Gibt es eine relevante Zunahme depressiver Erkrankungen? Diese Arbeit untersucht, aus der Perspektive Sozialer Arbeit und unter Einbeziehung neuester Erkenntnisse der Depressionsforschung die aktuelle Entwicklung. Die Arbeit beschäftigt sich in erster Linie mit der Situation in Deutschland, berücksichtigt aber auch die globale Entwicklung.
Inhaltsverzeichnis
Epidemie der Depression?
Begriffsbestimmung, Diagnostische Kriterien
Epidemiologie
Frauen und Männer, welche Rolle spielt das Geschlecht?
Volkswirtschaftliche Kosten der Depression
Psychopharmaka
Migration und kultureller Hintergrund
Arbeitslosigkeit und sozioökonomischer Status
Der gesellschaftliche Kontext
Konsequenzen für Ausbildung und Praxis sozialer Arbeit
Abschluss
Literatur
Zunahme depressiver Erkrankungen
Eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive Sozialer Arbeit
Epidemie der Depression?
Ist die Depression die Krankheit des 21. Jahrhunderts? So wie die vergangenen Jahrhunderte ihre je eigenen Krankheiten hervorbrachten, scheint heute die Depression auf dem Weg zur neuen Plage der Menschheit. Natürlich ist dies eine zugespitzte These, doch es spricht tatsächlich einiges dafür. Eine Reihe breit angelegter Untersuchungen der letzten 15 Jahre verzeichnen einen bemerkenswerten Anstieg psychischer Erkrankungen bzw. Störungen, im Besonderen der Depression, und zwar rund um den Globus. Die westlichen Industriestaaten belegen nach wie vor unangefochten die Spitzenposition bei der Zahl der (diagnostizierten) Erkrankungen, die höchsten Zuwachsraten verzeichnen jedoch die Entwicklungsländer[1]. Die Weltgesundheitsorganisation WHO legte 1993 erstmals eine Studie vor, deren Ziel die Quantifizierung der globalen Krankheitslast war, aufgeteilt nach Regionen und Bevölkerungsgruppen. Bestandteil dieser Studie war auch die Erhebung psychischer Erkrankungen. Im Rahmen des „Global Burden of Disease“[2] benannten Projektes wurden in einer zweiten Erhebung 1999 weltweit rund 26.000 Menschen zu ihrem körperlichen und psychischen Befinden befragt, und zwar mittels standardisierter Fragebögen, die sich an den Diagnosekriterien des ICD-10[3] orientierten. Im Ergebnis leidet etwa ein Viertel der Weltbevölkerung mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung, die Lifetimeprävalenz der Depression lag für Männer bei 13,8 und für Frauen bei 26,1 %[4]. Legt man den DALY[5] zu Grunde, ist die Depression in den Industriestaaten schon heute die zweithäufigste Ursache für durch Behinderung beeinträchtigte Lebensjahre. Modellrechnungen gehen für das Jahr 2020 davon aus, dass Depression dann mindestens die zweitwichtigste bzw. –schwerste Erkrankung weltweit sein wird, wenn man von der mit ihr verbundenen Belastung ausgeht. Neben der Beeinträchtigung der betroffenen Person selbst sind hierbei auch die Belastung des sozialen Umfeldes und der volkswirtschaftliche Schaden gemeint[6]. Der Gesundheitsreport 2006 der BKK[7] weist für die letzten 25 Jahre etwa eine Verdoppelung der Kosten sowie Fallzahlen psychischer Erkrankungen aus. Der Anteil der psychischen Krankheiten am Krankenstand (gemessen in Arbeitsunfähigkeitstagen) hat sich innerhalb der letzten 20 Jahr sogar vervierfacht[8]. Droht uns also eine globale Epidemie der Depression? In dieser Arbeit will ich der Frage nachgehen, ob tatsächlich von einem solch massiven Anstieg ausgegangen werden kann und welcher Teil dieses Anstiegs möglicherweise auf eine veränderte Sicht bzw. Definition von Depression zurückzuführen ist. Gegenstand sind hierbei die rein depressiven Erkrankungen, bipolare Störungen sowie manische Episoden werden in dieser Arbeit nicht thematisiert. Weiterhin werde ich kurz darlegen, welche Konsequenzen die Entwicklung für die Soziale Arbeit im Allgemeinen hat und welche Anforderungen sich hinsichtlich der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen ergeben.
