Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit
Kommunikation ist lebensnotwendig. Viele Menschen mit autistischer Störung verfügen jedoch nicht über ausreichende kommunikative Kompetenzen, um ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck bringen zu können.
Die von einer Kommunikationsstörung betroffenen Menschen werden nicht selten in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschätzt und von der Gesellschaft diskriminiert. Als Konsequenz können Ängste, Trauer und ein vermindertes Selbstbewußtsein bei den autistischen Menschen aufkommen. Es ist somit dringend nötig, dieser Klientel geeignete kommunikationsfördernde Angebote zu offerieren.
Die vorliegende Examensarbeit befaßt sich schwerpunktmäßig mit der Methode der Gestützten Kommunikation, die ein solches Angebot darstellt. Diese lautsprachersetzende Kommunikationsmethode, die besonders bei autistischen Menschen erfolgreich zu sein scheint, sorgt in Fachkreisen immer wieder für Diskussionsstoff. In der Sonder- und Heilpädagogik wird heftig debattiert, ob es legitim ist, eine Methode zur Kommunikationsförderung einzusetzen, die wissenschaftlich nicht eindeutig abgesichert ist.
In dieser Arbeit möchte ich die Methode der Gestützten Kommunikation detaillierter betrachten und ihre Funktion und Wirkung verdeutlichen, um möglichst folgende Frage beantworten zu können:
Gestützte Kommunikation - Ein neuer Weg zur Öffnung der Welt für Menschen mit autistischer Behinderung?
Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, ob die Gestützte Kommunikation für nichtsprechende autistische Menschen eine adäquate Kommunikationsmöglichkeit darstellt. Um hierauf eine entsprechende Antwort geben zu können, bedarf es zunächst einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Autismussyndrom.
Kapitel 2 stellt daher zunächst Phänomenologie und Ätiologie dieser Behinderung vor, da es meiner Meinung nach unumgänglich ist, die signifikanten Merkmale der Behinderung zu kennen, um die Notwendigkeit einer Kommunikationshilfe nachvollziehen zu können.
In Kapitel 3 werden dann ansatzweise die Grundlagen der Kommunikation erörtert, verschiedene Kommunikationsformen und -ebenen aufgezeigt und der Wert von Kommunikation für das Individuum verdeutlicht.
n Kapitel 4 werde ich eingehend das Verfahren der Gestützten Kommunikation sowie die Probleme, die auftreten können, vorstellen, eine Abgrenzung zur Unterstützen Kommunikation ziehen und persönliche Erfahrungsberichte von Autisten berücksichtigen.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit 5
2. Das Autismussyndrom in seiner historischen Entstehung – zur Phänomenologie und Ätiologie
2.1. Begriffliche Erklärung
2.2. Der frühkindliche Autismus nach Kanner
2.3. Die autistische Psychopathie nach Asperger
2.4. Abgrenzung von Kanner zu Asperger
2.5. Das Autismussyndrom nach der ICD
2.5.1. Der frühkindliche Autismus nach der ICD-10
2.5.2 Die autistische Psychopathie nach der ICD-10
2.6. Hypothesen zur Ätiologie des Autismussyndroms
2.6.1. Genetische Ursachen
2.6.2. Hirnorganische Erklärungsansätze
2.6.3. Biochemische Indikatoren
2.6.4. Soziale Einflußfaktoren
2.6.5 Störungen im affektiven Kontakt
3. Kommunikation als Ausgestaltungsfaktor zwischenmenschlicher Begegnungsqualität
3.1. Zum Begriff Kommunikation
3.2. Die Bedeutung der Kommunikation für die Persönlichkeitsentfaltung des Individuums
3.3. Formen der Kommunikation
3.3.1. Verbale Kommunikation
3.3.2 Nonverbale Kommunikation
3.4 Die Kommunikationsebenen
4. Gestützte Kommunikation – Ein kommunikativ- innovatorischer Weg für Menschen mit autistischen Lebenserschwernissen in zwischenmenschlichen Begegnungsfeldern
