Verhaltensstörungen werden bislang in der Regel als (ungünstiges) Erziehungsverhalten der primären Bezugspersonen, meist der Eltern, angesehen und nur selten mit hirnfunktionellen Störungen in Verbindung gebracht. Die vorliegende Arbeit versucht in drei empirischen Studien prä-, peri- und postnatale Risikofaktoren dahingehend zu überprüfen, inwieweit sie mit später in der Entwicklung auftretenden Verhaltensstörungen in einem Zusammenhang zu sehen sind.
In zwei Studien wird zum einen das Ausmaß der von Erzieherinnen eingeschätzten Verhaltensauffälligkeiten bei 458 Braunschweiger Kindergartenkindern erhoben und differenziert analysiert und zum anderen werden bei 423 Kindern einer Inanspruchnahmepopulation des Sozialpädiatrischen Zentrums Wolfsburg vorhandene Risikofaktoren auf mögliche Zusammenhänge mit Verhaltensstörungen überprüft.
Es konnte gezeigt werden, daß Erzieherinnen Verhaltensstörungen überwiegend nach einem psychosozialen Konzept beurteilen. Weiter konnte gezeigt werden, daß Risikofaktoren wie EPH-Gestose, Infektionen der Mutter, Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft, Geburtsart (insbesondere Sectio), Seh-, Hör- und Sprachstörungen die Wahrscheinlichkeit für spätere Verhaltensstörungen stark erhöhen. Für andere Risikofaktoren wie zum Beispiel Schädel-Hirn-Traumen, vorzeitige Wehen oder Schwangerschaftsblutungen, Alkohol, Nikotin, motorische Störungen war der Einfluß mittelstark bis schwach, während beispielsweise die Zahl der Schwangerschaften und das Alter der Mutter keinen Einfluß zu haben scheinen.
Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit wird ein Screening-Verfahren in Form eines Fragebogens vorgestellt, der die Wechselwirkungen zwischen Hirnfunktions- und Verhaltensstörungen im Kindergartenalter erfassen kann und der dazu beiträgt, frühzeitig eine entsprechende weitergehende Diagnostik zu veranlassen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
1.1 Deterministisch-hierarchisches Entwicklungskonzept
1.2 Adaptives, holistisches Entwicklungskonzept
1.3 Konzept der Entwicklungsbahnen
2 Verhaltensstörungen
2.1 Klassifikationssysteme
2.2 Epidemiologie und Prävalenz von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter
2.3 Komorbidität
2.4 Biologische Grundlagen
3 Hirnfunktionsstörungen
3.1 Neuropsychologische Grundlagen
3.2 Motorische Störungen: Infantile Cerebralparese (ICP)
3.3 Wahrnehmungsstörungen
3.3.1 Störungen der visuellen Wahrnehmung
3.3.2 Störungen der auditiven Wahrnehmung
3.4 Sprachstörungen
4 Risikofaktoren
4.1 Pränatale Risikofaktoren
4.1.1 Blutungen / Vorzeitige Wehen
4.1.2 EPH-Gestose
4.1.3 Infektionen
4.1.4 Alkohol
4.1.5 Nikotin
4.1.6 Drogen / Medikamente
4.2 Perinatale Risikofaktoren
4.2.1 Geburtszeitpunkt
4.2.2 Geburtsgewicht
4.3 Postnatale Risikofaktoren
4.3.1 Hirnblutungen
4.3.2 Schädel-Hirn-Trauma
4.3.3 Krampfanfälle
4.3.4 Epilepsien
4.3.5 Asthma bronchiale
4.3.6 Allergien
4.3.7 Sehstörungen im Kindesalter
4.3.8 Hörstörungen im Kindesalter
5 Empirische Untersuchung
5.1 Methode
5.1.1 Empirische Untersuchung: Teil 1
5.1.2 Empirische Untersuchung: Teil 2
5.1.3 Empirische Untersuchung: Teil 3
5.2 Empirische Untersuchung: Teil 1
5.2.1 Durchführung einer Befragung in Wolfsburger Kinderta- gesstätten
5.2.2 Merkmale der Stichprobe
5.2.3 Analyse der Befragung von Erzieherinnen in Kindertages- stätten der Stadt Braunschweig
5.2.4 Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu Teil 1
5.2.5 Diskussion
5.3 Empirische Untersuchung: Teil 2
5.3.1 Analyse der Daten aus dem Zentrum für Entwicklungs- diagnostik und Sozialpädiatrie Wolfsburg (SPZ Wolfsburg)
5.3.2 Merkmale der Stichprobe
5.3.3 Darstellung der erhobenen Anamnesedaten im Sozialpä-
diatrischen Zentrum Wolfsburg
5.3.4 Anamnesedaten (Gesamtstichprobe)
5.3.4.1 Daten in Bezug auf die Familienanamnese
5.3.4.2 Daten in Bezug auf die Schwangerschaft
5.3.4.3 Daten in Bezug auf die Geburtssituation
5.3.4.4 Daten in Bezug auf die Neugeborenen-Periode
5.3.4.5 Daten in Bezug auf die Krankheits- und Störungsbilder
5.3.4.6 Daten in Bezug auf die Diagnosestellungen im Sozial- pädiatrischen Zentrum Wolfsburg
5.3.5 Analyse der Anamnesedaten
5.3.6 Ergebnisse der empirischen Untersuchung: Teil 2
5.3.6.1 Ergebnisse der Daten: Schwangerschaft
5.3.6.2 Ergebnisse der Daten: Geburt
5.3.6.3 Ergebnisse der Daten: Neugeborenen-Periode
5.6.3.4 Ergebnisse der Daten: Krankheits- und Störungsbilder
5.6.3.5 Ergebnisse der Daten: Diagnosestellungen
5.3.7 Diskussion
5.4. Empirische Untersuchung: Teil 3
5.4.1 Entwicklung eines Fragebogens zur Zuordnung von Symptomen von Verhaltensstörungen
5.4.2 Methode
5.4.2.1 Voruntersuchung
5.4.2.2 Ergebnisse
5.4.2.3 Itemselektion
5.4.3 Fragebogeneinsatz in Kindertagesstätten
5.4.3.1 Ergebnisse
5.4.4 Diagnostische Überprüfung der Fragebogendaten
5.4.5 Einzelfalldiagnostik
5.4.5.1 Fallbeispiel 1
5.4.5.2 Fallbeispiel 2
5.4.5.3 Fallbeispiel 3
5.4.6 Diskussion
6 Zusammenfassung und Diskussion
7 Literatur
8 Verzeichnis der Tabellen, Kästen und Abbildungen
9 Anhang
1 Einführung
In den letzten Jahren wird zunehmend das Auftreten von massiven Verhaltensstörungen (Aggressionen, Hyperaktivität) bei Kindern beobachtet, die zu einer ungünstigen Entwicklungsprognose beitragen (Petermann & Petermann, 1996). Bereits im Kleinkind- und Vorschulalter sind gestörte Verhaltensmuster zu beobachten, die sich bei Schuleintritt durch hinzukommende Lern- und Leistungsanforderungen verstärken können. Die Frage nach ursächlichen Zusammenhängen für solche Verhaltensstörungen läßt sich nicht eindeutig beantworten, vielmehr ist ein breites Spektrum an psychologischen, pädagogischen und soziologischen Erklärungsansätzen vorhanden. Dabei fällt auf, daß die Überprüfung der Bedingungen, die im Kind selbst aufgrund seiner biologischen Voraussetzungen gegeben sind, noch wenig im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung von kindlichen Verhaltensstörungen diskutiert wird.
Die Erkenntnis, daß auch menschliches Verhalten letztlich neuronal gesteuert wird, ist zwar nicht grundsätzlich neu. Die Ableitung daraus, daß Verhaltensstörungen auch aus einem gestörten Zusammenspiel der Nervenverbindungen, also endogen, beziehungsweise daß gestörte Nervenverbindungen durch exogene Faktoren (Erziehung, Kommunikation, Erkrankungen, Unfälle) entstehen und somit das Verhalten ungünstig beeinflussen können, wird in der Pädagogik noch weitgehend vernachlässigt.
Die Bedeutung der Entwicklungsdiagnostik im Kindesalter liegt in der Frühdiagnose von Entwicklungsstörungen, -abweichungen oder -verzögerungen mit dem Ziel der Frühtherapie. Hier haben sich standardisierte Entwicklungstests bewährt, da mit ihrer Hilfe Abweichungen von der normalen Entwicklung schon in einem sehr frühen Stadium entdeckt werden können, meist bevor pathologische Befunde bei einer pädiatrischen oder neurologischen Untersuchung offenbar werden (Griffiths, 1983). Es ergeben sich daraus Möglichkeiten, durch gezielte Förderung bzw. Therapiemaßnahmen bestimmter Funktionen, deren Beherrschung die Bedingung für die weitere Entwicklung ist, schwerere Störungen und Verzögerungen zu vermeiden.
Die heute fast überall praktizierte Methode einer Entwicklungsbeurteilung geht auf Vorstellungen zurück, die zu Beginn der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts von Gesell (1925) begründet und die dann von anderen übernommen wurden. Dieses Entwicklungskonzept läßt sich definieren als deterministisch-hierarchisches Entwicklungskonzept, in dem bestimmte Entwicklungsschritte auf einer genetischen Strukturierung basieren, die eine große Verläßlichkeit besitzt und daher auch für alle Kinder dieser Welt Gültigkeit haben muß (Michaelis & Haas, 1994).
1.1 Deterministisch-hierarchisches Entwicklungskonzept
Das deterministisch-hierarchische Entwicklungskonzept wird durch eine Reihe von Annahmen charakterisiert, die in sich schlüssig sind. Michaelis und Haas (1994) beschreiben diese Annahmen wie folgt:
- Die Entwicklung schreitet von unreifen zu reifen Entwicklungsstadien fort. Das endgültige, reife Stadium ist immer nur dann voll funktionsfähig, wenn die vollständige Reifung des Systems erreicht worden ist.
- Entwicklungsschritte folgen aufeinander in strenger zeitlicher und morphologischer Ordnung.
- Ein vorgeschalteter Entwicklungsschritt kann nicht beliebig später durchlaufen werden, da er die Voraussetzung für die nachfolgenden Entwicklungsschritte bildet.
- Eine strenge zeitliche Korrelation aller für die Entwicklung notwendigen morphologischen, biologischen, funktionellen und neuronalen Voraussetzungen ist essentiell, da anderenfalls ein normaler Ablauf der Entwicklung nicht garantiert werden kann.
- Eine solche notwendige, rigide Kontrolle von Entwicklungsvorgängen kann nur durch eine genetische Festlegung aller Entwicklungsschritte garantiert werden.
- Entwicklungsschritte müssen in starker gegenseitiger Abhängigkeit linear und hierarchisch geordnet sein.
- Die Störung eines der frühen Entwicklungsschritte muß zur Störung des gesamten Systems führen.
- Entwicklungsschritte sind zeitlich, qualitativ und funktionell determiniert und damit voraussagbar.
- Entwicklungsprozesse laufen bei allen Kindern zeitlich und funktionell in der gleichen Weise ab (Michaelis & Haas, 1994).
Es ist inzwischen jedoch erwiesen, daß ein solches deterministisch-hierarchisches Entwicklungskonzept nicht geeignet ist, um alle Entwicklungsphänomene zu erklären. Kinder entwickeln sich keineswegs immer in linearen, hierarchisch geordneten Entwicklungsabläufen. Schon im Jahre 1984 konnte Touwen zeigen, daß die Entwicklung der Greiffunktionen der Hand sehr individuellen Entwicklungsprozessen folgt, die mit dem oben genannten Konzept nicht vereinbar sind. Er konnte ebenfalls zeigen, daß immer wieder Verhaltensformen für Tage oder Wochen erscheinen, die bereits absolviert worden sind. Touwen bezeichnet sie als Inkonsistenzen, sie sind als transitorische Regressionen zu verstehen (Touwen, 1984).
