Nach einigen Jahren völliger Abwesenheit von Gesellschaft, Schule und Politik initiierte Ulrich Greiner, Redakteur der ZEIT, 1997 eine neue Kanondebatte. Greiner stellte hierzu anfangs mehreren deutschen Prominenten die Aufgabe, ihren persönlichen Kanon aufzustellen, unter der Thematik „Was ein Abiturient unbedingt gelesen haben muss“, mit der Schwierigkeit, sich auf 5 Werke zu beschränken. Allein diese Eingrenzung stieß schon bei mehreren Auserwählten auf Kritik. Marcel Reich-Ranicki nennt den Redakteur einen „Barbaren“ oder „bestenfalls einen Spaßvogel“, der die gesamte deutschsprachige Literatur auf 5 Titel begrenzen will, die ein Abiturient kennen sollte. Gefordert wurden mindestens 20-30 Werke, da man sonst den Wert des Abiturs so drastisch senken würde und diesem höchsten deutschen Schulabschluss auch noch das letzte Bisschen Elitäres nähme. Wie auch immer, die meisten der Befragten stimmten mit Greiner überein, dass es unabdingbar sei, einen Kanon festzulegen. Dabei wurde allerdings relativ schnell klar, dass es unmöglich ist, sich auf einen Kanon zu einigen. Bei vielen der Befragten ist zwar festzustellen, dass sich die Nennungen der Autoren und oftmals auch der Werke gleichen, doch treten immer wieder Fragen und Vorschläge auf, mehrere Kanons, zum Beispiel einen pro Epoche festzulegen. Wobei man dann sehr schnell von der Zahl 5, wie von Ulrich Greiner gefordert, auf eine Zahl zwischen 20 und 30 Werken kommt.
Diese Debatte nimmt die vorliegende Arbeit auf und beschäftigt sich weiterhin mit der Frage inwiefern ein Kanon aufgestellt werden muss, bzw. ob dieser einer stetigen Anpassung bedarf.
Es handelt sich um eine Bachelorarbeit, die im Rahmen des Studiums der Germanistik an der Universität Bielefeld angefertigt wurde.
Inhaltsverzeichnis
1 Begriffsdefinition Kanon
2 Darstellung der Kanondebatte der ZEIT von 1997
2.1 Der stille Wunsch nach einem Kanon
2.2 Kritik an der Kanondebatte
3 Die Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Kanon
3.1 Vom Pathos der Bildung in Deutschland
3.2 Die Arche des Marcel Reich-Ranicki
4 Der Schulkanon
4.1 Die Geschichte des Schulkanon
4.2 Die Debatte um den Schulkanon
5 Ein Fragebogen zur Kanonliteratur in der Sekundarstufe II
5.1 Auswertung der Umfrage
5.2 Erläuterungen zum Ergebnis der Umfrage
6 Schlusswort
Literaturverzeichnis
1 Begriffsdefinition Kanon
Die Definition des Begriffs „Kanon“, bzw. die Eingrenzung des Kanons ist bis heute nur sehr vage und mit jeder neuen Diskussion um den Kanon strittig. Unumstößlich ist, dass der Kanon ursprünglich der Theologie entstammt. Er „bezeichnet dort eine unabänderliche Liste heiliger Texte, die ihren Eingang in die Schriften religiöser Gemeinschaften (z.B. der Bibel) fanden und unbegrenzte Gültigkeit beanspruchen.“[1] Auf literarische Texte übertragen meint dieses eine auf Konsens beruhende Basis tradierter Werke und Autoren der Hochliteratur, auf die stets, aufgrund ihrer ästhetischen Qualität, zurückgegriffen werden kann.[2]
Der Begriff Kernkanon verweist auf eine Liste von Werken, die sich verhältnismäßig beständig im Kanon befinden, dazu zählen zum Beispiel die Bibel, Werke Homers, Shakespeares oder Goethes. Einen aktuellen Kanon wird man allerdings vergeblich suchen, da Kanons in der Regel nicht wie beispielsweise Bestsellerlisten geführt werden. Auch wird immer wieder betont, dass man nicht von einem absoluten Kanon sprechen kann, sondern Kanons je nach gesellschaftlicher Gruppierung auch sehr individuell ausfallen. Dabei ist der Kanon der Kirche (evangelisch oder katholisch) nicht mit den Kanons der unterschiedlichen Parteien, Feministinnen oder Homosexuellen zu vergleichen.
