunden fühlen. Bei ihnen kann es eher zu Diskrepanzen zwischen ihrer (schwachen) Parteiidentifikation sowie ihrer Themen- und Kandidateneinschätzungen kommen. Eine Abweichung von der Parteiidentifikation ist dabei dann wahrscheinlicher, wenn der "eigene" Kandidat kritisch gesehen wir und der "gegnerische" nicht negativ bewertet wird. Wenn sich gleichzeitig keine relevanten Unterschiede zwischen den Sachpositionen und den Problemlösungskompetenzen der Parteien wahrnehmen lassen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Kandidatenorientierung zusätzlich.
Am stärksten wird das Einfluss-Potential der politischen Kandidaten bei den Wählern vermutet, die sich überhaupt keiner Partei verbunden fühlen. Auch bei Ihnen gilt die gleiche Logik: "Der Kandidateneffekt dürfte um so stärker sein, je größer die wahrgenommenen Unterschiede zwischen den beiden Spitzenkandidaten sind und je geringer die wahrgenommenen Differenzen zwischen den Sachpositionen oder den Problemlösungskompetenzen zwischen den Parteien ausfallen" (Brettschneider 2001: 362; ebenso: Gabriel/ Vetter 1998).
Es gibt also eine ganze Reihe von theoretischen wie auch wahlkampf-praktischen Gründen, die für die Existenz von "Candidate-Voting" sprechen (natürlich nicht als einzigen Erklärungsfaktor für Wahlverhalten; genau so wenig wie "Issue-Voting" als alleiniger Erklärungsfaktor gemeint war und ist). Beobachtungen der Wahlkampftaktik der politischen Akteure sowie der Medienberichterstattung lassen die These des personalisierten Wahlverhaltens zusätzlich plausibel erscheinen.
Empirische Befunde zum "Candidate-Voting" sind jedoch noch "spärlich gesät" (Brettschneider 2001), Gabriel/Vetter (1998) sprechen von einem "Schattendasein" der Kandidatenorientierung in der Forschung wegen der stärkeren Beachtung des Issue-Wählens. Dass es bislang nur wenige aussagekräftige Studien gibt, liegt auch daran, dass sich Aussagen über eine veränderte Rolle von Kandidateneffekten streng genommen nur auf der Grundlage von Längsschnittanalysen treffen lassen, die in der wissenschaftlichen Forschung eher selten anzutreffen sind. Die (wenigen) Untersuchungen, die den Einfluss von Kandidaten auf das Wahlverhalten thematisieren und empirisch überprüfen – ob nun exklusiv oder im Verbund mit anderen Einflussfaktoren – kommen bislang nicht zu dem Ergebnis, dass die Kandidatenorientierung kontinuierlich an Bedeutung für den Wahlentscheid zunimmt: Wie schon bei der kritischen Überprüfung der Personalisierung der Medienberichterstattung ist die Annahme, dass "alles immer personalisierter werde", zu pauschal und undifferenziert. Bei der Medienberichterstattung wurde deutlich, dass es vor allem im Fernsehen bei den letzten Wahlen einen höheren Grad der Personalisierung gab. Es wurde aber ebenso deutlich, dass weder von einem langfristigen Trend noch von einem Phänomen bezüglich aller Medien gesprochen werden kann: Wahlen mit erhöhter personalisierter Berichterstattungen wechselten bislang mit Wahlen weniger personalisierter Berichterstattung ab, die Berichterstattung in Tageszeitungen wies einen geringeren Personalisierungsgrad auf als die TV-Berichterstattung, und medienexterne Faktoren wie Kandidatenkonstellation und politische Ereignislage hatten einen starken Einfluss auf die Personalisierung der Berichterstattung.
Ähnlich lassen sich die bisherigen empirischen Ergebnisse der Untersuchung des Personalisierungsgrades des Wählerverhaltens interpretieren: Kandidateneffekte fallen je nach den zur Wahl stehenden Personen (Kandidatenkonstellationen) sowie den Rahmenbedingungen einer Wahl (politische Ereignislage, allgemeine politische Stimmung, wirtschaftliche Lage) unterschiedlich stark aus (z.B. Falter/Rattinger 1983, Kaase 1994, Lass 1995, Gabriel/Vetter 1998, Brettschneider 2001).