Ebenfalls nicht in Übereinstimmung mit einem deterministisch-hierarchischen Entwicklungskonzept ist die Tatsache, daß sich Kinder verschiedener Kulturen unterschiedlich entwickeln. Statt eines für alle Kinder gültigen Entwicklungskonzepts auf der Basis genetischer Faktoren muß demnach der individuelle Verlauf der Entwicklung eines Kindes beachtet werden.
1.2 Adaptives, holistisches Entwicklungskonzept
Ein anderes Konzept, welches in der Lage ist, die zu beobachtenden Phänomene der kindlichen Entwicklung adäquat zu erfassen und zu erklären, kann als adaptives, holistisches Entwicklungskonzept definiert werden. Ein solches Konzept geht davon aus, daß sich während der Evolution die Bindungen und Steuerungen durch die genetisch fixierten Kontrollmechanismen gelockert haben, so daß sich die kindliche Entwicklung an die Bedingungen der Umwelt anpassen, also adaptieren kann. Dieser Schritt der Loslösung von der genetischen Programmierung muß als entscheidender Selektionsvorteil des Menschen angesehen werden (Michaelis & Haas, 1994).
Kinder entwickeln sich auch nicht von unvollkommenen Vorstufen zu einem vollkommenen, reifen Menschen, sondern es muß davon ausgegangen werden, daß in jeder Altersstufe eine vollkommene Ausstattung zum Funktionieren aller Systeme vorhanden ist. Für jede Entwicklungsaufgabe kann das Kind somit über ein volles Funktionieren seines Organismus verfügen (Michaelis & Haas, 1994). Die morphologischen und neuronalen Basisprozesse, die Richtung der Entwicklung, die ererbten Qualitäten und das Entwicklungsziel sind auch weiterhin genetisch festgelegt; die individuelle Entwicklung kann sich aber an den Umweltbedingungen orientieren, sich anpassen (adaptieren) und ausrichten. Daraus abgeleitet ergibt sich, daß die individuelle Entwicklung neben den genetischen Vorgaben abhängig ist von familiären, zivilisatorischen und kulturellen Forderungen an das Kind. Damit kommt es aber zu einer hohen Variabilität der Entwicklungsprozesse, so daß bestimmte Entwicklungsphänomene sehr viel besser verständlich werden. Nach Touwen (1984) sind bei der Beurteilung der kindlichen Entwicklung folgende essentielle Konditionen zu beachten:
- Verschiedene Kinder entwickeln sich unterschiedlich; das heißt es gibt eine interindividuelle Variabilität.
- Ein Kind entwickelt sich in verschiedenen Entwicklungsbereichen unterschiedlich, zum Beispiel rasches Erlernen der Sprache, langsames Erlernen des freien Gehens; das heißt es gibt eine intraindividuelle Variabilität.
- Inkonsistenzen (transitorische Regressionen) als Entwicklungsvariablen gehören zur normalen Entwicklung.
Die hohe Variabilität von Entwicklungsprozessen, die in einem adaptiv-holistischen Konzept eine wesentliche Rolle spielt, bedingt jedoch, daß die Entwicklungsbeurteilung erheblich schwieriger ist und umfassender sein muß als nach dem deterministisch-hierarchischen Konzept.
Um diesem Dilemma zu entgehen, wird das im englischsprachigen Raum schon länger bekannte Prinzip der „Meilensteine der Entwicklung“ verwendet. Es bietet die Möglichkeit, auch bei der hohen zeitlichen, qualitativen und individuellen Variabilität von Entwicklungsprozessen diejenigen Kinder herauszufinden, die in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Michaelis & Haas schlagen vor, nicht von Meilensteinen, sondern von „Grenzsteinen der Entwicklung“ zu sprechen. Sie begründen dies, indem sie Meilensteine als Durchgangsstadien eines bestimmten Entwicklungsverlaufs definieren. So ist es beispielsweise für die motorische Entwicklung nicht essentiell, daß Kinder das Krabbelstadium durchlaufen. Für den Erwerb der aufrechten Körperhaltung muß aber zunächst die Fähigkeit zur perfekten Kopf- und Rumpfkontrolle als Voraussetzung vorhanden sein. Daraus leiten sie ab, daß der Zeitpunkt, zu dem eine bestimmte Fähigkeit erworben wird, von den epigenetischen Faktoren (Umweltfaktoren) abhängig ist, die die Entwicklung eines Kindes bestimmen (Michaelis & Haas, 1994).
In der Tabelle 1 sind die sogenannten Grenzsteine (Meilensteine) der Entwicklung von Kindern, aufgegliedert nach Körpermotorik, Handmotorik, kognitiver Entwicklung, Spracherwerb und sozialer Kompetenz, dargestellt, die von 90% eines Normalkollektivs zu den genannten Zeitpunkten erreicht werden. Ein Abweichen von einzelnen Parametern muß nicht einer krankhaften Entwicklungsstörung entsprechen. Alle genannten Entwicklungsbeobachtungen sind zunächst als Screening zu verstehen und können somit nur einen groben Anhaltspunkt geben. Grundsätzlich kann man sagen, daß ein Zurückbleiben der Entwicklung um mehr als einen Monat im ersten Lebenshalbjahr, um mehr als zwei Monate im zweiten Lebenshalbjahr und um mehr als drei Monate im zweiten Lebensjahr eine weitere differenzierte Diagnostik notwendig macht (Straßburg et al., 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3 Konzept der Entwicklungsbahnen
Petermann und Stein (2000) stellen ein Konzept zur Beschreibung von Entwicklungsverläufen vor, das auf theoretischen Überlegungen basiert, die die kindliche Entwicklung spezifizieren.
1) Sensible Phasen: Mit diesem Konzept wurden ursprünglich Entwicklungsabschnitte bezeichnet, in denen sich bestimmte organische Strukturen herausbilden, die bei Störungen innerhalb dieser Abschnitte mit spezifischen Organschädigungen verknüpft werden. In der Entwicklungspsychologie werden sensible Phasen als diejenigen Lebensabschnitte definiert, in denen spezifische Erfahrungen maximale positive oder negative Wirkungen zeigen (Petermann & Stein, 2000). Sensible Phasen werden auch als Zeitfenster bezeichnet, die nur für einen gewissen Zeitabschnitt geöffnet sind. Bleiben in dieser Phase spezifische Reize aus, ist die normale Ausbildung zugehöriger spezifischer Hirnfunktionen gefährdet, da dieser Entwicklungsabschnitt nicht wiederholbar ist. Nach der Geburt wächst das Gehirn nicht gleichmäßig, sondern Phasen relativer Ruhe können von Phasen beschleunigten Wachstums, als Wachstumsspurt bezeichnet, unterschieden werden. Nach Kolb und Whishaw (1996) sind die Phasen der Wachstumsspurts eng mit den Stadien der kognitiven Entwicklung verknüpft, wie sie von Piaget beschrieben wurden. Nimmt man spezifische entwicklungsbezogene Veränderungen auf der Basis der sensiblen Phasen und der Phasen beschleunigten Synapsenverknüpfungen an, so ist in diesem Zusammenhang eine integrative Betrachtung auf der Ebene neurobiologischer Reifungsprozesse naheliegend (vgl. Heubrock & Petermann, 2000).
2) Risiko- und Schutzfaktoren: Einer Vielzahl risikoerhöhender Faktoren (Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren), die zur Entstehung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter beitragen, stehen risikomildernde Faktoren entgegen (Scheithauer & Petermann, 1999). So scheinen einige Kinder eine besondere Vulnerabilität für ungünstige Entwicklungen aufgrund von biologischen (zum Beispiel Hirnschädigungen, chronischen Krankheiten) und psychosozial begründeten Faktoren (zum Beispiel Deprivation, psychische Störungen der Eltern, niedriger sozioökonomischer Status) aufzuweisen. Andere Kinder wiederum verfügen über ein besonderes Maß an Widerstandskraft (hohe Resilenz). Insofern ist eine Einschätzung von Entwicklungsrisiken nicht allein durch Betrachtung von risikoerhöhenden Faktoren und deren Wirkungen zu treffen, sondern deren Interaktion mit risikomildernden Faktoren ist zu berücksichtigen (Scheithauer & Petermann, 1999).
3) Entwicklungsaufgaben: Entwicklungsaufgaben werden als Anforderungen in bestimmten Lebensabschnitten definiert, deren Bewältigung eine Veränderung des Kindes (des Erwachsenen) erforderlich macht. Derartige Aufgaben ergeben sich aus Reifungsprozessen, die zum Beispiel das Laufen und das Sprechen ermöglichen, sowie aus Alltagsanforderungen, die zum Beispiel die Adaptation an neue Umweltsituationen (Trennung von Bezugspersonen, Einfügen in den Kindergartenalltag) ermöglichen (Petermann & Stein, 2000).
4) Entwicklungspsychopathologie: Die Entwicklungspsychopathologie ist die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem Vergleich von normalen und abweichenden Entwicklungsverläufen auseinandersetzt. Verhaltensstörungen werden hier auf Ursachen und Verlauf untersucht, wobei zwei wesentliche Aspekte der Betrachtung hervorgehoben werden müssen. Dies sind zum einen die Bedingungen, die im Individuum selbst gegeben sind, also die biologischen Faktoren. Hierzu zählen die vererbten Gene sowie die physiologischen und neurologischen Gegebenheiten (Kusch, 1993). Darüber hinaus werden die vorhandenen Umweltbedingungen betrachtet, da sie grundsätzlich in Wechselwirkung mit den biologischen Faktoren stehen (Trautner, 1995). Hierzu zählen die individuellen Wahrnehmungen sowohl der situativen als auch der interaktiven und kulturellen Gegebenheiten (Kusch & Petermann, 1995). Daraus läßt sich ableiten, daß es nicht die Ursache für ein Verhalten gibt, sondern daß mehrere Ursachen und deren Kombinationen letztlich dazu führen, daß in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird. Die Beurteilung und Interpretation von Verhaltensmerkmalen geschieht somit im Rahmen der Entwicklungspsychopathologie mehrdimensional und integrativ, in dem diejenigen Disziplinen, die sich traditionell mit kindlicher Entwicklung befassen (zum Beispiel Embryologie, Pädiatrie, Neurowissenschaften, Psychobiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Klinische Kinderpsychologie, Entwicklungspsychologie, Klinische Kinderneuropsychologie) miteinander verknüpft (Petermann & Stein, 2000).
Das Modell der Entwicklungsbahnen orientiert sich an folgenden Fragestellungen (vgl. Petermann & Stein, 2000):
- Über welche Kompetenzen verfügt ein Kind und sind diese Kompetenzen für eine Entwicklungsperiode typisch? (® Phasenbezogenheit)
- Liegen Auffälligkeiten vor und sind diese spezifisch für klassifizierbare Kategorien von Entwicklungsabweichungen? (® Störungsbezogenheit)
- Sind die diagnostizierbaren Auffälligkeiten für die weitere Entwicklung des Kindes relevant? (® Verlaufsbezogenheit)
Unter Entwicklungsbahnen verstehen Petermann und Stein keine Fertigkeiten oder Entwicklungsdimensionen, sondern entwicklungspsychologische Basismerkmale, die die Entwicklungsprozesse in den einzelnen Dimensionen unterstützen (vgl. Petermann & Stein, 2000). Werden einzelne Entwicklungsbahnen beeinträchtigt oder geschädigt, können andere durchaus weitgehend unbeeinflußt bleiben. Im weiteren Entwicklungsverlauf wirkt eine immer größere Zahl von Entwicklungsbahnen zusammen, so daß sich spezifische und komplexe Fertigkeiten herausbilden und ausdifferenzieren können. Dieses Zusammenwirken der Entwicklungsbahnen ist vielfältig störbar, so daß bereits eine Abweichung auf ("nur") einer Entwicklungsbahn deutliche Störungen auf der Verhaltensebene bewirken kann. In diesem Zusammenhang lehnt sich dieses Modell an das Prinzip der essentiellen Grenzsteine von Michaelis und Niemann (1999) bzw. Michaelis und Haas (1994) an, wonach jedes Kind in allen Entwicklungsdimensionen bestimmte „Knotenpunkte“ erreichen muß, die durch bestimmte Fertigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert sind (Petermann & Stein, 2000).