Vom heimlichen Kanon spricht man häufig bezogen auf die Schulen. Hier gibt es zwar keine direkt festgelegte Richtschnur was gelesen werden muss, doch hat jede Schule, meist über Jahre hinweg einen Katalog an Werken, der zum heimlichen Kanon der Schule zählt.
Der so genannte Deutungskanon ist auch vornehmlich auf den Bereich der Schule, beziehungsweise der vermittelnden Instanz literarischen Wissens, bezogen. „Die Kenntnis kanonischer Werke kann nur dann als symbolisches Kapital fungieren, wenn diesen interpretativ ein bestimmter ästhetischer Wert unterstellt wird.“[3] Häufig werden demnach Werke zu kanonischen Werken erhoben, wenn diesen durch Interpretation Bedeutung für die gegenwärtige Gesellschaft beigemessen wird. Fraglich bleibt allerdings, ob kanonisches Wissen in
der heutigen Gesellschaft immer noch „Distinktionsmerkmal für gesellschaftliche Eliten“[4] darstellt oder identitätsstiftende Funktion besitzt.
2 Darstellung der Kanondebatte der ZEIT von 1997
2.1 Der stille Wunsch nach einem Kanon
Nach einigen Jahren völliger Abwesenheit von Gesellschaft, Schule und Politik initiierte Ulrich Greiner, Redakteur der ZEIT, 1997 eine neue Kanondebatte. Greiner stellte hierzu anfangs mehreren deutschen Prominenten die Aufgabe, ihren persönlichen Kanon aufzustellen, unter der Thematik „Was ein Abiturient unbedingt gelesen haben muss“, mit der Schwierigkeit, sich auf 5 Werke zu beschränken. Allein diese Eingrenzung stieß schon bei mehreren Auserwählten auf Kritik. Marcel Reich-Ranicki nennt den Redakteur einen „Barbaren“ oder „bestenfalls einen Spaßvogel“, der die gesamte deutschsprachige Literatur auf 5 Titel begrenzen will, die ein Abiturient kennen sollte. Gefordert wurden mindestens 20-30 Werke, da man sonst den Wert des Abiturs so drastisch senken würde und diesem höchsten deutschen Schulabschluss auch noch das letzte Bisschen Elitäres nähme. Wie auch immer, die meisten der Befragten stimmten mit Greiner überein, dass es unabdingbar sei, einen Kanon festzulegen. Dabei wurde allerdings relativ schnell klar, dass es unmöglich ist, sich auf einen Kanon zu einigen. Bei vielen der Befragten ist zwar festzustellen, dass sich die Nennungen der Autoren und oftmals auch der Werke gleichen, doch treten immer wieder Fragen und Vorschläge auf, mehrere Kanons, zum Beispiel einen pro Epoche festzulegen. Wobei man dann sehr schnell von der Zahl 5, wie von Ulrich Greiner gefordert, auf eine Zahl zwischen 20 und 30 Werken kommt.
Bei einigen Prominenten stieß Greiner, so scheint es, tief greifendere Diskussionen an. Nicht selten kam die Frage auf, wozu man eigentlich einen Kanon benötigt. Was will oder soll ein Kanon erreichen? Woraus entstand der Wunsch nach einem Kanon? Diese Fragen werden innerhalb der ZEIT-Kanondebatte aufgegriffen. Versuche zur Beantwortung werden durch die Fragenden selbst unternommen, wobei es nicht immer für jedermann zu befriedigenden Lösungen kam. Einen Konsens scheint es nur unter dem Aspekt zu geben, dass es von allen Befragten als notwendig erachtet wird überhaupt einen Kanon aufzustellen.