Da der zentrale Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit nicht der Kandidateneffekt auf das Wahlverhalten ist, sollen an dieser Stelle nicht alle empirischen Ergebnisse, die es zu diesem Verhältnis gibt, dargestellt werden. Es soll vielmehr die generelle Problematik des Konzepts "Kandidatenorientierung", seiner Operationalisierung und Analyse, verdeutlicht werden. Daher werden im Folgenden drei deutsche Studien exemplarisch detaillierter vorgestellt, die ihren Schwerpunkt auf die Bundestagswahl 1994 – meinem Untersuchungsjahr – legen: Gabriel/Vetter 1998, Brettschneider 2001 und Schmitt 1998[23]. Die Diskussion dieser Studien im Detail bringt einen höheren Erkenntnisgewinn als die Zusammentragung alle empirischer Einzelergebnisse, da bei dem noch keineswegs standardisierten Konstrukt "Kandidatenorientierung" die Methode der Erhebung und Auswertung entscheidend für das Verständnis der Ergebnisse ist.
Gabriel/Vetter (1998) vergleichen die Bundestagswahlen von 1990 und 1994 miteinander und finden die theoretisch vermuteten Zusammenhänge zwischen den Faktoren des sozialpsychologischen Erklärungsmodells: Personen mit konsistenten politischen Orientierungen, die sich mit einer Partei identifizieren und ihr auch die größere Problemlösungskompetenz[24] zuweisen, geben auch "ihrem" Kanzlerkandidaten den Vorzug. Der Einfluss des Kandidaten ist bei dieser Personengruppe gleich Null (sowohl 1990 als auch 1994). Einen moderaten Kandidateneffekt finden Gabriel/Vetter dann bei den Befragten, die sich zwar mit keiner Partei explizit identifizieren, die aber einer der großen Parteien eine größere Problemlösungskompetenz zuweisen. Selbst mit ihrem "konservativen" Schätzverfahren (in einer Varianzanalyse wurde die Kandidatenorientierung immer als letzte Variable – nach Parteiidentifikation und Problemkompetenz – in das Erklärungsmodell eingeführt und so ihr zusätzlicher Anteil der Varianzaufklärung geschätzt) finden sie bei den CDU-Wählern dieser Gruppe 1994 eine Erhöhung der "Wahlwahrscheinlichkeit" um 13 Prozentpunkte durch den Kandidaten Kohl. Für die SPD-Wähler dieser Gruppe liegt der Wert bei nur 4 Prozentpunkten (siehe Tabelle 2).
[...]
[1] Typischerweise tritt bei Bundestagswahlen in Deutschland der amtierende Kanzler als Kanzlerkandidat an und sein Herausforderer ist ein exponierter Vertreter der größten Oppositionspartei (Vorsitzender, Fraktionschef, Ministerpräsident eines Landes o.ä.)
[2] Leitung: Lutz Erbring.
[3] Schulz belegt dies einerseits mit der zunehmenden Zahl an Handbüchern und ähnlichen Überblickspublikationen, die immer mehr thematisch differenzieren und deren Bibliographien immer mehr anschwellen, und andererseits mit der Herausbildung von eigenen Sektionen, Arbeitskreisen und dergleichen in den politik- und kommunikationswissenschaftlichen Fachgesellschaften. So existieren z.B. sowohl bei der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) als auch bei der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) die Arbeitskreise "Politik und Kommunikation", die gemeinsam ein Jahrbuch herausgeben.
[4] Ausgeklammert sind bei dieser Betrachtung die Einflussmöglichkeiten der Politik auf Medien und Publikum durch gesetzgeberische Mittel. Diese können natürlich starke Effekte auf (Medien-)Institutionen und Bürger haben; solche Effekte stellen in einer gewachsenen Gesellschaft aber eher Rahmenbedingungen dar, die nur mittel- bis langfristige Effekte haben und die nicht mit den kurzfristigen Effekten massenmedialer Inhalte auf die Vorstellungen der Rezipienten verglichen werden können.
[5] Cantril (1958) verweist in seiner Begleitforschung zu Welles' Hörspiel sogar explizit auf sehr unterschiedliche Effekte bei den Rezipienten in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen (295f). Nur wenige Zuhörer verfielen in die häufig angeführte Massenpanik; siehe auch Rössler 1997: 163, Kepplinger/Maurer 2000: 444, Winterhoff-Spurk 2001: 31.