4.1. Autismus als eine schwere Kommunikationsbehinderung
4.2. Gestützte Kommunikation – Ein innovatorischer Weg?
4.3. Abgrenzung zur Unterstützten Kommunikation
4.4. Klientel der Gestützten Kommunikation
4.5. Zielsetzung der Gestützten Kommunikation
4.6. Problembereiche bei der Anwendung von Gestützter Kommunikation
4.6.1. Mißverständnisse, Fehl- und Überinterpretationen
4.6.2. Wortfindungsprobleme
4.6.3. Zeitaufwand
4.6.4 Sonstige Problembereiche
4.7 Erfahrungsberichte der Klientel im Bezug auf den Umgang mit der Gestützten Kommunikation
5. Kontroverse Diskussion um Gestützte Kommunikation
5.1. Stützereinfluß bei Gestützter Kommunikation 84
5.2. Quantitativ-experimentelle Studien 87
5.3. Qualitative Studien 92
5.4. Versuch einer eigenen kritischen Stellungnahme zur Gestützten Kommunikation 94
5.5 Vorschläge und Forderungen zur verbesserten Ausgestaltung von Kommunikationsprozessen mit autistischen Kindern und Jugendlichen im schulischen und außerschulischen Bereich – thesenhaft formuliert 99
6. Literaturliste
7. Anhang
7.1. Verschiedene Möglichkeiten der körperlichen Stütze
7.2. Beispiel für eine Symboltafel
7.3. Beispiel für eine Kommunikationstafel mit „Ganzwörtern“
1.Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit
Kommunikation ist lebensnotwendig. Viele Menschen mit autistischer Störung verfügen jedoch nicht über ausreichende kommunikative Kompetenzen, um ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck bringen zu können.
Die von einer Kommunikationsstörung betroffenen Menschen werden nicht selten in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschätzt und von der Gesellschaft diskriminiert. Als Konsequenz können Ängste, Trauer und ein vermindertes Selbstbewußtsein bei den autistischen Menschen aufkommen. Es ist somit dringend nötig, dieser Klientel geeignete kommunikationsfördernde Angebote zu offerieren.
Die vorliegende Examensarbeit befaßt sich schwerpunktmäßig mit der Methode der Gestützten Kommunikation, die ein solches Angebot darstellt. Diese lautsprachersetzende Kommunikationsmethode, die besonders bei autistischen Menschen erfolgreich zu sein scheint, sorgt in Fachkreisen immer wieder für Diskussionsstoff. In der Sonder- und Heilpädagogik wird heftig debattiert, ob es legitim ist, eine Methode zur Kommunikationsförderung einzusetzen, die wissenschaftlich nicht eindeutig abgesichert ist.
In dieser Arbeit möchte ich die Methode der Gestützten Kommunikation detaillierter betrachten und ihre Funktion und Wirkung verdeutlichen, um möglichst folgende Frage beantworten zu können:
Gestützte Kommunikation – Ein neuer Weg zur Öffnung der Welt für Menschen mit autistischer Behinderung?
Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, ob die Gestützte Kommunikation für nichtsprechende autistische Menschen eine adäquate Kommunikationsmöglichkeit darstellt. Um hierauf eine entsprechende Antwort geben zu können, bedarf es zunächst einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Autismussyndrom.
Kapitel 2 stellt daher zunächst Phänomenologie und Ätiologie dieser Behinderung vor, da es meiner Meinung nach unumgänglich ist, die signifikanten Merkmale der Behinderung zu kennen, um die Notwendigkeit einer Kommunikationshilfe nachvollziehen zu können.
In Kapitel 3 werden dann ansatzweise die Grundlagen der Kommunikation erörtert, verschiedene Kommunikationsformen und –ebenen aufgezeigt und der Wert von Kommunikation für das Individuum verdeutlicht .
