Unterrichtseinheit für Oberstufenkurse (Pädagogik, Soziologie, Politik), ausgelegt auf eine Doppelstunde (90 Minuten). Zunächst erfolgt eine didaktische Analyse nach W. Klafki. Im Anschluss daran wird die Unterrichtsplanung vorgestellt. Neben der Bestimmung der Lernziele (Grob- und Feinziele) wird ein kleinschrittiger Verlaufsplan aufgestellt. Die benötigten Unterrichtsmaterialien finden sich im Anhang.
Inhalt
1. Didaktische Analyse
1.1. Exemplarische Bedeutung
1.2. Gegenwartsbedeutung
1.3. Zukunftsbedeutung
1.4. Struktur des Inhalts
1.5. Unterrichtliche Zugänglichkeit
2. Verlaufsplanung
2.1. Lernzielbestimmung
2.2. Verlaufsplan
Anhang
Folie: PISA-Studie 2003
Handout: Auszug „Die intern Ausgegrenzten“, Glossar
Handout: Auszug „Die konservative Schule“, texterschließende Fragen
1. Didaktische Analyse
1.1. Exemplarische Bedeutung
Bourdieus Thesen zur „soziale[n] Chancenungleichheit gegenüber Schule und Kultur“[1][2] stehen exemplarisch für Theorien zur schulischen und familialen Sozialisation, für Auseinandersetzungen erziehungswissenschaftlicher Theorien zum Verhältnis von Anlage und Umwelt sowie für die Bedeutung von Sozialisationstheorien für professionelles pädagogisches Handeln - somit für Themen, die in diesem und im kommenden Semester behandelt werden sollen.
Anhand Bourdieus Verdikt, dass die „formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, [...] in Wirklichkeit zur Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in bezug auf den Unterricht und der im Unterricht [...] verlangten Kultur“[3] diene, lässt sich die besondere Bedeutung von Schule als Sozialisationsinstanz darstellen. Indem der Zusammenhang zwischen kulturellem Kapital, das „im rechten Augenblick und am richtigen Ort“ oder aber „zur Unzeit“[4] angelegt werden kann und der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem hergestellt wird, ist zugleich auf die Bedeutung und Funktion weiterer Sozialisationsinstanzen, hier in erster Linie die der Familie, verwiesen.
Der Befund, dass kulturell bedingte Ungleichheiten oft als „natürliche“ oder „angeborene“ erscheinen, verweist auf Auseinandersetzungen erziehungswissenschaftlicher Theorien zum Verhältnis von Anlage und Umwelt und steht ebenso exemplarisch für die Bedeutung von Sozialisationstheorien für professionelles pädagogisches Handeln.
Bei der unterrichtlichen Behandlung können zudem sozialwissenschaftliche Arbeitstechniken eingeübt werden, etwa der Umgang mit sozialwissenschaftlicher Fachliteratur, das Lesen und Interpretieren von Statistiken, die Arbeit in Kleingruppen und die Präsentation von Impulsreferaten, wie sie von den SchülerInnen im Verlaufe ihrer Ausbildung immer wieder gefordert werden.
Anhand Bourdieus Thesen kann des Weiteren exemplarisch demonstriert werden, welche Praxisrelevanz eine bestimmte soziologische Theorie im Blick auf eine bestimmte Fragestellung haben kann. Diese Einsicht soll die Interessenorientierung der SchülerInnen unterstützen und ihnen so zur Vorbereitung der in diesem Semster zu schreibenden Facharbeit dienen, in der eigene Fragestellungen unter Anwendung frei wählbarer Sozialisationstheorien bearbeitet werden sollen.
1.2. Gegenwartsbedeutung
Unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zum Thema ist festzuhalten, dass die SchülerInnen lediglich in Ansätzen mit Theorien zur Sozialisation vertraut sind. Während Bourdieus Konzept des Habitus einer Minderheit der SchülerInnen bereits aus anderen unterrichtlichen Zusammenhängen, etwa aus den Studienfächern Soziologie oder Psychologie, bekannt ist, sind Bourdieus Thesen zur Reproduktion sozialer Chancenungleichheit im Bildungssystem für die SchülerInnen neu.
Nahezu alle SchülerInnen werden sich jedoch im Verlauf ihrer Schulkarriere bereits mit Ungleichheiten im Bildungssystem auseinandergesetzt haben. Alle SchülerInnen waren darüber hinaus bereits persönlich von Selektionsprozessen im Bildungssystem betroffen.[5] Angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der SchülerInnen des Kurses aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, ist zu vermuten, dass sich ebenfalls ein Großteil der SchülerInnen bereits mit Fragen kultureller Unterschiede und daraus resultierender Ungleichheiten befasst haben wird. Ebenso werden die SchülerInnen (etwa angesichts der anhaltenden Debatte über die Reform des Oberstufenkollegs oder der guten Ergebnisse der benachbarten Laborschule in der PISA-Studie[6] ) gesellschaftliche Debatten über Ungleichheiten im Bildungssystem wahrgenommen haben.