Begriffsbestimmung, Diagnostische Kriterien
Was sind überhaupt Depressionen? Die Bedeutung des Begriffs und seine Verwendung haben sich mit der Zeit stark gewandelt. Das jeweils vorherrschende psychiatrische Paradigma, der Stand der Forschung und nicht zuletzt der gesellschaftliche Zustand und mit ihm der Stellenwert und die Wahrnehmung der eigenen Psyche waren immer der Rahmen, in dem Depression definiert und kommuniziert wurde. Seit einiger Zeit genießt die Thematik eine hohe mediale Aufmerksamkeit und wird infolge dessen in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Die mediale Behandlung solch komplexer Themen bleibt leider in der Regel oberflächlich und kann auch dem interessierten Laien nur ein rudimentäres Verständnis des Phänomens vermitteln. Neben einem aufklärenden und daher positiven Effekt dieser Öffentlichkeit ist auch ein zunehmend inflationärer Gebrauch des Wortes Depression zu verzeichnen. Die Depression ist in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen, bereits kleine Verstimmungen, eine simple schlechte Laune oder gar Müdigkeit werden bisweilen, von den Betroffenen selbst, als Depression bezeichnet. Zwischen dem, was in der Öffentlichkeit zur Depression erklärt wird, und der Symptomatik, die einer klinisch relevanten depressiven Erkrankung und der entsprechenden Diagnose zugrunde liegt, muss also klar unterschieden werden. Ein Vor- oder Zwischenstadium sind depressive Stimmungen (oder Stimmungslagen). Sie weisen typische depressive Symptome wie Traurigkeit, Mutlosigkeit, Pessimismus oder Lustlosigkeit auf, sind aber, aufgrund des (kurzen) temporären Charakters und der geringen Intensität ihrer Symptome, in der Regel nicht klinisch relevant[9]. Es handelt sich dabei um die mehr oder weniger normalen Tiefs, denen Jeder, meist aufgrund äußerer Ereignisse oder kleiner Krisen, immer wieder ausgesetzt ist.
Depression im klinisch-psychiatrischen Sinne meint eine Störung des Affektes, also der Stimmung und Emotionen und die mangelnde Fähigkeit, diese in einer angemessen Weise zu regulieren bzw. zu kontrollieren. Für eine Diagnose müssen neben dem individuellen Leidensdruck eine Anzahl bestimmter Symptome vorliegen und zeitliche (Dauer der Symptome) Kriterien erfüllt sein[10]. In den beiden großen Klassifikationssystemen, der von der WHO herausgegebenen ICD-10 (Kapitel V für psychische Störungen) und dem US-amerikanische Gegenstück DSM-IV, werden depressive Erkrankungen im Kapitel Affektive Störungen behandelt. Das ICD-10 (Diagnosegruppe F30-F39) unterscheidet zwischen manischer Episode, bipolarer affektiver Störung, depressiver Episode (Major Depression nach DSM-IV), rezidivierender depressiver Störung sowie anhaltenden affektiven Störungen (Dysthymia und Zyklothymia). Die meisten Diagnosen ermöglichen eine zusätzliche Unterteilung nach leicht, mittelgradig und schwer sowie mit oder ohne psychotische Symptome, worunter verschiedene Formen von Wahn verstanden werden. Die rezidivierende depressive Störung ist im Unterschied zur depressiven Episode wiederkehrend, die Dysthymia zeichnet sich durch langes Andauern (mind. 2 Jahre) sowie eine geringere Intensität der depressiven Symptomatik aus. Abgesehen von unterschiedlichen Bezeichnungen für die einzelnen Störungen unterscheiden sich ICD-10 und DSM-IV hinsichtlich der affektiven Störungen nicht mehr wesentlich. Die einzelnen diagnostischen Kriterien der beiden Systeme variieren geringfügig bezüglich zeitlicher Kriterien sowie der Auswahllisten der Symptome, die zwingend für eine bestimmte Diagnose vorliegen müssen.