In Kapitel 4 werde ich eingehend das Verfahren der Gestützten Kommunikation sowie die Probleme, die auftreten können, vorstellen, eine Abgrenzung zur Unterstützen Kommunikation ziehen und persönliche Erfahrungsberichte von Autisten berücksichtigen. Formal möchte ich hier noch anmerken, daß viele Autisten, die sich über Gestützte Kommunikation äußern, beim Schreiben ausschließlich nur Kleinbuchstaben verwenden, da bei der Methode in der Regel nur mit einem Finger getippt wird. Um nichts zu verfälschen, werde ich diese Schreibweise in meiner Arbeit beibehalten und Zitate originalgetreu übernehmen.
Kapitel 5 thematisiert schließlich die kontroverse Diskussion, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch um die Gestützte Kommunikation geführt wird. Die mögliche Einflußnahme des jeweiligen Stützers wird hier ebenso angesprochen, wie die grundlegend unterschiedlichen Testverfahren, die von Gegnern und Befürwortern des Verfahrens benutzt werden, um die Validität des Verfahrens zu bestätigen bzw. zu widerlegen.
Die Examensarbeit schließt mit einer eigenen kritischen Stellungnahme zum Thema, sowie Vorschlägen und Forderungen zur Verbesserung von Kommunikationsprozessen bei autistischen Kindern und Jugendlichen.
Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, daß ich in meiner Arbeit im Hinblick auf den Lesefluß des Textes nur die männliche Sprachform verwenden werde. Dies stellt keine Bevorzugung dar, sondern dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit.
2. Das Autismussyndrom in seiner historischen Entstehung – zur Phänomenologie und Ätiologie
2.1. Begriffliche Erklärung
Im historischen Rückblick gab es immer wieder Menschen, die mit ihrem sonderbaren, scheuen Verhalten für Verwunderung, Unverständnis und schließlich auch Ablehnung in der Gesellschaft sorgten. Oft wurden solche Menschen bereits im Kindesalter sich selbst überlassen und lebten am Rande der Gesellschaft ganz auf sich allein gestellt. Die Bezeichnung „wilde Kinder“, „verwilderte Kinder“ oder „Wolfskinder“ für die Kinder, die angeblich mit wilden Tieren zusammenlebten, wurde dadurch geprägt. Bekannteste Beispiele sind „der wilde Junge von Aveyron“ der im Jahr 1799 unbekleidet und verwahrlost in einem Wald gefunden und später von dem Arzt JEAN-MARC-GASPARD ITARD aufgenommen wurde und KASPAR HAUSER, der in den Jahren 1816 bis 1828 völlig isoliert in einem dunklen Raum aufwuchs (vgl. Schor/Schweiggert 1999, S.13).
Diese Kinder litten meist unter schweren Kontakt- und Sprachstörungen und wiesen schwere Verhaltensauffälligkeiten auf. Viele Autoren glauben, daß diese „Wolfskinder“ in Wirklichkeit Autisten waren. „Doch je detaillierter diese Berichte sind, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, daß diese Kinder autistisch gewesen sind“ (Bettelheim 1977, S.450).
Ob solche Kinder nun tatsächlich an einer autistischen Behinderung litten oder vielmehr durch die oftmals sehr harten sozialen Bedingungen der damaligen Gesellschaftsstruktur einfach überfordert und vernachlässigt waren und erst dadurch verhaltensauffällig wurden, bleibt bis heute natürlich Spekulation (vgl. Schorr/Schweiggert 1999, S.13).
Nicht zu leugnen ist dagegen, daß viele der beschriebenen Symptome bei diesen Kinder konform sind mit denen von heutigen als Autisten definierten Kindern. BETTELHEIM bezeichnet Autisten bereits 1967 als „Fremdlinge des Lebens“ (ebda. 1977, S. 64).