Was eigentlich ist ein Kanon? In der Musik lernt diesen Begriff schon jeder Schulanfänger schnell kennen, doch wird dieser in Zusammenhang mit Literatur benutzt schwächelt schon der deutsche Durchschnittsabiturient. Ganz zu schweigen von seiner ursprünglichen Bedeutung in der Religion. Ein literarischer Kanon dient nicht nur der literarischen Überlieferung, sondern - und vor allem - der Überlieferung unserer Geschichte. Denn
„Geschichte ist nicht nur die Geschichte von Königen und Generälen (…), sie ist auch die Geschichte der Dichter und der Philosophen, die Geschichte von Büchern, von Dramen, von Gedichten. Darin sind die Träume aufbewahrt, die Ängste und die Hoffnungen der Menschen.
Wer diese Geschichte nicht kennt, der kennt die Kultur nicht, der er angehört, der kennt sich selber nicht.“[5]
Der letzte Satz von Ulrich Greiner sollte prägend für unsere heutige Gesellschaft sein, jedoch stellt sich bei der heutigen Imitationsgesellschaft schnell das Gefühl ein, es sei falsch sich selbst zu kennen. Viel mehr zählt es doch „trendy“ zu sein, um nicht groß aufzufallen. „Nicht-groß-auffallen“ bedeutet gleichzeitig, auch in der Schule lieber nur ein Mitläufer zu sein, als sich von den Mitschülern als „Streber“ betiteln zu lassen. Wir leben nicht mehr in der Vergangenheit, sondern schauen nur in die Zukunft, was ja unter bestimmten Umständen nicht unbedingt falsch sein muss, doch müssen wir wirklich schon im Juli wissen, welche Farben im nächsten Frühjahr in sind? Diese Themen finden sich in allen Zeitschriften, die sich Kinder und Jugendliche für gerade mal einen Euro am Kiosk kaufen können. Doch was ist mit unserer Geschichte? Den Normen und Werten, die, wie nur von der Generation jetziger Großeltern bekannt, früher einmal in Deutschland existierten? Herr Greiner hat ganz recht, wer die Geschichte nicht kennt, der kennt auch die Kultur nicht, in der er lebt. Und genau hier sind wir wieder angelangt beim literarischen Kanon. Die Werke die unumstößlich den Höhenkamm der deutschen Literatur bilden, vermitteln eben dieses kulturelle Wissen. Sei es Goethes „Faust“, die „Buddenbrooks“ oder Lessings „Nathan der Weise“. Letzterer stellt für den Unternehmer Heinz Dürr den „Hauptvertreter und zugleich Vollender und Überwinder der Aufklärung der deutschen Literatur mit dem Thema Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit und Wahrheitsliebe [dar]. Auch das Thema der Religionen beim Nathan ist wichtig für heutige Auseinandersetzungen junger Abiturienten mit der Gesellschaft.“[6] Sich mit der Gesellschaft auseinandersetzen, das ist es, was der Kanon will. Der Kanon bildet einen Lesevorschlag für das, was unser kulturelles Erbe zu sein scheint. Doch auch diese Lesevorschläge stellen keine Verbindlichkeiten dar, es sind eben nur Vorschläge. Doch wo keine Verbindlichkeiten mehr herrschen ist es immer schwierig Interesse zu erzeugen. Und genau vor dieser Problematik stehen heutige Deutschlehrer. Da es keine verbindlichen Leselisten gibt, nur Vorschläge, die zumeist so überfüllt sind mit Titeln, wählt der Lehrer eher diejenige Literatur aus, von der er meint, sie interessiere die jungen Leser. Diese Titel sind dann auch eher solche, die sich mit der aktuellen Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler beschäftigen, beziehungsweise aufgrund ihrer Vermarktung oder Präsentation die Schüler ansprechen. Denn wer kennt nicht das allgemeine langweilige