2. Verhaltensstörungen
Die Entwicklung einer Verhaltensstörung wird bisher in überwiegendem Maße als abhängig von der sozialen Umgebung gesehen, in der ein Kind ein entsprechendes Verhalten zeigt. Insofern ist ein Verhalten, ob positiv oder negativ bewertet, auch abhängig von seinem historischen, traditionellen und kulturellen Kontext, in dem das Kind aufwächst. Dieser Kontext ist geprägt von Normen, die nur sehr langsam über Generationen variieren. Solange sie bestehen, wird jedes Verhalten, das von diesen Normen abweicht, als auffällig beziehungsweise gestört betrachtet. Diese Sichtweise impliziert, daß Verhalten letztlich von sozialen Gegebenheiten bestimmt wird. Es wird dabei übersehen, daß sich hier Wechselprozesse abspielen. Betrachtet man Verhalten zunächst als Ausdruck neuropsychologischer und -physiologischer Funktionen, so wird deutlich, daß erst auf dieser Grundlage eine Verhaltensprägung stattfinden kann, wie sie von der sozialen Umgebung erwünscht und erwartet wird. Voraussetzung für das Erlernen von Verhaltensmustern ist demnach nicht (nur) die soziale Umwelt, sondern das Gehirn und das Zentralnervensystem. Hier entscheidet sich letztlich, ob ein Verhalten aufgebaut oder durch Lernen übernommen, gespeichert und später in ähnlichen Situationen wieder verwendet wird. Da dieser Prozeß abhängig von der relativen Unversehrtheit der neuronalen Verbindungen ist, wird schnell deutlich, wie sensibel gerade die prä-, peri- und postnatalen Phasen des Lebens sind, da zu diesen Zeiten die meisten entscheidenden Verknüpfungen des komplexen Netzwerks Gehirn entstehen. Treten hier Störungen oder Schädigungen auf, so wird die Möglichkeit des Verhaltensaufbaus ebenfalls gestört.
In der Entwicklungspsychopathologie wird zwischen primären und sekundären Verhaltensstörungen unterschieden (Kusch & Petermann 1993). Sie geht davon aus, daß ein Kind im Verlauf der Entwicklung soziale, kognitive und emotionale Kompetenzen erwirbt. Sind sie bei gleichzeitigem unangemessenem Verhalten vorhanden, so sind Verhaltensstörungen als „primär“ zu sehen; sind sie beeinträchtigt, so entstehen primäre Entwicklungsstörungen, die „sekundäre“ Verhaltensstörungen nach sich ziehen können (Kusch & Petermann, 1995). Daher ist es notwendig, das beobachtete Verhalten mit dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes zu vergleichen. Entscheidend ist der Zeitpunkt, zu dem das Kind bestimmten Risiken ausgesetzt ist. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Risikoexposition zeigen sich Störungen des autonomen und neuroendokrinen Systems sowie im Frontalhirnbereich, außerdem bereits während der ersten Lebensjahre eine gestörte Elternbindung (Kusch & Petermann, 1995). Weiterhin konnte nachgewiesen werden, daß ein früher Störungsbeginn wesentlich stärker für ein Überdauern von Verhaltensstörungen entscheidend ist.
Aus vielen Untersuchungen zur Aggressionsforschung ist bekannt, daß ein Teil der Kinder, die im Verlauf ihrer Entwicklung Aggressionen zeigen, in sehr frühem Alter bereits auffällig waren. Die ungünstige Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen ist gekennzeichnet durch
- sehr frühes Auffallen
- häufiges Auftreten
- vielfältige Variationen
- Auftreten in vielen Lebensbereichen
aggressiver Verhaltensmuster (Scheithauer & Petermann, 2000).
Loeber (1990) entwickelte ein Risikomodell, mit dem Entwicklungsverläufe dargestellt werden können. Das Modell setzt bei prä- und perinatalen Risikofaktoren an, die zwar keine notwendigen oder hinreichenden Bedingungen darstellen, die jedoch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß ein ungünstiger Entwicklungsverlauf auftritt. Am Beispiel der Aggression konnte gezeigt werden, daß entsprechend früh auftretende Risikofaktoren eine Entwicklung bis zur Delinquenz durchaus begünstigen können. Es konnte auch gezeigt werden, daß aggressive (Vorschul-) Kinder und Jugendliche eine verzerrte und unangemessene Informationsverarbeitung sowie eine verminderte Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, aufweisen (Scheithauer & Petermann, 2000). Insofern wirken frühkindliche Wahrnehmungsstörungen auf die Entwicklung bestimmter Verhaltensmuster in entscheidender Weise und bedingen auch Probleme im Umgang sowohl mit gleichaltrigen als auch mit anderen Kommunikationspartnern (Scheithauer & Petermann, 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der Reihenfolge kindlicher Lebensabschnitte ist die Zeit des Kindergartenbesuches von besonderer Bedeutung. Obwohl zum Zeitpunkt der Aufnahme in den Kindergarten von Eltern meist berichtet wird, die bisherige Entwicklung des Kindes sei normal, Geburt und Schwangerschaft seien komplikationslos verlaufen, können sich in der neuen Umgebung des Kindergartens Auffälligkeiten und Störungen im Verhalten zeigen, die sowohl Eltern als auch Erzieherinnen vor nicht erwartete Probleme stellen. Da das Kind auch in diesen Phasen der Auseinandersetzung mit der Umwelt auf eine weitgehend intakte Motorik und Wahrnehmung angewiesen ist, sind Störungen dieser Funktionen äußerst prägend für die zukünftige Entwicklung (Schlack, 2000).
Motorische Störungen sowie Wahrnehmungsstörungen können dazu führen, daß sowohl die kognitive Entwicklung als auch das Ausbilden von alterstypischen Verhaltensmustern nicht so verlaufen, wie sie erwartet werden (Largo, 1992). Auch die Sprachentwicklung, die Entwicklung von Emotionen sowie Sozialisationsformen hängen entscheidend von solchen Grundvoraussetzungen ab. Insofern sind Eltern und Erzieherinnen irritiert, wenn ihre Erwartungen an die Entwicklung des Kindes nicht erfüllt werden. Es muß außerdem betont werden, daß psychosoziale Risiken auf die Entwicklung basaler Grundvoraussetzungen wirken, indem sie im Sinne mangelnder Förderung oder Retardierung durchaus diskrete Hirnschädigungen begünstigen und Kompensationsmechanismen hemmen können.
2.1 Klassifikationssysteme
Will man den Begriff „Verhaltensstörung“ definieren, so wird schnell deutlich, daß es sich dabei um einen sehr großen Symptomkomplex handelt, der von Störungen im sozialen Kontext bis hin zu psychosomatischen Beschwerden reicht. Es handelt sich somit um einen Begriff, der sehr allgemein eine Aussage über ein von einer Norm abweichendes Verhalten benennt. Im Kapitel V (F) der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) werden Verhaltensstörungen unterschieden nach
- Psychischen und Verhaltensstörungen durch psychogene Substanzen,
- Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren,
- Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.
Hier fällt auf, daß Verhaltensstörungen oft mit dem Synonym Verhaltensauffälligkeit gleichbedeutend genannt wird, da dieser Begriff wertfreier erscheint und somit eine Abschwächung des Begriffs Störung bedingt. Dabei wird oft übersehen, daß Verhaltensauffälligkeit nicht auf ein abweichendes Verhalten im negativen Sinne beschränkt bleiben muß, sondern auch positives Verhalten kann im Vergleich auffällig sein.
Weitere Klassifikationssysteme für den Bereich der Klinischen Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie sind das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association in seiner vierten Version (DSM-IV; APA, 1996) und das Multiaxiale Klassifikationsschema für Psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS) (Remschmidt & Schmidt, 1986). Zusammen mit der ICD-10 streben sie eine Vereinheitlichung der klinischen Diagnosepraxis an, indem sie die Vielzahl der Störungsbilder mit Hilfe von Merkmalslisten einordnen, wobei qualitativ unterschiedliche Zustandbilder unterstellt werden. Die Entwicklung dieser Klassifikationssysteme beruht dabei auf einem schrittweisen Prozeß der graduellen Verfeinerung diagnostischer Kriterien und Kategorien (Arnold & Hoffmann, 1999).
Die oben genannten Klassifikationssysteme unterteilen die Diagnosekategorie "Störung des Sozialverhaltens" weiter, so daß kindliche Erlebens- und Verhaltensstörungen erfaßt werden können. Nach Achenbach (1992) werden dabei allerdings empirisch-normative Daten für die Auswahl diagnostischer Kriterien nur ungenügend berücksichtigt. Insofern bleibt es ein grundsätzliches Problem, daß für die Erfassung der diagnostischen Kriterien weder das Verfahren, die Informationsquelle noch die Bewertungsmaßstäbe explizit festgelegt sind (Cantwell, 1996).
2.2 Epidemiologie und Prävalenz von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter
Die Prävalenzraten für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen liegen in der Bevölkerung nach verschiedenen Literaturübersichten zwischen 17% und 27% (Petermann, Döpfner, Lehmkuhl & Scheithauer, 2000). Studien, die nach 1985 veröffentlicht wurden, geben Prävalenzraten bei Störungen des Sozialverhaltens (oppositionelles Verhalten, aggressives Verhalten) zwischen 6% und 12% an. Ähnlich häufig werden Angststörungen (Trennungsängste, Phobien, soziale Ängste) genannt. Hier wurden in verschiedenen Studien Prävalenzraten zwischen 5,7% und 17,7% angegeben (Übersicht bei Costello & Angold, 1995). Die Angaben zur Häufigkeit hyperkinetischer Störungen weisen aufgrund der unterschiedlichen diagnostischen Kriterien ein breites Spektrum auf (Döpfner et al, 2000). Hyperkinetische Kernsymptome werden in einer deutschen Studie im Urteil der Eltern bei 3% bis 10% aller Kinder im Alter von vier bis zehn Jahren angegeben (Lehmkuhl et al., 1998). In Abhängigkeit von Diagnosekriterien wird die Diagnose in den USA nach DSM-IV anhand von strukturierten Interviews der Eltern bei 7% bis 17% aller Jungen und 3,3% bis 6% aller Mädchen gestellt (vgl. Döpfner et al., 2000). In nur wenigen Studien werden jedoch die Eltern- und Lehrereinschätzungen miteinander kombiniert. Insofern können die hohen Prävalenzraten in diesen Studien als Prävalenz situationsübergreifender hyperkinetischer Störungen gesehen werden (Döpfner et al., 2000). Bei einer Kombination von Eltern- und Lehrerurteil, wie sie in einer australischen Studie durchgeführt wurde, wurde die Rate derjenigen Kinder, die übereinstimmend als hyperkinetisch diagnostiziert wurden, mit 2,4% angegeben (Döpfner et al., 2000).
2.3 Komorbidität
Die Bremer Jugendstudie, in der über Häufigkeiten, Komorbidität sowie über den Verlauf der Störung des Sozialverhaltens und der Störung mit oppositionellem Problemverhalten, bezogen auf die Kriterien nach DSM-IV, berichtet wird, gibt an, daß 4,7% aller teilnehmenden Jugendlichen die Kriterien der Störung des Sozialverhaltens und 2,5% die Kriterien für die Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten erfüllen (Petermann et al., 1999). Es konnte gezeigt werden, daß signifikant mehr Jungen als Mädchen Auffälligkeiten bei den Störungen des Sozialverhaltens zeigten. Bei 10,2% wurden diese Störungen bereits in der Kindheit gefunden, während bei 89,2% der Beginn in der Adoleszenz lag. Die Prävalenzraten lagen bei Jungen zwischen 6 und 16%, bei Mädchen zwischen 2 und 9%.
Bei Jugendlichen, die eine Störung des Sozialverhaltens zeigten, litten etwa ein Drittel (38,8%) auch an einer depressiven Störung und Störungen durch Substanzkonsum wie Alkohol und Cannabis.