[6] Winterhoff-Spurk fügt noch eine – allerdings rein spekulative – Erklärung hinzu: Klapper arbeitete damals als Medienforscher beim amerikanischen Medienkonzern CBS und das Konzept der schwachen Medienwirkungen sei "womöglich … ein von Medienorganisationen und -wissenschaftlern zum gegenseitigen Nutzen erfundener Mythos." (Winterhoff-Spurk 2001: 118f.). Schwache Medienwirkungen entlasten nach dieser Argumentation die Medieninstitutionen von einer ansonsten sehr großen gesellschaftlichen Verantwortung.
[7] Dabei thematisieren Kepplinger/Maurer (2000) noch nicht einmal den Einfluss der Medien auf die "bereits gefassten Absichten" der 53 Prozent Menschen, die "nur" in ihren gefassten Absichten verstärkt werden. Es stellt sich nämlich die Frage, wie diese Menschen ihre Ansichten, die in der "heißen Wahlkampfphase" nicht mehr verändert, sondern nur noch bestärkt werden, gefasst haben. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese "gefassten Absichten" keineswegs frei von Medieneinflüssen sind, sondern auch auf Medieninhalten beruhen, aber aus früheren Wahlkampfphasen. Die zeitliche Beschränkung auf Medieneinflüsse in der "heißen Wahlkampfphase" führt daher immer zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Medienwirkungen. Diese Vermutungen sind eine der grundlegenden Überlegungen für die Konzeption der empirischen Studie dieser Arbeit und werden daher an späterer Stelle detailliert entwickelt.
[8] Kepplinger/MAurer (2000) sind allerdings der Meinung, dass die Existenz eines Zwei-Stufen-Flusses bis heute nicht abschließend geklärt sei (Kepplinger/Maurer 2000: 445).
[9] Winterhoff-Spurk (2001) spricht daher von "defensiver Selektivität" (35).
[10] Diese Betrachtungen zur Selektivität beziehen sich vornehmlich auf die Phase der selektiven Zuwendung Daneben existieren im Rezeptionsprozess aber auch weitere und mindestens ebenso wichtige Selektionsphasen, die auch schon bei Lazarsfeld et al (1944) empirisch dokumentiert sind: selektive Wahrnehmung/Interpretation und selektives Erinnern/Vergessen.
[11] Das Priming-Konzept wird hier nur kursorisch dargestellt. Für detailliertere Darstellungen siehe z.B. Iyengar/Peters/Kinder 1984, Iyengar/Kinder 1986, 1987, Iyengar 1988, 1990, Krosnick/Kinder 1990, Brody 1991, Popkin 1994, McCombs/Shaw 1993, Brettschneider 1994, McLeod/Kosicki/McLeod 1994, Lass 1995, Iyengar/Simon 1997, Miller/Krosnick 1996, 1997, Price/Tewksbury 1997, Rössler 1997, Schmitt-Beck 1998, Rössler/Schenk 1999, Scheufele 2000.
[12] Deutscher Titel: Wahlen und Wähler. Soziologie des Wahlverhaltens. Erschienen 1969 in Neuwied.
[13] Berelson/Lazarsfeld/McPhee (1954) zeigen in einer Anschluss-Studie ("Voting. A Study of Opinion Formation in a Presidential Campaign"), dass auch die Wahrnehmung politischer Informationen von diesem Wunsch nach einem spannungsfreien Verhältnis unterworfen ist: Bevorzugten Kandidaten wurden passende (eigene) Standpunkte zugeschrieben (auch wenn die Kandidaten diese gar nicht vertraten) und politische Informationen wurden nur selektiv wahrgenommen. Damit haben Berelson et al. die Theorie der kognitiven Dissonanz, die Festinger 1957 formulierte, in der Wahlforschung vorweggenommen (vgl. auch Roth 1998: 26).
[14] Allerdings tragen auch die sozio-kulturellen Konflikte eine sozio-ökonomische Dimension in sich – wie auch das umgekehrte gilt (Gabriel 1999: 483).
[15] Da die Parteiidentifikation – zumindest ursprünglich – als Herzstück des Ansatzes gilt, existiert für den sozialpsychologischen Ansatz noch ein weiteres Synonym: "Modell der Parteiidentifikation" (Bürklin/Klein 1998).