Depressive Erkrankungen sind in ihrer Ausprägung und spezifischen Symptomatik derartig heterogen, dass es nicht möglich ist, sie hier kurz und griffig, quasi ‚ideal-typisch’ zu beschreiben. Die erweiterten Leitlinien der beiden Klassifikationssysteme und entsprechende Fallbücher geben aber eine gute Vorstellung
Epidemiologie
Für die Major Depression(nach ICD-10 „Depressive Episode“) berechneten Hans-Ulrich Wittchen und Frank Jacobi, beide vom Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden, für das Jahr 2005 eine 12-Monatsprävalenz[11] von 6,9%, bezogen auf die erwachsenen Durchschnittsbevölkerung(Alter 18-65 Jahre) in den Ländern der Europäischen Union. Die Lifetime-Daten[12] lassen auf ein Lebenszeitrisiko von mind. 14% schließen. In absoluten Zahlen heißt das, in Deutschland leiden pro Jahr etwa 5 bis 6 Millionen Menschen an einer Major Depression, im gesamten EU-Raum sind es ca. 20 Millionen. Hierbei ist zu beachten, dass Kinder und Jugendliche unter 18 und Personen über 65 Jahre sowie depressive Episoden im Rahmen bipolarer Erkrankungen in diesen Statistiken gar nicht berücksichtigt sind. Die Prävalenzschätzungen für die Dysthemie, also eine anhaltende, aber weniger schwere depressive Symptomatik, variieren im EU-Raum zwischen 0,8 und 4,5% (12-Monatsprävalenz)[13].
Vergleicht man eine Erhebung, die Wittchen 1992 für das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik West vorgelegt hat, mit einer neuen Erhebung von Jacobi aus dem Jahr 2004(Deutschland Gesamt), ergibt sich bezüglich der Major Depression eine Steigerung der Lifetimeprävalenz von 9 % auf 14,8 % sowie eine Steigerung der 6 bis 12-Monatsprävalenz von 3 % auf 8,3 %. Berücksichtigt man, dass ein unterschiedliches Forschungsdesign sich auch in den Ergebnissen niederschlagen kann, kann doch von einem deutlichen Anstieg ausgegangen werden.
Auch wenn an späterer Stelle eingehender auf die Geschlechterverteilung und ihre möglichen Ursachen eingegangen werden wird, sollen hier die wichtigsten Zahlen genannt werden. In allen Altersgruppen sind Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. So liegt im Bundesgesundheitssurvey 1998/99 die 12-Monatsprävalenz der MD bei Frauen bei 11,2 % gegenüber 5,5% bei Männern. Bei Erkrankungen mit rezidivierendem Verlauf liegt sie sogar bei 6,1 % gegenüber 2,0 %. Am stärksten betroffen sind Frauen in der Altersgruppe von 40-65 Jahren.
Bei der Mehrzahl der diagnostizierten Depressionen handelt es sich um episodische Erkrankungen mit einem rezidivierenden Verlauf. Nach Wittchen und Jacobi[14] erleben 60-70 % aller Betroffenen nach einer ersten depressiven Episode mindestens eine weitere. Im statistischen Mittel treten sechs rezidivierende Episoden über die gesamte Lebensdauer auf. Die Dauer der einzelnen Episoden kann jedoch sehr unterschiedlich sein. Bei 50 % der Betroffenen liegt sie unter 12 Wochen, bei 25 % beträgt sie 3-6 Monate und bei 22 % dauern sie länger als 12 Monate.