Gähnen des gesamten Kurses beim Anblick der kleinen gelben Heftchen? Doch wer behauptet, Fausts Liebeleien fallen vollkommen aus der heutigen Wirklichkeit heraus, hat wahrscheinlich noch nie den Vergleich mit der Gegenwart gesucht. Es scheint nicht wichtig was man liest, mehr wie man liest. Doch dazu bedarf es der Anleitung, und die erfolgt zumeist durch den Lehrer. Gelingt es diesem seine jungen Leser zu entführen in die Welten eines „Faust“ oder einer „Effi Briest“, dann sind auch kanonische Werke kein Hindernis mehr für Abiturienten unserer Zeit. Und um mit Adolf Muschig, einem Schweizer Schriftsteller zu sprechen, der auch zu den Auserwählten Greiners gehört, verhält es sich so: „was Menschen nicht erst einmal ratlos gemacht habe, das habe sie noch nie gefördert.“[7] Wie hieraus zu entnehmen ist, soll Literatur also nicht nur die Erinnerung an unsere Kultur und Geschichte sein, sondern auch unser Handeln und Denken fordern und fördern. Literatur soll uns weiterbringen. Dieses ist doch genau der Anspruch, den Lehrer an sich selbst und in besonderem Maße an ihre Schüler haben. Nur wer an seine Grenzen geht, der kann auch Erfolg haben. Es mag durchaus richtig sein, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts oder mehr noch das „Nibelungenlied“, welches nach Vorstellung einiger Befragten auch in den Schulkanon aufzunehmen ist, die Schülerinnen und Schüler erst einmal an ihre Grenzen bringt, doch werden diese Grenzen dann überwunden, stellt sich Stolz und Freude über das Geschaffte ein, und neue Ziele können gesteckt werden. Unter diesem Aspekt dient Literatur und vor allem Kanonliteratur dazu, die Schülerinnen und Schüler an ihre Grenzen zu bringen, um ihnen so neue Ziele zu geben und sie auf das Leben vorzubereiten.
2.2 Kritik an der Kanondebatte
Wie zu jeder Debatte gehört auch hier Kritik an einem Pflicht-Kanon dazu. Unmittelbar nach Erscheinen der ZEIT-Umfrage meldete sich Manfred Schneider, Literaturwissenschaftler der Universität Essen zu Wort. Dieser hält es für überholt eine „befohlene Auswahl“ an Titeln festzusetzen, die die literarische Überlieferung sichern sollen. Vielmehr verlangt Schneider die heutigen Abiturienten selbst zu fragen, was sie in ihrer Schullaufbahn lesen „mussten“. Man würde wahrscheinlich die gleichen Antworten erhalten, die auch Greiners Auserwählte gaben. Doch ist es nicht viel wünschenswerter in der Weise auf Schüler einzugehen, indem man sich mit ihrer „mythischen Welt“ auseinandersetzt? Genau dieses verlangt Schneider.
Die Deutschlehrer unter uns sollen sich daran orientieren, welche Bücher, Filme oder Theaterstücke den Schülern heute wichtig sind. Schneider formuliert, dass es auch mit fünf deutschen Pflichtwerken nicht möglich ist, die Zerstreuung des Wissens und die Popularisierung der Kultur aufzuhalten. Sicherlich kann man den Lauf der Zeit und somit auch die angesprochenen Entwicklungen nicht durch einen gesetzmäßigen Schulkanon aufhalten, doch sollte es als durchaus wünschenswert gelten, die großen deutschen Autoren an nachfolgende Generationen zu überliefern. Und auch hier ist Herrn Greiner Recht zu geben, wenn er behauptet, dass der richtige Ort für diese Überlieferung immer noch die Schule ist. Denn will man Deutschland bis heute noch als das Land der großen Dichter und Denker bezeichnen, ist es unabdingbar, diese auch mit Namen und Werk an die Schülerinnen und Schüler weiter zu vermitteln.