Die oppositionellen Störungen sind weniger eindeutig geschlechtsspezifisch ausgeprägt. In den meisten Studien weisen Mädchen häufiger als Jungen eine oppositionelle Störung auf, allerdings werden auch umgekehrte Verhältnisse berichtet (vgl. Petermann et al., 1999). Bei oppositionellem Trotzverhalten traten am häufigsten depressive Störungen (38,5%) sowie Angststörungen (22,4%) auf (Petermann et al., 1999).
Sowohl die Störungen des Sozialverhaltens als auch die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten waren sehr häufig mit erheblichen psychosozialen Beeinträchtigungen verbunden. Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens hatten in 71% der Fälle sowohl häusliche als auch familiäre Probleme, während es bei Jugendlichen mit oppositionellem Trotzverhalten sogar 80,8% waren (Petermann et al., 1999). Dies wirkte sich in beiden Gruppen auch auf den Schulbesuch aus, so daß bei etwa 50% der Kinder über schulische Problemen berichtet wurde.
Eine Komorbidität zeigt sich ebenfalls im Zusammenhang mit der unzureichenden Bindung an die Eltern. Kinder mit sicherer Bindung vergewissern sich darüber, ob die eigene Einschätzung ihrer Gefühle und Emotionen mit denen der Bezugsperson übereinstimmen und suchen nach Erklärungen für Abweichungen. Hingegen vermeiden Kinder mit unsicheren Bindungen die Kommunikation mit den Bezugspersonen über ihre eigenen Verhaltensziele. Sie kommunizieren nicht über Wünsche und Absichten, da sie befürchten, die Zuneigung ihrer Bezugspersonen zu verlieren (Kusch, 1993). Gefühle von Angst werden nicht ausgesprochen, so dass keine Möglichkeit entsteht, ihre Verhaltensziele mit denjenigen der Bezugspersonen in Übereinstimmung zu bringen (Kusch, 1993). Kinder mit coersiver Bindung befürchten zwar den Verlust der Bezugsperson, sie zeigen jedoch keine Angst vor Bestrafung. Sie setzen vielmehr ein erpresserisches Verhalten ein, um so ihre Ziele durchzusetzen (Kusch, 1993). Nach Greenberg et al. (1993) nehmen diese Kinder ihre Umwelt möglicherweise als feindlich wahr, so daß daraus resultierend negative Interaktionen und Verhaltensmuster erwartet werden, die wiederum eigene negativ besetzte Verhaltensmuster implizieren.
Die (vorläufigen) Daten der Bremer Jugendstudie zeigen, daß bei fast 40% der Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens ein chronisches Muster zu erkennen war (Petermann et al., 1999). Obwohl Übereinstimmung darin besteht, daß die Störung des Sozialverhaltens eine stabile Störung hinsichtlich des Zeitfaktors ist, lassen sich über die Entwicklung der Störung weniger klare Aussagen machen (Craig & Pepler, 1997). So wird von einigen Autoren beschrieben, daß die Eltern derjenigen Kinder, die sehr früh eine Störung des Sozialverhaltens zeigen, unangemessene Erziehungsmethoden anwendeten. Dies führt zu störendem Verhalten in der Kindheit und schlechten Schulleistungen sowie Zurückweisung durch Gleichaltrige. Als Folge davon entwickeln diese Kinder depressive Stimmungen sowie eine Hinwendung zu devianten Peers, die ein solches Verhalten akzeptieren (vgl. Petermann et al., 1999). Loeber (1998) beschreibt eine ähnliche Entwicklung, indem er den Beginn mit einem schwierigen Temperament und hyperaktivem Verhalten sieht, das in der Folge zu Verhaltensproblemen sowie zu Kontakt mit devianten Gleichaltrigen bis zur Delinquenz führt (vgl. Petermann et al., 1999).
Kinder mit hyperkinetischen Störungen weisen ebenfalls häufig komorbide Störungen auf, die für die weitere Entwicklung als zusätzliche Risikofaktoren gesehen werden müssen (Döpfner et al., 2000). Externale Verhaltensstörungen mit aggressiven und dissozialen Symptomen treten dabei weitaus häufiger auf (43% bis 93% der Fälle) als internale Störungen mit Angst und Depressivität (13% bis 51% der Fälle). In einer bundesweit durchgeführten Studie wurde bei hyperkinetisch auffälligen Kindern ein ausgeprägtes dissoziales beziehungsweise aggressives Verhalten in 27% bis 36% gefunden. Sozialer Rückzug, Angst sowie Depressivität konnten bei 30% bis 35% der Fälle nachgewiesen werden (vgl. Döpfner et al., 2000). Die Ergebnisse der verschiedenen Studien zeigt die Tabelle 2.
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Tabelle 2: Häufigkeiten komorbider Störungen bei Kindern und Jugend-
lichen mit HKS (nach Döpfner et al., 2000).
Kinder mit einer kombinierten Störung sind in ihrer weiteren Entwicklung erheblich mehr gefährdet als Kinder, die nur hyperkinetisch auffällig sind. Bei ihnen zeigen sich einerseits eine stärker ausgeprägte Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblematik, andererseits entwickeln sie deutlich öfter eine Teilleistungsstörung (Döpfner et al., 2000). Sie haben ebenfalls ein deutlich höheres Risiko für spätere Delinquenz, Substanzmißbrauch und die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (Loeber et al., 1988; Döpfner et al., 2000).
2.4 Biologische Grundlagen
In den letzten Jahren sind viele Studien durchgeführt worden, um den relativen Anteil von genetischen Einflüssen (im Vergleich zu Umwelteinflüssen) auf das Verhalten und auf Verhaltensstörungen zu bestimmen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung gibt es kaum Zweifel daran, daß an der Entstehung speziell von aggressiven Verhaltensstörungen neben psychosozialen auch biologische Faktoren beteiligt sind. Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen übereinstimmend und deutlich einen hohen genetischen Anteil (Schmeck & Poustka, 2000). Slutske et al. (1997) untersuchten eine sehr große Zahl von Zwillingspaaren (N=2682) und fanden einen bedeutsamen genetischen Einfluß auf Störungen des Sozialverhaltens neben geringeren Einflüssen der gemeinsamen Umwelt. Da sie ein diagnostisches Modell mit multiplen Schwellen verwenden, sehen sie die Störungen des Sozialverhaltens eher als extreme Ausprägung einer normalen Variation solcher oder ähnlicher Verhaltensweisen in der Gesamtbevölkerung und nicht als rein dichotome Kategorien (siehe Tabelle 3). Durch eine solche Sichtweise verändern sich die Effekte insofern, als bei Verwendung des Modells multipler Schwellen der genetische Einfluß geringer wird im Vergleich zum Einfluß beim dichotomen Modell (Slutske et al., 1997).
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Tabelle 3: Genetische und Umwelt-Einflüsse auf Störungen des Sozialver-
haltens im dichotomen Modell (nach Slutske et al., 1997)
Im Vergleich zu den rein formalgenetischen Untersuchungen sind bisher wenige Studien auf molekulargenetischer Ebene durchgeführt worden. Sie deuten jedoch darauf hin, daß im Zusammenhang mit der Serotonin- und Dopamin-Konzentration im Hirnstoffwechsel Einflüsse auf aggressives Verhalten gegeben sind. Allerdings ist momentan noch unklar, ob genetische Mechanismen einen direkten oder einen indirekten Einfluß ausüben. Man kann jedoch davon ausgehen, daß der Einfluß der Gene nicht allein für aggressives Verhalten verantwortlich ist, sondern nur als Teil der Varianz gesehen werden darf (Schmeck & Poustka, 2000).
3 Hirnfunktionsstörungen
3.1 Neuropsychologische Grundlagen
Mit der Geburt eines Menschen ist insbesondere sein Gehirn noch nicht zur vollständigen Funktionsfähigkeit entwickelt. Bereits während der intrauterinen Phase findet die Gehirnentwicklung im Zusammenspiel von zellulären Reifungsprozessen und Umgebungseinflüssen statt. So entwickeln sich zum Beispiel das Bewegungssystem und das Gleichgewichtssystem unter dem Einfluß der Körperbewegungen der Mutter, das Hörsystem entwickelt sich intrauterin, da Stimmen, Töne und Geräusche außerhalb des Mutterleibs aufgenommen und verarbeitet werden. Neben solchen sensorischen Einflüssen nimmt der Fetus aber auch an physiologischen Reaktionen der Mutter über den Blutkreislauf teil. Die Ausschüttung von Endorphinen oder Streßhormonen, die Einflüsse von Ernährung, Medikamenten, Drogen und nicht zuletzt jahreszeitlich bedingte Veränderungen des mütterlichen Organismus modulieren neben anderen (epigenetischen) Prozessen die Morphologie des sich entwickelnden Gehirns und strukturieren auf diesem Wege Verhaltenseigenschaften vor (Dick et al., 1996).
Objektiv läßt sich dies durch die Erfassung psychischer Grundfunktionen feststellen. Psychische Grundfunktionen sind jene natürlichen Fähigkeiten, die durch das Gehirn geleistet werden und die im Normalfall allen Menschen zur Verfügung stehen wie Motorik, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis, Denken und Lernen. Aber auch Merkmale der Persönlichkeit sowie emotionale Erlebens- und Ausdrucksfähigkeiten, die ebenfalls durch das Gehirn erbracht werden, sind letztlich den psychischen Grundfunktionen hinzuzurechnen (vgl. Dick et al., 1996).
Hirnfunktionen können nicht isoliert betrachtet werden, sondern sie sind alle mehrfach angelegt, mehrfach gesichert und untereinander kombinierbar. Um spezifische Hirnfunktionsstörungen zu erfassen, müssen Abweichungen bei der Tätigkeit von Hirnsystemen genau registriert und von reaktiv bedingten, sekundären Störungen differenziert werden (Neuhäuser & Heubrock, 2000). Spezifische Hirnfunktionsstörungen werden bei Kindern als Teilleistungsstörungen oder umschriebene Entwicklungsrückstände bezeichnet, wobei diese Begriffe die Zuordnung zu bestimmten Hirnregionen vermeiden, die bei Kindern nicht oder nur begrenzt möglich ist (Heubrock, 1999).
Die Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, daß das Gehirn als komplexes System zu verstehen ist, in dem die unterscheidbaren Grundfunktionen zusammengeführt und somit voneinander abhängig sind. Sie können sich gegenseitig ergänzen und stützen, aber auch bei Schädigungen behindern. Eine Schädigung wirkt jedoch grundsätzlich nicht auf alle Funktionen in gleicher Weise. Je nach Ort und Zeitpunkt der Schädigung sind unterschiedliche Regionen in besonderem Maße betroffen, während andere Regionen intakt bleiben. Sie bilden die Grundlage für den Wiedererwerb oder die Kompensation der ausgefallenen oder gestörten Hirnfunktionen. In der Folge der biologischen Spezialisierung haben die Nervenzellen die Fähigkeit verloren, sich zu teilen. Das bedeutet, daß einmal geschädigte Zellen im Gehirn nicht durch Teilung oder Erneuerung ausheilen. Nach einer Schädigung ist daher eine vollständige Wiedererlangung der betroffenen Hirnfunktion nicht zu erwarten. Trotzdem verfügen die relativ unbeschädigten Bereiche des Gehirns über die Fähigkeit, durch Kompensationsmechanismen und Plastizität im Sinne einer „morphologischen Flexibilität“ psychische Grundfunktionen zu übernehmen und/oder auszugleichen (Hartje & Poeck, 1997).