[16] Wegen ihrer zentralen Rolle ist die Parteiidentifikation im sozialpsychologischen Ansatz vielfach untersucht worden. Einen Überblick über die unterschiedlichen theoretischen wie methodischen Kritikpunkten an diesem Konzept geben Falter/Schoen/Caballero (2000). Fast alle ihrer Validierungsanalysen kommen zu einem positiven Schluss, was die Validität des Konzepts und damit auch die Übertragbarkeit dieses amerikanischen Konstrukts auf die BRD angeht. Die Parteiidentifikation wird als fest verankerte Einstellung empfunden, färbt politische Einstellungen und beeinflusst das politische Verhalten. Sie ist zwar nicht vollkommen stabil, jedoch im Vergleich zu andern Attitüden konstanter, "weshalb es gerechtfertigt erscheint, der Parteiidentifikation innerhalb des Michigan-Modells eine kausal prioritäre Position einzuräumen" (Falter et al. 2000: 265). Allerdings ist der Unterschied zwischen Parteiidentifikation und Wahlverhalten im Westen der Bundesrepublik gering.
[17] Die Herkunft dieser Dimensionen wird in Kapitel 3.3.3.2 diskutiert.
[18] Dabei gingen die räumlichen Modelle der "ersten Generation" – die so genannten "Distanzmodelle" – noch von der Annahme der Verfügbarkeit vollständiger Informationen aus (Enelow/Hinich 1984). Wie sich (empirisch) herausstellte, ist die Informationsverarbeitungskapazität der Wähler jedoch begrenzt. Daher nehmen räumliche Modelle der "zweiten Generation" – so genannte "Richtungsmodelle" – nur noch eine diffuse Wahrnehmung von Positionen und Intensitäten durch die Wähler an (Rabinowitz/MacDonald 1989; siehe zur Kritik v.a. Stokes 1966, dort auch die klassische Unterscheidung von position und valence issues).
[19] Dies ist dem Sammelband "50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland" von Klein/Jagodzinski/Mochmann/Ohr (2000) zu entnehmen
[20] Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Graber 1997 und Patterson 1993, dessen medienkritische Einstellung bereits im Titel deutlich wird: Patterson (1993): "Out of Order. How the Decline of Political Parties and the Growing Power of the News Media Undermine the American Way of Electing Presidents".
[21] vgl. u.a. Oedegaard (2000): Lebensstile, soziale Milieus und Wahlverhalten in Westdeutschland; oder Holtz-Bacha (2002): Massenmedien und Wahlen: Die Professionalisierung der Kampagnen, S. 26
[22] Schmitt (1998) vergleicht diese beiden Operationalisierungen "Policy Distanzen" und "generalisierte Issuekompetenz-Zuschreibung" in einer empirischen Überprüfung miteinander und kommt zu dem Schluss, dass die Zuschreibung von generalisierten Issue-Kompetenzen die bessere Operationalisierung ist. Die Begründung für die neue Operationalisierung liegt m.E. vor allem in einer genaueren Betrachtung individueller Entscheidungsabläufe: "Policy Distanzen" unterstellen "buchhalterisch-kalkulierende individuelle Entscheidungsprozesse" (Schmitt 1998: 158). Eine genauere Untersuchung von Entscheidungsabläufen beim Menschen führte jedoch zu einer anderen Sicht darüber, wie Menschen zu Entscheidungen gelangen. Stichwort ist hier die Anwendung von Entscheidungsheuristiken (siehe genauer dazu im Kapitel 5 "Das RAS-Modell von Zaller"). Schmitt interpretiert die Ergebnisse seiner Umfrage-Daten dahingehend, "dass die Wähler, wenn sie nach politischer Kompetenz gefragt werden, wissen, wovon sie reden. Diesen Eindruck konnte man bei der Inspektion der Distanz-Operationalisierungen nicht so leicht gewinnen." (Schmitt 1998: 160).
[23] Gabriel/Vetter (1998): "Bundestagswahlen als Kanzlerwahlen? Kandidatenorientierungen und Wahlentscheidungen im parteienstaatlichen Parlamentarismus; Brettschneider (2001): Candidate-Voting. Die Bedeutung von Spitzenkandidaten für das Wählerverhalten in Deutschland, Großbritannien und den USA von 1960 bis 1998; Schmitt (1998): Issue-Kompetenz oder Policy-Distanz? Zwei Modelle des Einflusses politischer Streitfragen auf das Wahlverhalten und die empirische Evidenz aus drei Nachwahlumfragen zur Bundestagswahl 1994.
[24] Die Problemlösungskompetenz operationalisiert die Themenorientierung. Bei Gabriel/Vetter handelt es sich konkret um einen Index aus verschiedenen Fragen bezüglich der Wichtigkeit von politischen Problemen und den Parteien, denen dafür die Lösungskompetenz zugeschrieben wird (Gabriel/Vetter 1998: 528, Fußnote Tabelle 4)
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