Der Begriff Autismus (autos = griechisch selbst, auf sich selbst bezogen) wurde erstmalig im Jahre 1911 von dem Schweizer Psychiater EUGEN BLEULER geprägt und als medizinischer Fachbegriff den schizophrenen Erkrankungen zugeordnet. Er beschrieb damit das Verhalten von Menschen mit schizophrener Erkrankung „sich in eine gedankliche Binnenwelt zurückzuziehen“ (Remschmidt 2000, S. 9). E. BLEULER charakterisierte damit Störungen im Realitätsbezug, die sich durch Kontaktabwehr- und Rückzugstendenzen offenbarten. Auch sein Sohn MANFRED BLEULER schrieb in der 8. Auflage des Lehrbuchs der Psychiatrie: „die Schizophrenen verlieren den Kontakt mit der Wirklichkeit“ (M. Bleuler 1949, S.284).
Im Jahre 1943 beschrieb der Kinderpsychiater LEO KANNER von der Psychiatrischen Kinderklinik der John-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland/USA) anhand von 11 Fallschilderungen das Krankheitsbild als „autistische Störung des affektiven Kontaktes“, welches er in folgenden Veröffentlichungen als „early infantile autism“ (Frühkindlicher Autismus) benannte.
Im gleichen Jahr veröffentlichte auch der österreichische Kinderarzt HANS ASPERGER ohne Wissen von KANNERS Arbeit seine Habilitationsschrift über die „autistische Psychopathie“, die für ihn in einer „Abnormität der Persönlichkeit“ (Aarons/Gittens 2000, S.22) bestand.
Sowohl KANNER als auch ASPERGER stellen bei ihren Probanden als Hauptkriterium schwere Kontaktstörungen zu ihrer Umwelt fest (vgl. Feuser 1979, S. 61). Mit diesen beiden Veröffentlichungen wird erstmals das Syndrom Autismus, vormals als Krankheit, heute unter dem Begriff Behinderung näher definiert.
Nach dem 2. Weltkrieg werden alsbald neue Schriften zum Autismus von unterschiedlichen Autoren veröffentlicht. Mit dem Anwachsen der Literatur zum Thema entstand schnell eine kaum noch zu überblickende Begriffsverwirrung. Allein ELISABETH EICHEL nennt hierfür mehrere Beispiele. Benutzt werden gegenwärtig die Begriffe: „Autismus, autistische Störung, autistisches Syndrom, frühkindlicher Autismus, Kanner-Syndrom (=Kanner-Autisten), autistische Psychopathie (=Asperger-Autisten), tiefgreifende Entwicklungsstörung“ sowie „kindliche Psychose“ und „psychogener Autismus“ (vgl. Eichel 1996, S.3f). Weiterhin unterscheidet man die Begriffe „schizoide Persönlichkeitsstörung des Kindesalters“ (=autistische Psychopathie) sowie „autistische Züge“.
Viele dieser Begriffe werden von den Autoren synonym verwendet. Bei Verwendung jeglicher Bezeichnungen für das Phänomen Autismus, muß jedoch immer im Hinterkopf bleiben, das es kein einheitliches bzw. eindeutiges Charakteristikum gibt, was dem „typischen Autisten“ gerecht werden kann. Es gibt ihn nicht den „typischen Autisten“. Grenzfälle und schleichende Übergänge zu anderen Behinderungen finden sich häufig (vgl. Dalferth 1995, S. 22).
Weit gehende Einigkeit besteht heute darin, daß das Autismussyndrom eine Mischung verschiedener Verhaltensauffälligkeiten ist, die jedoch mit charakteristischen Kernsymptomen, wie z.B. der mangelnden sozialen Kontaktaufnahme einhergeht. Die Definition von Syndrom meint immer „das Zusammentreffen mehrerer Symptome“ (Schor/Schweiggert 1999, S.21). Signifikante Symptome von Autismus bestehen vor allem in der veränderten sensorischen Wahrnehmung, im personalen und sozialen Handeln, in der Motorik und in der Sprache (vgl. ebda. S.23-24).