Erklärungsansätze für die Wiederherstellung von Hirnfunktionen liefern Modellannahmen über die anatomische Organisation des intakten Gehirns. Sie sind insofern statisch, als sie keinen speziellen Prozeß annehmen, sondern Funktionswiederherstellung als eine notwendige Konsequenz, zum Beispiel durch Redundanz (Äquipotentialität) oder multiple Kontrolle der Hirnfunktionen betrachten (Hartje & Poeck, 1997). Mit Redundanz ist gemeint, daß bereits ein Teil eines neuralen Systems diejenige Funktion ausüben kann, für die normalerweise das gesamte System notwendig ist. Das Konzept der multiplen Kontrolle hingegen besagt, daß eine spezifische Funktion im ZNS mehrfach repräsentiert ist und insofern von verschiedenen, unterschiedlich lokalisierten Hirnregionen kontrolliert wird (Hartje & Poeck, 1997). Beide Modelle basieren allerdings auf Experimenten mit relativ einfach strukturierten Tierhirnen, so daß die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf kortikale Hirnstrukturen beim Menschen übertragbar sind (Hartje & Poeck, 1997). Da sich die Wiederherstellung einer geschädigten Funktion über einen gewissen Zeitraum erstreckt, bieten dynamische Konzepte Vorteile gegenüber statischen Modellen (Hartje & Poeck, 1997).
Das Konzept der funktionellen Substitution bezieht sich auf die Möglichkeit, daß ein Subsystem innerhalb des ZNS bei Schädigung eines anderen Subsystems dessen Funktion allmählich übernehmen kann. Dabei ist es nicht notwendig, daß das übernehmende System die Funktion in exakt gleicher Weise ausübt wie das ursprüngliche, geschädigte System, sondern es muß lediglich dessen „Rolle“ übernehmen. Es stellt sich allerdings hier die Frage, ob das Subsystem, welches die Funktionen eines geschädigten Systems übernimmt, seine eigenen ursprünglichen Aufgaben auch weiterhin mit der gleichen Effizienz ausüben kann. So ist beispielsweise bekannt, daß Kinder, deren linke, normalerweise für die Sprachentwicklung dominante Hemisphäre sehr früh geschädigt wurde, trotzdem zu einer Sprachentwicklung kommen, da in diesem sehr frühen Entwicklungsstadium die rechte Hemisphäre die Sprachfunktionen im Sinne einer funktionellen Substitution übernehmen kann. Allerdings zeigen diese Kinder dann oft eine allgemeine Reduktion der intellektuellen Fähigkeiten, so daß angenommen wird, daß hier eine Form von Überlastung (crowding) der rechten Hemisphäre stattfindet und sie ihre eigentlichen Aufgaben durch die zusätzliche Kontrolle sprachlicher Funktionen nicht mit gleicher Effizienz ausüben kann (Hartje & Poeck, 1997).
Plastizität im Sinne einer „morphologischen Flexibilität“ bedeutet Lern- und Anpassungsfähigkeit des Gehirns durch physiologisch-anatomische Vorgänge wie axonale Sprossung und Regeneration (Hartje & Poeck, 1997). Axonale Sprossung scheint jedoch nur von begrenzter Bedeutung für eine Funktionswiederherstellung speziell im Gehirn zu sein. Dies hängt einerseits damit zusammen, daß im ZNS die Schwann-Zellen fehlen, die im peripheren Nervensystem bei der Axonregeneration eine Art Leitschiene für den wiederauswachsenden Fortsatz bilden und die Axone ihre alten Bahnen und Synapsenkontakte wiederfinden lassen. Andererseits bildet das bei einer Hirnschädigung entstehende Narbengewebe eine mechanische Sperre, so daß Axonsprossen in Richtung des geringsten Widerstands wachsen und damit funktionell bedeutungslos bleiben (Hartje & Poeck, 1997). In Tierexperimenten am visuellen System wurde beispielsweise gezeigt, daß wiederaussprossende Axone Verbindungen mit „falschen“ Systemen eingingen. Dies führte dazu, daß auf der Verhaltensebene weitere Störungen auftraten und daher in diesen Fällen eine Funktionswiederherstellung nicht gegeben war (Hartje & Poeck, 1997).
Neuere Forschungen haben jedoch auch positive Effekte regenerativer Axonsprossungen nachgewiesen. Gerade im Bereich der Rehabilitation konnte gezeigt werden, daß ein intensives motorisches Training deutliche Veränderungen im Sinne einer Funktionsverbesserung erreicht (Hartje & Poeck, 1997). Auch durch eine gezielte Elektrostimulation der zum Läsionsort kontralateralen Körperhälfte in der Therapie visueller Neglect-Syndrome konnten durch Bahnungen afferenter Impulse vorher gestörte Funktionen wieder- bzw. neuerlernt werden (Heubrock, 1999).
Diese Prozesse der Kompensation sind jedoch nicht als zeitlich schnell ablaufende Vorgänge zu verstehen. Zwar erfolgt der Hauptteil der spontanen Anpassungen (Spontanremission) beim Erwachsenen meist innerhalb der ersten 12 Monate nach der Hirnschädigung, bei frühen, intrauterin entstandenen Schädigungen und damit verbundenen Entwicklungsstörungen zieht sich dieser Prozeß jedoch über Jahre durch die gesamte weitere Entwicklung eines Kindes (Hartje & Poeck, 1997).
Hirnfunktionsstörungen haben vielfältige Ursachen, die nach dem Zeitraum eingeteilt werden, in dem die schädigende Noxe wirksam wurde. Die fundamentalen pathologischen Prozesse, die zu einer Hirnschädigung führen können, sind Infektionen, Traumata, metabolische Prozesse, endokrinologische Prozesse, endogene und exogene toxische Einflüsse, congenitale strukturelle Veränderungen der Blutgefäße sowie degenerative Veränderungen (meist unbekannter Natur) (Swaiman, 1999).
Tabelle 4 zeigt einige ausgewählte schädigende Einflüsse.
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Gravierende Verhaltensstörungen, emotionale Störungen sowie Störungen der motorischen Koordination und der Handlungsplanung werden nach Läsionen des Frontalhirns (Frontalhirn-Syndrom) beschrieben. Diese Kinder können sich nur kurze Zeit auf geforderte Aufgaben konzentrieren, sie schweifen in der Gedankenführung ab, reagieren sofort auf jeden neuen Umgebungsreiz. Sie reagieren häufig vorschnell und übereilt, kommentieren laut ihre und fremde Tätigkeiten und zeigen rasche Stimmungswechsel und heftige Gefühlsausbrüche. Differentialdiagnostisch ist das Frontalhirn-Syndrom von Hyperkinetischen Störungen abzugrenzen, obwohl sehr viele Ähnlichkeiten in der Symptomatik bestehen (Heubrock, 1994).
Störungen von Funktionen des linken Temporallappens zeigen sich in Sprachstörungen, da diese Region für die Organisation der akustischen Wahrnehmung zuständig ist. Der rechte Temporallappen hingegen ist primär für visuell-analytische und nicht-sprachliche Gedächtnisfunktionen zuständig, so daß es bei Störungen zu raumanalytischen und räumlich-konstruktiven Fehlleistungen sowie zu Merkfähigkeitsstörungen für visuell-figurale Informationen kommt (vgl. Hartje & Poeck, 1997; Lösslein & Deike-Beth, 2000; Neuhäuser & Heubrock, 2000). Störungen von Funktionen der Parietallappen führen zu Agnosien und Apraxien, da sie u.a. eine wichtige Funktion für die neuromuskuläre Koordination und Kontrolle haben. Da dieser Hirnbereich aber auch Informationen unterschiedlicher Sinneseindrücke zusammenführt und integrierend arbeitet, kommt es bei Störungen ebenfalls zu Problemen beim Lesen und Schreiben. Läsionen des Okzipitallappens sind verantwortlich für Störungen der Verarbeitung visueller Informationen, da hier das primäre Sehzentrum und visuelle Assoziationsfelder lokalisiert sind (vgl. Lösslein & Deike-Beth, 1997; Hartje & Poeck, 1997; Neuhäuser & Heubrock, 2000).
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Hirnfunktionsstörungen sind durch pädaudiologische, neuropädiatrische und neuropsychologische Untersuchungen zu differenzieren, obwohl die Unterscheidung von primären Symptomen und sekundär (reaktiv) entstandenen Störungen schwierig ist (Neuhäuser & Heubrock, 2000).
3.2 Motorische Störungen: Infantile Cerebralparese (ICP)
Die ICP ist keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Symptomkomplex. Sie zeigt ein sehr wechselndes klinisches Bild (vgl. Straßburg et al., 2000) und faßt eine Gruppe von Enzephalopathien zusammen, die gekennzeichnet sind durch
- eine neurologisch klar definierbare motorische Störung (Spastik, Dyskinese, Ataxie),
- eine Entstehung vor dem Ende der Neonatalperiode (nach einigen Autoren werden auch postneonatal entstandene Fälle miteinbezogen),
- Fehlen einer Progredienz des zugrundeliegenden Prozesses,
- häufig assoziierte zusätzliche Störungen wie Lernbehinderung, geistige Behinderung, Sehstörungen, Epilepsie und Verhaltensstörungen.
Dieser phänomenologischen Definition wird häufig eine ätiologische zugeordnet, die der Genese der ICP prä-, peri- und neonatale Läsionen des Gehirns zuschreibt. Aufgrund von Studien zur Bildgebung des Gehirns bei Kindern mit ICP verdichtet sich zunehmend die Erkenntnis, daß bei dieser speziellen Gruppe von Behinderungen (Prävalenz: 2/1000 Lebendgeburten) vorwiegend Gehirnschädigungen zugrunde liegen, die nach dem Ende des zweiten Trimenon entstehen. Früher in der Schwangerschaft erworbene Störungen (zum Beispiel durch intrauterine Infektionen), die vorwiegend zu Fehlbildungen des Gehirns führen, und genetische Ursachen sind jedoch möglich. Bei den postnatalen Ursachen stehen traumatische und entzündlich Noxen an erster Stelle (vgl. Straßburg et al., 2000). Ein typisches Symptom der Cerebralparesen ist die Muskelspastik, deren Ursachen letztlich noch nicht befriedigend erklärt sind. Zum einen kommt es zum Ausfall hemmender Einflüsse des Gehirns durch Schädigung der cortikospinalen Bahnen, zum anderen können auch Übertragungsstörungen zwischen den Rückenmarksneuronen verantwortlich sein (Straßburg et al., 2000). Zu den bereits genannten Ursachen einer infantilen Cerebralparese müssen auch Hirntraumen gezählt werden, die während der Geburt, als Folge von Operationen, Mißhandlungen oder Unfällen entstanden sind.
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Die typische Symptomatologie manifestiert sich klinisch verzögert, in den ersten Lebensmonaten bis -jahren kann eine Abgrenzung zu passageren neurologischen Auffälligkeiten und eine spezifische neurologische Zuordnung schwierig sein. Hier ist auch eine sichere Abgrenzung zu progredienten Krankheitsbildern schwierig (Michaelis & Niemann, 1995).
Im Vordergrund einer (zusätzlichen) Diagnostik steht die Bildgebung mit der Fragestellung, ob typische Läsionsmuster oder Fehlbildungen des Gehirns vorliegen. Die Ultraschalluntersuchung ist vorwiegend postnatal und im ersten Lebensjahr von Bedeutung und für die Darstellung schwerer Läsionsmuster - wie zystische periventrikuläre Leukomalazie (PVL), multizystische Enzephalopathie, hämorrhagische Infarzierung - und Blutungen sensibel. Sie ist weniger empfindlich bei nichtzystischer PVL, bei geringer ausgeprägten parasagittalen Marklagerschädigungen, cortikalen Schädigungen und Basalganglien- sowie Thalamusschädigungen nicht hämorrhagischer Natur. Die kernspintomographische Untersuchung ist für die oben angegebenen Muster wesentlich sensitiver, insbesondere wenn die Myelinisierung schon deutlich vorangeschritten ist, das heißt ab dem Alter von 12 bis 18 Monaten. Zuvor kann eine definitive Zuordnung schwierig sein, da sich zum Beispiel Gliosen periventrikulär, subcortikal oder im Bereich der Basalganglien des Thalamus noch nicht abgrenzen (Köhler, 1999).