Schneider ist der Ansicht, dass gerade das Kanonische des Kanons zu seinem Bankrott führte. Damit kritisiert er die Aufnahme zwar durchaus „großartiger Werke“ in den Schulkanon, weil die dort überlieferten Ansichten nicht der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler entsprechen. Er verlangt vielmehr eine Auswahl zeitgemäßer Literatur, um nicht auch noch den letzten Lesefreudigen einer Klasse zu vergraulen. Weiterhin beleuchtet Angelika Buß, dass durch die Vorgabe von Lektüren in der Schule, also einem Schulkanon, eine regelrechte „Gängelung des Deutschlehrers“ stattfindet. „Ein am Kanon orientierter Literaturunterricht laufe Gefahr, der Verdinglichung von Bildung Vorschub zu leisten (…).“[8] Es liegt die Vermutung nahe, dass Schneider sich in seiner Kritik nicht nur auf Literatur allein bezieht, sondern zu verstehen geben will, dass sich die Anforderungen dessen, was es zu wissen gilt, geändert haben. Dieses lässt sich zu der Bemerkung Angelika Buß’[9] in Beziehung setzen, die zu bedenken gibt, dass dem kanonischen Wissen heute wohl eher nur noch eine marginale Bedeutung beikomme, da sich die Anforderungen des Arbeitsmarktes dahingehend verändert haben, dass hauptsächlich anwendungsbezogene Schlüsselqualifikationen gefordert werden und nicht mehr umfassende Allgemeinbildung.
Unstrittig scheint es allerdings zu sein, dass man sich als Deutschlehrer immer in die Gefahr begibt, Themen und Titel zu wählen, die nicht den Geschmack eines Siebzehnjährigen treffen. Doch verhält es sich in anderen Fächern nicht genauso? Setzt sich nicht jedes Unterrichtsfach der Gefahr aus, den Schüler zu langweilen? Oder machen Statistik, Intergralrechnung und Algebra gleich jeden Schüler zu einem Mathebegeisterten? Was in anderen Fächern gang und gäbe ist, sollte in der Literatur auch möglich sein. Schüler zu beanspru-
chen darf gerade heute, wo das Abitur zu einem Jedermann-Schulabschluss auf-/ abgestiegen ist, nicht zu einem Tabu avancieren. Und „jeder weiß doch, dass Kinder erst dann richtig glücklich und stolz sind, wenn sie die kleinen Katastrophen des Scheiterns und der Verzweiflung überstanden haben (…).“[10]
Viele Deutschlehrer stellen sich hinter Manfred Schneider und erklären ihren Notstand damit, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler nur erreichen, wenn lesen Spaß macht. Doch sollte man sich der Überlegung nicht verwehren, ob nicht auch Goethe, Schiller oder Fontane Spaß machen können. Ist es nicht wirklich nur eine Frage der Vermittlung? Und hier ist es dann an den Lehrern, diesen Spaß zu vermitteln. Nur wenn man selbst nicht hinter seinem Fach steht, dann ist es auch schwierig den Kindern Freude an der Literatur zu vermitteln. Denn hier trifft Ulrich Greiner genau den Punkt, wenn er erklärt, dass „jeder normale Professor der Betriebswirtschaft oder Physik (…) von der Dignität seines Faches überzeugt [ist], (…).“[11] Bei den Literaturwissenschaftlern verhält es sich jedoch häufig anders, führt Greiner aus. Diese verfallen, so scheint es, eher einer Depression, wenn sie sich bewusst machen, dass sie sich darauf eingelassen haben, sich ein Leben lang der Welt der Bücher hinzugeben. Wird nun aber genau diese Einstellung an Studenten der Germanistik oder an Schüler weitergegeben, ist es kein Wunder, dass man die Klassiker deutscher Literatur nicht mehr an jüngere Generationen vermitteln kann.