Der frühkindliche und der Asperger-Autismus werden heute laut der ICD-10 (International Classification of Diseases) den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen untergeordnet, welche im Kapitel 2.5. nochmals ausführlicher dargestellt werden.
2.2. Der frühkindliche Autismus nach Kanner
LEO KANNER ordnete, noch in Anlehnung an BLEULER, den frühkindlichen Autismus den Psychosen zu.
Ein wichtiges Kriterium der Diagnose, das dann auch bei der Namensgebung der Behinderung seinen Einfluß fand, sah er darin, daß die ersten Symptome bei allen Kindern durchweg vor dem dritten Lebensjahr auftauchten.
KANNER unterschied bei der Klassifikation zwei Grund- bzw. Kardinalsymptome. Zum einen die „extreme autistische Abkapselung aus der menschlichen Umwelt“ und zum anderen „ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt“ (vgl. Fischer 1965, S. 161f; nach Feuser 1979, S. 64).
Diese Verhaltensmerkmale müssen zwangsläufig vorhanden sein, um die Diagnose zu bestätigen.
Die extreme autistische Abkapselung aus der menschlichen Umwelt gilt als erstes beobachtbares Symptom des frühkindlichen Autismus. Es zeigt sich bereits deutlich im ersten Lebensjahr des Kindes durch das „Ausbleiben einer Lächelreaktion“ und der „Antizipationshaltung“ in Form von Ausstreckung der Hände des Säuglings, um hochgehoben zu werden. Hier zeigt sich bereits deutlich die von KANNER (1943) formulierte „Störung des affektiven Kontaktes“.
Eindeutig diagnostizierbar ist die Behinderung hier jedoch noch nicht, weil das zweite Kardinalsymptom - das zwanghafte Bedürfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt – frühestens mit Beginn des zweiten Lebensjahres beobachtet werden kann. Die besonderen Verhaltensauffälligkeiten im ersten Lebensjahr können hier nur rückwirkend mit Auftreten weiterer, nachfolgender Symptome berücksichtigt werden und erlangen dann erst Bedeutung für die Diagnose (vgl. Feuser 1979, S. 64). Das zweite Kardinalsymptom wird auch als Veränderungsangst bezeichnet.
Hiermit ist die große Furcht des Kindes vor jeglicher Veränderung der Umwelt gemeint. Jede Modifikation des vertrauten Milieus kann das autistische Kind massiv erschüttern. Schwere anfallsartige Ausbrüche können folgen, Schrei- und Panikattacken, Wutausbrüche, Aggressionen gegen sich selbst und andere Menschen. Der zwanghafte Drang nach Gleicherhaltung kann schon durch kleinste, für andere Menschen völlig unbedeutende Dinge, wie z.B. eine Vase, die nicht mehr an ihrem angestammten Platz steht, gestört werden. Dieses typische Symptom von Autismus ist nur schwer zu durchbrechen. FEUSER berichtet über „die Veränderungsangst [...], die nach unserer Erfahrung bei einer extremen Ausprägung des Autismus-Syndroms auch sehr lange bestehen bleiben kann“ (ebda. S.65).
KURT JACOBS beschreibt die Welt des autistischen Kindes als „statische Welt, in der keine Veränderung geduldet wird“ (Jacobs 1985, S.16), KANNER selbst spricht von „Security in Sameness“ (Sicherheit in der Selbigkeit).
Kanner hat den beiden Kardinalsymptomen vier Sekundärsymptome untergeordnet. Zuerst benennt er hier die schwere Entwicklungsstörung der Sprache.