Ist anhand der Anamnese und der Bildgebung eine läsionelle Entstehung im dritten Trimenon oder peri- und neonatal nicht zu sichern, sind weitere diagnostische Schritte indiziert wie
-Abklärung intrauteriner Infektionen
- Chromosomenanalyse, gegebenenfalls molekulargenetische Untersuchung (zum Beispiel bei Vorliegen einer Lissenzephalie)
- Stoffwechseldiagnostik bei Verdacht auf einen progredienten Verlauf.
Die Abklärung (zum Beispiel vor der Einschulung durch eine neuropsychologische Diagnostik), ob eine zusätzliche kognitive Beeinträchtigung und ob eine Seh- oder Hörstörung besteht (durch eine augenärztliche Untersuchung und Hörprüfung), steht im Vordergrund, wenn komorbide Störungen differentialdiagnostisch erfaßt werden sollen. Eine Diagnostik mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) ist nicht nur bei klinischem Hinweis auf Anfälle wichtig, sondern auch bei Kindern mit schweren kortikalen oder subkortikalen Läsionen oder Fehlbildungen (bei einer Lissenzephalie), wenn sie zu geringe kognitive Entwicklungsfortschritte zeigen, da hier besonders im ersten Lebensjahr das Risiko der Entwicklung eines symptomatischen West-Syndroms oder einer anderen malignen Epilepsieform hoch ist und die Anfälle klinisch häufig nur schwer erkennbar sind.
Kinder mit ICP sind in der Mehrzahl schwer behindert; das heißt sie lernen meist nicht oder nur mit Hilfe gehen und zeigen häufig die oben aufgeführten zusätzlichen Störungen (eine gewisse Ausnahme bildet hier die Gruppe der Hemiparesen). Die Therapie muß diesen Problemen Rechnung tragen und ist daher meist eine Langzeittherapie mit interdisziplinärer Ausrichtung.
Krankengymnastik (Physiotherapie) stellt oft im Rahmen der Früherkennung, schon vor der definitiven Diagnosestellung, den ersten therapeutischen Schritt dar und ist nach Bestätigung der Diagnose praktisch immer indiziert. Sie hat eine Verbesserung des motorischen Lernens im Rahmen der vorhandenen motorischen Möglichkeiten und eine Vermeidung von Sekundärproblemen wie Kontrakturen zum Ziel. Bislang hat sich hier keine der verschiedenen physiotherapeutischen Methoden den anderen als überlegen erwiesen (Kalbe, 1993).
Hilfsmittel dienen der funktionellen Verbesserung, der Vermeidung von Sekundärfolgen wie Kontrakturen, Hüftluxationen (zum Beispiel durch den Einsatz von Innenschuhen, Gehorthesen, Schienen) sowie der Unterstützung von nicht selbständig möglichen Positionen (durch Sitzschalen oder Stehbrett, letzteres auch zur Prophylaxe einer Osteoporose). Sie können zur Ermöglichung der Fortbewegung (durch Rollstuhl oder Rollator) und zur Erleichterung der Pflege (zum Beispiel als Badehilfe) notwendig sein.
In jüngerer Zeit zeichnet sich vorwiegend bei Formen der spastischen CP ein neuer, erfolgversprechender medikamentöser Behandlungsansatz ab, bei dem das Botulinumtoxin lokal in die vorwiegend betroffenen Muskelgruppen injiziert wird. Erste Ergebnisse versprechen besonders beim frühen Einsatz eine funktionelle Verbesserung, indem sie das motorische Lernen unterstützen (Heinen, 1998; Heinen et al., 2001). Frühförderung, Ergotherapie oder Heilpädagogik können zur Förderung der lebenspraktischen und alltagsnahen Fähigkeiten indiziert sein. Eine logopädische Betreuung kann nicht nur zur Unterstützung der Sprachentwicklung, sondern auch zur Verbesserung der Mundmotorik beitragen. Eine Sehstörung hat meist eine cerebrale Ursache und kann daher mit Ausnahme des Strabismus (Schielen) nicht spezifisch behandelt werden. Handelt es sich um eine schwere Form, bedeutet dies die Einleitung einer Sehbehindertenförderung. Eine zusätzlich vorhandene Epilepsie benötigt eine antikonvulsive Behandlung (Straßburg et al., 2000).
3.3 Wahrnehmungsstörungen
Unter Wahrnehmung versteht man die Aufnahme und die zentrale Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt und des eigenen Körpers. Synonym für den Begriff „Wahrnehmung“ wird auch der Begriff der „Perzeption“ verwendet. Wahrnehmung bezeichnet demnach ebenso die Reizaufnahme durch die peripheren Sinnesorgane als auch die zentralnervöse Verarbeitung mit ihrer verhaltenssteuernden Funktion (vgl. Lösslein & Deike-Beth, 2000). Der Begriff „Wahrnehmungsstörungen“ wird oft für eine Vielzahl von Symptomen einer auffälligen Entwicklung verwandt und legt nahe, daß die zentrale Verarbeitung afferenter Informationen sowohl zeitlich als auch inhaltlich nicht adäquat erfolgt. Als Ursachen werden Aufbau- oder Funktionsstörungen modaler und intermodaler Strukturen diskutiert, einschließlich der spezifischen Speicherkapazitäten. Aber auch ein unzureichender Transfer modaler Informationen zu höheren zentralen Zentren, funktionelle oder biologische Defizite der intermodalen und serialen Vernetzung sowie defizitäre Kontrollmechanismen können ursächlich beteiligt sein. Jedoch sind meist nicht nur die zentralen Wahrnehmungsprozesse gestört, sondern auch die Prozesse, die aus den afferenten Informationen efferente, also handlungsorientierte, kognitive oder auch emotionale Vorgänge generieren (vgl. Gschwend, 1998; Michaelis & Niemann, 1999). Das impliziert, daß neurogene Noxen zu einer ungünstigen Abfolge von Störungen auf mehreren Ebenen (Motorik, Sprache, Gedächtnis, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, Handeln) führen können, wobei verschiedene Verhaltensstörungen entwickelt werden (Heubrock & Petermann, 2000).
3.3.1 Störungen der visuellen Wahrnehmung
Eine Störung der visuellen Wahrnehmung (visuelle Perzeption) äußert sich darin, daß das altersentsprechende Erkennen, Zuordnen und Behalten visueller Reize und damit auch der zwischen ihnen bestehenden logischen Zusammenhänge nicht gelingt. Die unterschiedlichen Teilfunktionen der visuellen Wahrnehmung und ihre Störungen werden in der Literatur unterschiedlich klassifiziert. Eine Einteilung, die auf einem hierarchischen Modell der Informationsverarbeitung der visuellen Wahrnehmung - mit Ausnahme der Farbwahrnehmung - basiert, wird von Kerkhoff und Mitarbeitern (1993) vorgeschlagen. Dieses Modell geht davon aus, daß Störungen auf den unteren Stufen der Reizverarbeitung zwangsläufig eine fehlerhafte Weiterverarbeitung in komplexeren Stufen bedingt (vgl. Bodenburg, 1994).
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Voraussetzung für eine intakte visuelle Wahrnehmung ist zunächst ein intakter optischer Apparat, der aus dem Auge mit der Linse und der Netzhaut, den Sehnerven und dem Aufhängeapparat mit den Augenmuskeln besteht. Angeborene Fehlbildungen der Augen sind oft mit anderen Behinderungen kombiniert, da sich das Auge aus der Gehirnanlage entwickelt. Schädigungen zum Beispiel durch Röteln, Zytomegalie oder Toxoplasmose während der frühen Schwangerschaft können somit auch zu Schädigungen des optischen Apparates führen (Lösslein & Deike-Beth, 2000). Die Farbwahrnehmung entwickelt sich erst während der ersten Lebensjahre vollständig. Störungen dieser Funktion können sich beispielsweise im Fehlen einzelner Lichtfrequenzen (Fehlen von einzelnen Farben) bis hin zum vollständigen Verlust der Farberkennung zeigen (Achromatopsie) (Ellis & Young, 1991).
Unter einem visuellen Neglect wird eine neuropsychologische Störung verstanden, bei der visuelle Reize in einer Hälfte des vor dem Betroffenen liegenden Raumes nicht beachtet beziehungsweise nicht berücksichtigt (vernachlässigt) werden. Dieses Phänomen tritt in der Regel bei völlig intakten sensorischen, motorischen und sensiblen Funktionen auf. Ursächliche Schädigungen sind meist rechts parietal, seltener frontal oder in den Stammganglien sowie im Thalamus lokalisiert. Eine Neglect-Symptomatik kann bei Kindern kurzfristig nach erworbenen Hirnschädigungen auftreten, sie sind im Gegensatz zu Erwachsenen unschärfer und bilden sich meist auch schneller zurück (Lösslein & Deike-Beth, 2000). Obwohl noch kein einheitliches theoretisches Konzept des visuellen Neglects vorliegt, kristallisiert sich heraus, daß es sich dabei um die Folge einer zentralen Aufmerksamkeits- und Repräsentationsstörung handelt und insofern keine Wahrnehmungsstörung ist (vgl. Lösslein & Deike-Beth, 2000; Heubrock & Petermann, 2000).
Störungen der „visuellen Exploration“ entstehen, wenn es durch ausgedehnte Schädel-Hirn-Traumen oder Sauerstoffmangel des Gehirns zu Problemen der Fixierung von Objekten kommt. Auch jede Art einer motorischen Störung kann dazu führen, daß vermehrt optische Ermüdungserscheinungen auftreten. In der Folge von Störungen der visuellen Exploration kommt es im Schulalter zu Leseschwierigkeiten, da einzelne Worte schlecht erkannt, in den Wörtern Buchstaben ausgelassen, Zeilenanfänge nicht gefunden und der Lesevorgang insgesamt verlangsamt ist (Lösslein & Deike-Beth, 2000).
Der Begriff „visuell-räumliche Wahrnehmung“ bezeichnet den visuellen Vergleich und die visuelle Analyse räumlicher Muster ohne manuellen Handlungsanteil. Nach Kerkhoff und Marquardt (1993) läßt sich die visuell-räumliche Wahrnehmung unterteilen in folgende Basisleistungen:
- Einschätzung der subjektiven Vertikalen und Horizontalen
- Längenschätzung
- Distanzschätzung (zwischen zwei Objekten)
- Linienhalbierung (Mitte von Linien einschätzen)
- Winkelschätzung (Größe von Winkeln einschätzen)
- Positionsschätzung (räumliche Beziehung von Objekten einschätzen)
Diese Basisleistungen können sowohl einzeln als auch in Kombination gestört sein, so daß es zum Beispiel zu Problemen kommt, wenn Kinder räumlich angeordnete Informationen (Tabellen, Stundenpläne, Uhr) verarbeiten müssen (Lösslein & Deike-Beth, 2000).
„Räumlich-konstruktive“ Störungen zeigen sich, wenn Funktionsstörungen im Bereich des Temporal- oder des Parietallappens auftreten. Diese Funktionsstörungen entstehen durch erworbene Schädel-Hirn-Traumen und/oder durch frühkindliche Hirnschädigungen. Derartige Störungen lassen sich bereits im Kindergartenalter nachweisen; sie führen im weiteren Verlauf der Entwicklung zu Problemen beim Erwerb der Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten (Muth et al., 1999). Weitere Symptome als Ausdruck einer räumlich-konstruktiven Störung sind Beeinträchtigungen in der visuell-figuralen Merkfähigkeit (Heubrock & Petermann, 2000), der Reproduktion von Größenverhältnissen, Raumrichtungsanalysen (vgl. Muth et al., 1999) und der Raum-Lage-Beziehung zwischen Objekten oder einzelner Elemente von Objekten (Hartje & Poeck, 1997). Sie zeigen sich im Alltag beispielsweise bei Problemen in der Differenzierung von links und rechts sowohl am eigenen Körper als auch bei anderen Personen und Objekten. Das Malen und Abzeichnen sowie das Ausschneiden gelingt diesen Kindern schlecht, so daß sie oft ungeschickt wirken. Später fallen sie beim Schreiben durch graphomotorische Defizite, beim Lesen auch durch eine visuomotorische Verlangsamung auf (Heubrock & Petermann, 2000).