Der Kritik eines Manfred Schneider sollte man sich jedoch nicht bedingungslos anschließen, wenn er es als Kulturkonservatismus bezeichnet, wenn Menschen, die durchaus qualifiziert sind, im Rahmen der Umfrage einer großen deutschen Wochenzeitung, einen - beziehungsweise ihren - wünschenswerten Schulkanon aufstellen. Sicherlich kann man sich damit anfreunden, sich auch an den Interessen der Schülerinnen und Schüler zu orientieren, doch gibt die neuere Literatur eben auch nicht alles her, was als wissenswert gilt. Eine Symbiose aus alt und neu wäre im Literaturunterricht wahrscheinlich die Lösung aller Missstände. Doch sind wir dort nicht schon längst angelangt? Man betrachte beispielsweise den Einzug der „Wendeliteratur“ in deutsche Klassenzimmer. Bietet nicht dieser Zweig der Literatur die Möglichkeit, jungen Menschen ein Stück deutscher Geschichte zu vermitteln und gleichzeitig ihre aktuelle Lebenswirklichkeit zu berühren? Diesem Thema werden in Kapitel 5 einige Aspekte hinzugefügt und anhand einer Untersuchung weitere Ausblicke zu dieser Thematik gegeben.
Zuvor finden sich in Kapitel 3 einige Überlegungen zu dem, was Bildung eigentlich heute, nach der PISA-Studie, bedeutet. Weiterhin ein Versuch von Marcel Reich-Ranicki einen Kanon für die Schule aufzustellen, der Licht in die überfrachteten Lektürelisten der Lehrpläne der Länder bringen könnte.
3 Die Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Kanon
3.1 Vom Pathos der Bildung in Deutschland
Nicht zuletzt sind es die erschreckenden Ergebnisse der PISA-Studie, die der Bildungsdebatte neuen Zündstoff liefern. Weit entfernt hat sich Deutschland von dem Land, das es einmal war, dem Bildungsland, dem Land der Dichter und Denker. Warum? Diese Frage stellen sich Politiker, Pädagogen, Schriftsteller und solche, die etwas verändern wollen. Noch vor nicht allzu langer Zeit, genauer zur Zeit der innerdeutschen Wende waren es Eltern, die darauf drängten ihre Sprössling an ein „richtiges“ Gymnasium zu schicken. Kaum ein Jahrzehnt später scheint dieser Wunsch nur ein unerfüllter Traum zu sein.
Wolf Lepenies sieht den Beginn dieser Misere in der falschen Auslegung des Begriffs „Bildung“. In seiner Eröffnungsrede[12] zu dem Kongress „McKinsey bildet“, im Jahre 2002, erläutert er den Weg des Bildungsbegriffs folgendermaßen:
[...]
[1] Angelika Buß, Kanonprobleme, in: Michael Kämper-van den Boogaart (Hrsg.),Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S.142-152, hier S. 142.
[2] Vgl. Renate Heydebrand, Kanon Macht Kultur, in: Renate Heydebrand (Hg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart/ Weimar 1998, S. 612-631.
[3] Angelika Buß, Kanonprobleme, in: Michael Kämper-van den Boogaart (Hrsg.),Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S.142-152, hier S. 144.
[4] Hermann Korte, Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl, in: Klaus-Michael Bogdal und Hermann Korte (Hgg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München 2003, S. 49-77, hier S.67.
[5] Ulrich Greiner, Eine ZEIT-Umfrage: Brauchen wir einen neuen Literaturkanon?, in: die ZEIT 21/ 1997.
[6] Heinz Dürr, in: Was sollen Schüler lesen? Prominente beantworten die ZEIT-Umfrage nach einem neuen Literatur-Kanon, in: Die Zeit 21/ 1997.
[7] Adolf Muschig, in: Was sollen Schüler lesen? Prominente beantworten die ZEIT-Umfrage nach einem neuen Literatur-Kanon, in: Die Zeit 21/ 1997.
[8] Angelika Buß, Kanonprobleme, in: Michael Kämper-van den Boogaart (Hrsg.),Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S.142-152, hier S.149.
[9] Ebd., hier S.149.
[10] Ulrich Greiner, Die Debatten um den deutschen Literaturkanon: Ein Nachwort von Ulrich Greiner. Mr. Murdstone auf dem Bahnhof, in: die ZEIT 25/ 1997.
[11] Ebd.
[12] Wolf Lepenies, Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit, in: Die ZEIT,40/2002. http://zeus.zeit.de/text/reden/bildung_und_kultur/200240.lepenies
- Quote paper
- Christina Hertel (Author), 2004, Kanonliteratur in der Sekundarstufe II, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75453
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.