Nach HANS E. KEHRER sind „etwa 40% der autistischen Kinder mutistisch“ (Kehrer 1989, S. 35), verfügen also nicht über eine aktive Verbalsprache. Die übrigen 60% zeigen fast ausschließlich Auffälligkeiten in der Sprache bzw. Sprachstörungen. Bemerkenswert ist es auch, daß sich die Sprache in den ersten ein bis zwei Lebensjahren durchaus normal entwickeln kann und es erst danach zu Sprachstörungen bzw. Mutismus kommt.
Wenn die Kinder sprechen gelernt haben, dann ist es charakteristisch, daß Sprache häufig nicht kommunikativ verwendet wird. Ein Indikator hierfür ist die Echolalie. Autistische Kinder wiederholen Worte oder auch Sätze, die zu ihnen gesprochen werden. Besonders die Endsilben oder –worte eines Satzes, werden häufig ohne sinnvollen Bezug repetiert. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn eine Mutter ihr autistisches Kind fragt: „Möchtest Du etwas trinken?“ und das Kind dann wiederholt „trinken“, ohne dies als bejahende Antwort der Mutter gegenüber zu äußern. Hier entstehen leicht Mißverständnisse. Beachtet werden sollte jedoch, daß dieses Phänomen für kurze Zeit in jeder normalen Sprachentwicklung auftritt da die Imitation eine Grundvoraussetzung des Spracherwerbes ist.
Auch die verzögerte Echolalie tritt auf, wenn das Kind Worte, Sätze oder teils Liedstrophen plötzlich aufsagt, die teils Wochen zurück ausgesprochen bzw. gesungen wurden.
Eine weitere Eigentümlichkeit des Autismus ist die „pronominale Umkehr“. Das autistische Kind vertauscht „Ich“ mit „du“. Auf die gleiche Frage, die die Mutter oben im Text gestellt hat, würde das Kind bei Bejahung des Trinkwunsches also sagen „Du willst etwas trinken“. Das Kind spricht also von sich selbst in der zweiten und dritten Person, während der Gesprächspartner mit der ersten Person angeredet wird (vgl. Feuser 1979, S. 67).
BETTELHEIM deutet dies noch als „Verleugnung des Selbstseins“ (ebda. 1977, S. 561), während KEHRER von einem „linguistischen Phänomen“ spricht, da „die gesamte Sprachentwicklung [...] meistens gestört“ ist (ebda. 1989, S. 36). CHRISTIAN KLICPERA und PAUL INNERHOFER deuten die pronominale Umkehr dagegen als „nicht vollzogenen Rollenwechsel“. Die Kinder nutzen „die Verwendung des Pronomens als Ersatz für den Namen“ (ebda. 1999, S.90).
Weitere sprachliche Besonderheiten sind Wortneubildungen, Neologismen (Erfinden neuer Worte) und das in der Regel frühere Erlernen des Wortes „nein“ gegenüber „ja“.
Insgesamt ist die Sprache von Menschen mit autistischer Behinderung, oft seltsam monoton, abgehackt und auch formal und inhaltlich abnorm. Meist fehlt auch die Begleitgestik.
Zweites Sekundärsymptom ist laut KANNER „das positive Verhältnis zu Objekten“. Damit gemeint ist eine meist sehr starke Fixierung des Kindes auf ein oder mehrere spezielle Objekte. MARIA KAMINSKI gibt als Beispiel an: „besonders im Kleinkindalter sind sie oft an ungewöhnliche, typischerweise nicht weiche Sachen gebunden (z.B. eine Kerze, einen Schlüssel, etc) (ebda. 2000, S.5). FEUSER spricht davon, „daß die Kinder in ihrem Verhältnis zu Objekten eine breite Skala von Affekten wie Unlust, Zorn, Freude, Angst und Befriedigung zeigen, die sie im Hinblick auf Personen vermissen lassen“(ebda. 1979, S. 67). Auch die Hinwendung zu anderen Menschen besteht hauptsächlich in Sonderinteressen an bestimmten Körperteilen oder Kleidungsstücken, wie z.B. Händen, Bärten oder Brillen. Autistische Kinder benutzen andere Menschen auch häufiger als eine Art Werkzeug. Sie führen dann beispielsweise die Hand des Erwachsenen zu einer Tür, um diese zu öffnen. TINBERGEN/TINBERGEN sprechen davon, daß Autisten den Erwachsenen als „Fernsteuerung“ zu benutzen scheinen (Tinbergen/Tinbergen 1984, S. 37).