Störungen der visuellen Gesichterwahrnehmung (Prosopagnosie) und Objektwahrnehmung (Objektagnosie) treten bei Kindern sehr selten auf (Lösslein & Deike-Beth, 2000). Aus der Neuropsychologie des Erwachsenen sind zwar verschiedene Agnosie-Syndrome bekannt, die bei Läsionen umschriebener cerebraler Areale auftreten. Im Kindesalter ist eine solche Differenzierung jedoch nicht möglich, da sich Veränderungen kognitiver Funktionen bei der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung im Kindesalter (im allgemeinen) nicht auf Beeinträchtigungen bestimmter Hirnfunktionen beziehen lassen (Neuhäuser & Heubrock, 2000).
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3.3.2 Störungen der auditiven Wahrnehmung
Unter einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) wird eine Störung des zentralen Hörvorgangs bezeichnet (Hesse et al., 1998). Sie kann isoliert oder im Rahmen allgemeiner Einschränkungen kognitiver und anderer Prozesse auftreten. In der angloamerikanischen Literatur finden sich die Begriffe „brainstem auditory processing disorder“ (Störungen des Sprachverstehens bei in der Hirnstammaudiometrie nachweisbaren Synchronisationsstörungen) und „central auditory processing disorder“ (CAPD). Darüber hinaus findet sich sowohl in der deutschen als auch in der angloamerikanischen Literatur eine Vielzahl mehr oder weniger scharf definierter Begriffe, die auf derartige Störungen hinweisen oder sie bezeichnen (zum Beispiel Teilleistungsstörungen, Teilleistungsschwäche, zentrale Störungen der auditiven Sprachwahrnehmung, Perzeptionsstörung, Apperzeptionsstörung, Störung der Hörempfindung-Hörwahrnehmung, specific language impairment sowie language related disorders). Die meisten dieser Begriffe sind symptomorientiert zu verstehen und sagen letztlich nichts über eine mögliche oder vermutete Pathogenese aus (Hesse et al., 1998).
Es ist seit langem bekannt, daß bei regelrechtem Tonschwellengehör Störungen des Verstehens auftreten können. Diese lassen sich in Störungen einteilen, die vom Ganglion spirale bis zum unteren Vierhügel lokalisiert sind, und in jene, die rindennahe Abschnitte betreffen (Hesse et al., 1998).
Eine derzeit gebräuchlichere Einteilung differenziert nach Störungen des zentralen Hörens (auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen), zentraler Fehlhörigkeit und zentraler Schwerhörigkeit (vgl. Tabelle 5).
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Tabelle 5: Einteilung zentral-auditiver Wahrnehmungsstörungen (modifiziert nach Hesse et al.,1998).
Ptok und Mitarbeiter (2000) schlagen eine Definition vor, die (ähnlich wie bei visuellen Störungen) auf einer hierarchischen Gliederung basiert. Danach liegt eine auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsstörung (AVWS) vor, wenn zentrale Prozesse des Hörens gestört sind. Zentrale Prozesse des Hörens ermöglichen sowohl die vorbewußte und bewußte Analyse von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsbeziehungen akustischer Signale als auch Prozesse der binauralen Interaktion (zum Beispiel Geräuschlokalisation, Lateralisation, Störgeräuschbefreiung).
Angaben zur Häufigkeit liegen kaum vor, lediglich bei den zentral-auditiven Verarbeitungsstörungen (central auditory processing disorders) werden bei Kindern Prävalenzraten von 2% bis 3% genannt (Ptok et al., 2000).
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen beruhen auf einer Dysfunktion der Afferenzen und Efferenzen der zur Hörbahn gehörenden Anteile des zentralen Nervensystems. Die entsprechenden Symptome zeigen sich in einer gestörten Analyse der in akustischen Signalen enthaltenen Frequenz-, Zeit-, Intensitäts- und Phaseninformation, so daß ebenfalls die Integration dynamischer, spektraler und temporaler Beziehungen nicht gelingt. Mit fortschreitender afferenter Weiterleitung nervaler Impulse findet eine zunehmende Beeinflussung durch andere, nicht spezifisch auditive Prozesse wie Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse statt. Werden solche Prozesse nachgewiesen, handelt es sich nicht um eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung im Sinne der Definition, sondern um eine „symptomatische“ Störung (Ptok et al., 2000). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen haben vielfältige Auswirkungen auf das alltägliche Erleben der betroffenen Kinder. Kasten 8 zeigt einige der möglichen Beeinträchtigungen, die als Symptome auftreten und beobachtet werden können.
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3.4 Sprachstörungen
In der ICD-10 werden zwei Gruppen der umschriebenen Entwicklungsstörungen der Sprache (expressive und rezeptive Sprachstörung) unterschieden, bei denen die normalen Muster des Spracherwerbs bereits in frühen Stadien der Entwicklung beeinträchtigt sind (Noterdaeme et al., 1999).
Für die expressive Sprachstörung gilt, daß die gesprochene Sprache des Kindes, das heißt aktiver Wortschatz, Grammatik und die Fähigkeit, Inhalte sprachlich auszudrücken, in ihrem Niveau deutlich unter dem Intelligenzniveau liegt. Das Sprachverständnis ist dagegen altersgemäß, begleitende Störungen der Artikulation sind sehr häufig (siehe Tabelle 6).
Für die rezeptive Störung gilt, daß das Sprachverständnis, das heißt die Fähigkeit, gesprochene Sprache altersentsprechend zu entschlüsseln, unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegt. Häufig ist die expressive Sprache sowie die Laut-Produktionsfähigkeit ebenfalls gestört.
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Tabelle 6 : Die häufigsten Artikulationsstörungen bei
Kindern (nach Straßburg et al., 2000).
Beide Zustandsbilder können nicht direkt neurologischen Veränderungen, Störungen des Sprachablaufs, sensorischen Beeinträchtigungen, einer Intelligenzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet werden (Straßburg et al., 2000). Allerdings ist davon auszugehen, daß komorbide Funktionsstörungen des Gehirns die Symptomatik in erheblichem Maße beeinflussen. So finden sich häufig komplexe Störungen der Mundmotorik bei zentralen Bewegungsstörungen (zum Beispiel bei der spastischen Cerebralparese) oder bei zentralen Hypotonie-Syndromen (Straßburg et al., 2000).
Der Begriff der Sprachentwicklungsstörung wird in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet. Je nach Betrachtungsweise richtet sich das Augenmerk vermehrt auf die Beschreibung des Erscheinungsbildes, des Entwicklungsverlaufs, der Ätiologie oder der Abgrenzung zu anderen Störungsbildern. Im allgemeinen wird eine Sprachentwicklungsstörung als die Unfähigkeit eines Kindes mit intaktem Gehör und ohne intellektuelle Beeinträchtigung, das Regelsystem und den Wortschatz seiner Muttersprache alters- und entwicklungsgerecht zu erwerben, definiert (vgl. Bürk, 1998).
Die Entwicklungsbeeinträchtigungen betreffen sowohl einzelne oder mehrere Sprachebenen (Aussprache, Semantik, Grammatik) und haben häufig vielfältige Auswirkungen in den Bereichen Wahrnehmung, Motorik, Kognition und im psychosozialen Kontext (Grohnfeldt, 1993). So werden Sprachentwicklungsstörungen nach der ICD-10 überproportional oft bei hyperkinetischen Störungen beobachtet (vgl. Dilling et al., 1997). Noterdaeme et al. (1999) weisen auf einige Studien hin, die bei umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen begleitende motorische Auffälligkeiten nachgewiesen haben. Diese motorischen Auffälligkeiten sind nicht im Rahmen von klar definierten neurologischen Syndromen, wie zum Beispiel Cerebralparesen oder muskulären Erkrankungen, einzuordnen. Sie werden vielmehr als "soft signs" oder "minimale neurologische Dysfunktion" zusammengefaßt.
Diese Kinder werden als ungeschickte Kinder ("clumsy child") bezeichnet, die beschriebenen Auffälligkeiten zeigen sich in der Fein- als auch in der Grobmotorik. Sie beinhalten sowohl Schwierigkeiten im Bereich der Hand- und Fingermotorik als auch im Bereich der Mund- und Sprechmotorik (Noterdaeme et al., 1999). In einer eigenen Studie konnten Noterdaeme und Mitarbeiter zwar keinen exakten Nachweis erbringen, daß klinisch-neurologische Untersuchungen bei sprachgestörten Kindern Hinweise auf eine gestörte Funktion der linken Hemisphäre ergeben. Sie verweisen jedoch auf neuere bildgebende Verfahren, die gyrale Anomalien im linken perisylvischen Bereich des Gehirns, also in dem Bereich, in welchem die feinmotorischen und sprachlichen Fertigkeiten repräsentiert sind, dokumentieren konnten.
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Michaelis und Niemann (1995) beschreiben drei Funktionsebenen, deren Intaktheit Voraussetzung für eine regelrechte Sprachentwicklung darstellen. Als erste Ebene benennen sie den akustischen Sinneseingang und die beim Sprechen beteiligten neuro-muskulären Strukturen (die biologischen Voraussetzungen) (Michaelis & Niemann, 1995). Eine intakte Hörfunktion ist für die Entwicklung der Sprache von grundlegender Bedeutung. Sprache ist nicht angeboren, sie muß erworben werden (Wendlandt, 1998). Dabei spielt das richtige Funktionieren aller Sinnesorgane eine wesentliche Rolle. Insofern ist ein gutes Hörvermögen eine unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb (Neuhäuser & Heubrock, 2000). Hören ist im Gegensatz zum Sprechen eine angeborene Funktion und seine Entwicklung ist ungefähr mit dem Ende des ersten Lebensjahres weitgehend abgeschlossen (postnatale Reifung der Hörnervenbahnen) (Wendlandt, 1998). Bei Hörstörungen ist deshalb neben dem Schweregrad auch der Zeitpunkt des Beginns für die Auswirkung auf die Sprachentwicklung entscheidend (Straßburg et al., 2000). Liegt eine Hörstörung vor, so hat dies nicht nur Konsequenzen für die gesamte Sinnesentwicklung, sondern in der Regel kommt es zu einem allgemeinen Entwicklungsrückstand sowohl der Sprachentwicklung als auch der Entwicklung sozialer und kognitiver Fähigkeiten (vgl. Wendlandt, 1988). Auf dieser basalen Ebene können ebenfalls Fehlbildungen und Schädigungen der Sprechwerkzeuge (zum Beispiel bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte) oder motorische Störungen zu Sprachentwicklungsstörungen führen (Wendlandt, 1998).
Die zweite Funktionsebene stellt die cerebrale Dekodierung des Gehörten, die Verarbeitung und Verknüpfung sowie die Planung und Koordinierung des Sprechaktes dar. Hier sind sowohl auditive Wahrnehmungsfähigkeiten als auch ein normaler kognitiver Entwicklungsstand notwendig, um Gehörtes und Gedachtes in Sprache umzusetzen. Auf dieser Ebene entstehen die meisten kindlichen Sprachentwicklungsstörungen (Michaelis & Niemann, 1995).
Die dritte Funktionsebene deutet an, daß Sprache sich nur in der Kommunikation und Interaktion entwickeln kann; das heißt die emotionalen und psychosozialen Rahmenbedingungen müssen kommunikationsanregend sein (Michaelis & Niemann, 1999).
Die vorliegenden Prävalenzstudien zeigen übereinstimmend, daß sich die Gruppe sprachbehinderter und verhaltensgestörter Kinder überschneidet (Michaelis & Niemann, 1995). Etwa 50 bis 60% der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen weisen Diagnosen auf der ersten Achse des multiaxialen Klassifikationsschemas auf. Am häufigsten finden sich hyperkinetische Störungen, gefolgt von emotionalen Störungen mit Rückzug, Ängstlichkeit, Tagträumen und Störungen des Sozialverhaltens.