Weitere durchaus aussagekräftige Ergebnisse wurden auf der Basis von Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK), in der bundesweit ca. 1,4 Millionen Personen (entspricht etwa 1,7 % der Gesamtbevölkerung) versichert sind, ermittelt[15]. So stieg die Anzahl der Krankenhausaufenthalte mit der Hauptdiagnose Depression allein zwischen 2000 und 2004 um 39 %. Auch wenn es sich aufgrund der überwiegend ambulanten Behandlung depressiver Erkrankungen insgesamt um eine sehr niedrige Zahl handelt (Gesamt 2004: 0,15 % der Versicherten), so ist die Zunahme innerhalb dieses vergleichsweise sehr kurzen Erhebungszeitraumes doch auffällig. Ein weiterer Schlüssel liegt in der Auswertung der Verordnungen von Antidepressiva. Im Zeitraum von 1998 bis 2003 stieg die Behandlungsrate bei Männern von 2,08 % auf 2,98 %, und damit um 43 %. Bei Frauen stieg sie im selben Zeitraum von 4,91 % auf 7,01 % (ebenso 43 %). Da jedoch Antidepressiva der neuen Generation, sog. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), auch gegen andere psychische Erkrankungen (z.B. Angsterkrankungen) verordnet werden, lassen diese Zahlen keine quantitativ präzisen Rückschlüsse auf eine Zunahme depressiver Erkrankungen zu. Dass ein relevanter Anteil dennoch darauf zurückzuführen ist, liegt vor dem Hintergrund des gesamten Datenmaterials jedoch nah.
[...]
[1] Jacobi, Frank: Nehmen psychische Störungen (epidemisch) zu? (Handout zum Forschungskolloquium der TU-Chemnitz vom 16.01.2007)
[2] Ziel der 1992 von der Harvard School of Public Health, der WHO und der Weltbank ins Leben gerufenen Studie ist die Quantifizierung von Todesfällen, Krankheit, Behinderung und Risikofaktoren, aufgeteilt nach Regionen und Bevölkerungsgruppen.
[3] International Classification of mental and behavioural Disorders, von der WHO herausgegebenes Diagnosemanual für Erkrankungen.
[4] Vgl. Kühner, Christine, Frauen, in: Volkkrankheit Depression?, S.192
[5] Disability –adjusted Life Year(durch Behinderung beeinträchtigtes Lebensjahr). (Statistische) Maßeinheit für Lebensqualität
[6] Vgl. Stoppe, Bramesfeld, Schwarz: Volkskrankheit Depression? , S. 1
[7] BKK Bundesverband: Demographischer und wirtschaftlicher Wandel – gesundheitliche Folgen, 30. Ausgabe
[8] Bei Versicherten der deutschen Betriebskrankenkassen.
[9] Vgl. Brenner, Harvey: Arbeitslosigkeit, in: Volkskrankheit Depression?, S. 166
[10] Die Ätiologie spielt heute, im Unterschied zu früheren Versionen von ICD und DSM, bei der Diagnose keine Rolle mehr. Eine Unterteilung nach endogen, exogen und psychogen wird zwar häufig noch vorgenommen, ist aber vielmehr bei der Wahl der richtigen Therapiemethode von Belang.
[11] Anzahl der in den letzten 12 Monaten betroffenen Personen
[12] Bis zum Zeitpunkt der Erhebung jemals betroffene Personen
[13] Vgl. im Folgenden Wittchen/Jacobi: Epidemiologie, in: Volkskrankheit Depression?, S.18 -23
[14] Quelle: Bundesgesundheitssurvey 1998/99
[15] Vgl. im Folgenden Grobe, Bramesfeld, Schwarz: Versorgungsgeschehen, in: Volkskrankheit Depression?, S. 55-58
- Quote paper
- Daniel Stephan (Author), 2007, Die Zunahme depressiver Erkrankungen - eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive Sozialer Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75435
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