Indem die SchülerInnen erkennen, dass sich der gesellschaftspolitische Diskurs grundsätzlich vom wissenschaftlichen unterscheidet, sollen sie zum einen eine wissenschaftliche Perspektive für Fragen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem sowie ein reflexives Verständnis für die „Kultur“ der Schule entwickeln. Dadurch, dass eine kritische Einstellung zu Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit und den Implikationen kultureller Unterschiede schlechthin gefördert wird, sollen sie zum anderen befähigt werden, im alltäglichen Handeln Prozessen der Perpetuierung von Ungleichheiten entgegenwirken zu können.
1.3. Zukunftsbedeutung
Die Fähigkeit, so „objektiv und kenntnisreich wie möglich“[7] zu Fragen gesellschaftlicher Ungleichheiten Stellung nehmen zu können, ist ein wichtiger Bestandteil wohlverstandener Allgemeinbildung. Durch die Einsicht in den Zusammenhang von kulturellen Unterschieden und Prozessen der Legitimation und Perpetuierung sozialer Ungleichheit soll den SchülerInnen ermöglicht werden, ein reflexives Bewusstsein für den eigenen „Habitus“, für die eigene Kultur vor dem Hintergrund der „anderen“ zu entwickeln, um so ihre Handlungskompetenz in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft zu fördern.
1.4. Struktur des Inhalts
Die einzelnen Momente des Inhaltes in ihrem Zusammenhang:
- seit den 50er Jahren ist es zu einer zunehmenden Öffnung und Diversifizierung des Bildungswesens gekommen
- hierdurch kam es nach Bourdieu zu dem Phänomen der Entwertung der Titel, einhergehend mit
- der steigenden Bedeutung kulturellen Kapitals im Bildungssystem, welches
- tendenziell als „natürliche Begabung“[8] der Mitglieder der kulturellen Elite erscheint und vorausgesetzt wird, wobei
- ignoriert wird, dass das kulturelle Kapital von den „Benachteiligten“ mühsam erworben werden muss, so dass es, forciert durch „immer frühzeitigere Beratungs- und Selektionsprozeduren“[9]
- zu der Einführung „nicht fühlbare[r] Ausgrenzungspraktiken“[10] kommt und
- dem Bildungssystem „das Kunststück gelingt, den Anschein der Demokratisierung mit der Wirklichkeit der Reproduktion“[11] sozialer Ungleichheit zu vereinen
Der Wirkungszusammenhang der einzelnen Momente gibt zugleich die didaktische Folge für den Unterricht vor.
[...]
[1] Ich folge den fünf Fragen der didaktischen Analyse nach Wolfgang Klafki. Vgl.: Wilhelm H. Peterßen: Handbuch Unterrichtsplanung. Grundfragen, Modelle, Stufen, Dimensionen. 4. Aufl., München 1991, S. 48-53. Im folgenden zitiert als: Peterßen.
[2] Pierre Bourdieu: Die konservative Schule. Die soziale Chancenungleichheit gegenüber Schule und Kultur (1966). In: Ders.: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg 2001 (= Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 4), S. 25-52. Im Folgenden zitiert als: Bourdieu: Konservative Schule.
[3] Ebd., S. 39.
[4] Pierre Bourdieu: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, S. 531. Im Folgenden zitiert als: Bourdieu: Elend.
[5] Rein formal trifft diese Aussage bereits aufgrund der Tatsache zu, dass der Aufnahme auf das Oberstufenkolleg ein Bewerbungsverfahren vorausgeht. Dass ein Großteil der SchülerInnen jedoch bereits vor dem Eintritt in das Oberstufenkolleg von Selektionsprozessen betroffen war, lässt sich beispielsweise an der Tatsache verdeutlichen, dass 40% der SchülerInnen keinen qualifizierten Realschulabschluss vorweisen können.
[6] Ulrich Trautwein, Petra Stanat, Rainer Watermann, Stefan Krauss, Martin
Brunner: Was die Schule von der Polis lernen kann. In: Frankfurter Rundschau, 14.11.02.
[7] Ingrid Geiser, zitiert nach: Peterßen, S. 50.
[8] Bourdieu: Konservative Schule, S. 41.
[9] Bourdieu: Elend, S. 530
[10] Ebd.
[11] Ebd., S. 531.
- Quote paper
- Florian Beer (Author), 2006, Die Sozialisationstheorie im Unterricht. Die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem nach Pierre Bourdieu, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74332
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