Bei jüngeren Kindern finden sich multiple Tics sowie Enuresis und Enkopresis. Viele dieser Kinder haben neurologische und insbesondere motorische Auffälligkeiten. Umschriebene Störungen der Mundmotorik sind häufig und lassen sich möglicherweise bei Anlagestörungen im Bereich der Inselregion (Operculum-Syndrom) vermuten (Straßburg et al., 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Ursachen der Sprachentwicklungsstörungen (nach Michaelis & Nie- mann,1995).
Bei jüngeren Kindern mit einer erworbenen Aphasie kann das Querschnittsbild des Landau-Kleffner-Syndroms den umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen sehr ähnlich sein. Hier ist die genaue Interpretation der Anamnesedaten sowie erhobener EEG-Befunde für die Diagnose entscheidend (Straßburg et al., 2000).
Gualtieri und Mitarbeiter (1983) führten Untersuchungen an 40 Kindern in einer Kinderpsychiatrischen Einrichtung durch, die durch Aufmerksamkeitsstörungen, hyperaktives Verhalten, Erziehungsschwierigkeiten, schizoide Störungen und kindliche Schizophrenieformen aufgefallen waren. Insgesamt zeigten über 50% dieser Kinder mittlere bis schwere Sprachstörungen, die über die genannten psychiatrischen Störungen gleichverteilt waren (vgl. Gualtieri, 1983).
Love und Thompson (1998) konnten in ihren Untersuchungen in ambulanten psychiatrischen Einrichtungen zeigen, daß bei 56 von 75 (74,7%) der Kinder mit Sprech- oder Sprachstörungen gleichzeitig die Diagnose "ADHD"(attention deficit disorder with hyperactivity) gestellt wurde. Die Studie belegt außerdem, daß die psychiatrische Störung ADHD kombiniert mit Sprachstörungen gemeinsam häufiger auftritt als einzeln (vgl. Love & Thompson, 1988).
In der von Mayr (1990) erstellten Studie wurden 501 Kindergartenkinder auf Sprech-, Sprach- und Kommunikationsstörungen im Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten untersucht. Es konnte gezeigt werden, daß signifikante Beziehungen von Sprachauffälligkeiten und den Verhaltensmerkmalen Gehemmtheit, Überempfindlichkeit, Abhängigkeit, Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und motorischen Auffälligkeiten bestehen, nicht jedoch zu den Verhaltensmerkmalen Aggressivität und aggressiver Unangepaßtheit. Es konnte weiterhin gezeigt werden, daß das Risiko für Verhaltensstörungen nur tendenziell mit dem Schweregrad der Sprech- bzw. Sprachstörungen ansteigt (vgl. Mayr, 1990).
Beitchman und Mitarbeiter (1986) ermittelten von insgesamt 1655 Kindergartenkindern 142 sprachgestörte Kinder. Von dieser Gruppe hatten 48,7% ein erhöhtes Risiko für psychiatrische Auffälligkeiten im Vergleich zu 11,8% einer Kontrollgruppe. Die häufigsten Diagnosen bei den sprachgestörten Kindern waren ein ADHD (30,4%) gefolgt von emotionalen Störungen (12,8%). In einer Langzeitstudie über sieben Jahre konnten Beitchman et al. (1996) nachweisen, daß die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhaltensstörungen bei sprech- und sprachgestörten Kindern im Alter von fünf Jahren deutlich höher ist als bei normalen Kindern. Im Alter von 12,5 Jahren sind die sprech- und sprachgestörten Kinder immer noch psychiatrisch auffälliger, allerdings hat sich sowohl die Schwere der Sprachstörung als auch die der Verhaltensstörungen in diesem Alter deutlich reduziert (vgl. Beitchman et al. 1996).
4 Risikofaktoren
Im Hinblick auf zunehmend verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung von Prävention, Früherkennung und Frühbehandlung psychischer Erkrankungen bei Kindern gewinnt die wissenschaftliche Erforschung der frühen Genese psychischer Störungen zunehmende Bedeutung (Scheithauer & Petermann, 2000). Seit einigen Jahren gilt das besondere Augenmerk von Pädiatern und Kinderpsychiatern den Entwicklungsrisiken von Kindern, die in der prä-, peri- und neonatalen Entwicklungsphase cerebral belastenden Ereignissen ausgesetzt waren (vgl. Laucht et al., 1992). Die enormen Fortschritte der modernen neonatologischen Intensivversorgung haben dazu geführt, daß verstärkt die Frage untersucht wird, wie sich Risikogeburt und Intensivpflege auf die weitere Entwicklung der betroffenen Kinder auswirken und welche Entwicklungschancen ihnen langfristig einzuräumen sind (Wolke, 1991, 1999). Bezog sich der Begriff des Risikokindes zunächst nur auf die Folgen von Komplikationen während der Schwangerschaft oder Geburt, so wurde er zunehmend auf andere, zusätzliche Gefährdungen ausgeweitet. Dabei gerieten neben Risikofaktoren, die biologisch begründet sind, auch solche Faktoren in den Blickpunkt, die eine psychosoziale Belastung für die Entwicklung des Kindes darstellen (Laucht et al., 1992). Die Mannheimer Risikokinderstudie konnte belegen, daß psychosoziale Risiken mit ungünstigen Entwicklungsverläufen bis zum Alter von viereinhalb Jahren verknüpft sind. Sie wirken sich insbesondere auf die kognitive und sozio-emotionale Entwicklung aus. Biologische und organische Risiken hingegen waren eher mit beeinträchtigten motorischen Funktionen verknüpft (Laucht et al., 1996). Ihnen kam nach dieser Studie eine vergleichsweise geringere Bedeutung zu, vielmehr nahmen die psychosozialen Risiken im Verlauf der kindlichen Entwicklung an Wirksamkeit zu (Scheithauer & Petermann, 1999).
Die Liste der potentiellen Risikofaktoren ist in den letzten Jahren deutlich umfangreicher geworden. Dabei ist es bislang nicht gelungen, eindeutige Aussagen über deren ätiologische Bedeutung im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Risikobelastung und Störungen der kindlichen Entwicklung, insbesondere des Verhaltens und seiner Störungsbilder, zu machen (Laucht et al., 1996).
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Tabelle 7: Mögliche Risikofaktoren in der prä-, peri- und postnatalen
Phase der kindlichen Entwicklung.
Als problematisch hat sich erwiesen, daß völlig unterschiedliche Ursachen für symptomatisch ähnliche Krankheitsbilder verantwortlich sein können. Als Beispiel seien hyperkinetische Verhaltensmuster genannt, die sowohl Folgen einer Hyperkinetischen Störung, aber auch eines Schädel-Hirn-Traumas, einer perinatalen Hirnblutung oder eines fragilen-X-Syndroms sein können (Heubrock & Petermann, 2000). Die Zuordnung von Risikofaktoren ist auch deswegen schwierig, weil sehr viele Auswirkungen (Erstmanifestationen) erst im Verlauf der weiteren Entwicklung eines Kindes deutlich werden, obwohl die eigentliche Verursachung bereits in der prä- und perinatalen Phase liegt (Cotton, Crowe & Voudouris, 1998).
Auch eine einheitliche Definition des Begriffes "Risikokind" läßt sich in der neueren Literatur nicht finden. Man kann sie allerdings von dem Begriff der "Risikoschwangerschaft" ableiten. Als Risikoschwangerschaft wird jede Schwangerschaft oder Geburt, deren Verlauf in irgendeiner Form vom Normalverlauf abweicht, bezeichnet. Demnach ist jedes Kind, daß nach einer wie auch immer belasteten Schwangerschaft geboren wird, als Risikokind einzustufen.
Scheithauer und Petermann unterscheiden zwischen risikoerhöhenden Faktoren auf seiten des Kindes (Vulnerabilitätsfaktoren) und umgebungsbezogenen Faktoren. Dabei umschreibt die Vulnerabilität, wie stark die Entwicklung eines Kindes ungünstig beeinflußt werden kann, zum Beispiel durch genetische Dispositionen und chronische Krankheiten. Aber auch weitere Merkmale wie eine niedrige Intelligenz, hohe Ablenkbarkeit oder ein schwieriges Temperament spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Risikofaktoren in der Umgebung des Kindes umfassen sowohl sozioökonomische Faktoren sowie familiäre Belastungen als auch Faktoren im sozialen Umfeld des Kindes (Scheithauer & Petermann, 1999).
Die Frage, wann ein bestimmter Risikofaktor wirksam wird, kann nur beantwortet werden, wenn bekannt ist, wo er auf das Gehirn einwirkt, und zum zweiten, wann er auftritt. Bestimmte Risikofaktoren wirken sich nur zu bestimmten Zeitpunkten aus, andere beeinflussen den gesamten Verlauf der Entwicklung des Kindes (Scheithauer & Petermann, 1999).
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Tabelle 8: Einfluß von Risikofaktoren in der Schwangerschaft und bei
der Geburt (modifiziert nach Schmidt et al., 1992).
Es sind somit unterschiedliche Formen von Risikofaktoren zu unterscheiden, die sowohl in strukturelle und in variable Faktoren unterteilt werden können. Strukturelle Faktoren sind solche, die sich nicht verändern beziehungsweise die nicht veränderbar sind, wie zum Beispiel das Geschlecht des Kindes. Variable Faktoren hingegen sind solche, die sich verändern oder die veränderbar sind (zum Beispiel durch geeignete Interventionsmaßnahmen). Insbesondere die variablen Faktoren haben im Zusammenhang mit der Prävention von Verhaltensänderungen eine große Bedeutung. Da sie manipulierbar sind und ihre Manipulation zu einer Veränderung des Risikos führen, können sie als kausale (jedoch nicht als ursächliche) Risikofaktoren bezeichnet werden. Nur diejenigen Faktoren, die im zeitlichen Verlauf vor dem Eintreten von Verhaltensstörungen oder psychischer Störungen wirksam werden, können als eigentliche Risikofaktoren bezeichnet werden (Scheithauer & Petermann, 1999). Abbildung 4 zeigt die Zusammenhänge in Form eines Flußdiagramms.
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Das Erleben von Risiken bedeutet für die kindliche Entwicklung überwiegend eine nachteilige Beeinträchtigung. Meist werden die Risikosituationen während der Schwangerschaft oder um die Geburt erlebt; diese Kinder werden als sogenannte Risikokindern bezeichnet. Zu den biologischen Risikofaktoren, die in dieser Phase eine wesentliche Rolle spielen und den kindlichen Entwicklungsverlauf gravierend beeinflussen können, müssen ebenfalls die psychosozialen Belastungen und deren Auswirkungen auf die Mutter in Beziehung gebracht werden (Heimann, 1997).
Einen engen Zusammenhang zwischen einer Einzelrisikobelastung und einer daraus resultierenden Störung herzustellen ist bis heute nur bedingt möglich. Allerdings kann die Behauptung propagiert werden, daß Auswirkungen früh erlebter Risiken häufig von späteren Einflüssen abhängig sind. Abweichend vom frühen Säuglingsalter zeigt sich im voranschreitenden Alter ein Zusammenwirken von biologischen und psychosozialen Risiken. Diese Aussage kann dadurch belegt werden, daß Kinder nach schweren biologischen Komplikationen ein um so ausgeprägteres Defizit in der Motorik zeigen, je ungünstiger ihre psychosoziale Umweltsituation ausfällt. Ebenso können frühe Benachteiligungen der kognitiven Entwicklung nach schweren Komplikationen in psychosozial unbelasteten Familien vollständig ausgeglichen werden, in belasteten Familien dagegen bestehen sie fort oder vergrößern sich. Einen positiven Verlauf zeigt auch die sozial-emotionale Entwicklung, da die Zahl der Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit schweren Komplikationen bei der Geburt vom Säuglingsalter mit fortschreitendem Alter abnimmt (vgl. Laucht et al., 1992).
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- Arbeit zitieren
- Dr.phil. Klaus Heimann (Autor:in), 2001, Neurogene Ursachen kindlicher Verhaltensstörungen - Entwicklung eines Screening-Verfahrens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75585
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