Die beiden übrigen Sekundärsymptome liegen in der Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten und den Besonderheiten in motorischen Bewegungen.
KANNER hat herausgefunden, daß viele autistische Kinder in einigen Bereichen stärker behindert sind als in anderen, wo sie nahezu normale oder gar überdurchschnittliche kognitive Leistungen zeigen (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S. 32). Diese als Sonderleistungen oder Leistungsinseln bezeichneten Fähigkeiten kommen häufiger bei Autisten vor, deren Intelligenz im Bereich der Norm oder Lernbehinderung liegt. Sonderleistungen liegen überdurchschnittlich häufig in der Bereichen Musik, Mathematik oder allgemein im Auswendiglernen von individuell interessanten Themen- oder Interessensgebieten (z.B. Dinosaurier, Telephonbuch, Lexikon). KEHRER nennt als Beispiel ein autistisches Mädchen, das bereits mit 7 Monaten eine „Arie aus dem Rigoletto“ summen konnte und mit 3 Jahren Klavier spielen lernte. Erst mit 19 Jahren lernte dieses Mädchen sprechen und hatte einen nachgewiesenen Intelligenzquotienten von 73 (vgl. Kehrer 1989, S. 40).
Allgemein kann man sagen, daß das kognitive Spektrum der autistischen Störung von schwerer geistiger Behinderung bis zur Normalität mit partiellen Leistungsspitzen reicht. KANNER führte die Störung der Intelligenz auf die affektive Kontaktvermeidung zurück (vgl. Feuser 1979, S. 68).
Viertes von KANNER den Kardinalsymptomen untergeordnetes Sekundärsymptom betrifft schließlich die Auffälligkeit der motorischen Bewegungen.
Hier sind die stereotypen Bewegungen am augenscheinlich deutlichsten wahrzunehmen .
Autistische Kinder haben, wie schon erwähnt, großes Interesse an bestimmten Objekten. Im Umgang mit diesen legen sie oft eine erstaunliche motorische Geschicklichkeit zu Tage. Sie drehen und wenden Bauklötze, Ringe, oder andere Spielzeuge zwischen ihren Fingern, das auch oft stundenlang. Sie wedeln, fächeln oder rascheln mit Bindfäden, Papier oder auch nur mit den eigenen Fingern vor ihrem Gesicht. Weiterhin typisch ist das wiederholte Vor- und Zurückschwanken des Oberkörpers, das seitliche schaukeln von einem auf das andere Bein oder das immerwährende Drehen des Kopfes.
Die von KANNER aufgestellten diagnostischen Kriterien zum Phänomen des frühkindlichen Autismus sind auch in der heutigen Zeit noch evident, wenn auch teilweise eine durch Fortschritte in der Medizin bedingte Aktualisierung und Neubewertung der Kenntnisse nötig geworden ist. Mehr dazu im Kapitel 2.5.
2.3. Die autistische Psychopathie nach Asperger
HANS ASPERGER, der Wiener Pädiater, veröffentlichte im Jahre 1943 - durch die Wirren des 2. Weltkrieges ohne Kenntnisse der Forschungen KANNERS - seine Studie über autistische Phänomene im Kindesalter. Auch ASPERGER nutzte den in der Psychopathologie der Erwachsenen erstmalig auftauchenden Begriff „Autismus“ für die Beschreibung seiner Probanden. Er bezeichnete das Krankheitsbild als „autistische Psychopathie“.
Für die autistische Psychopathie ist es charakteristisch, daß sie erst nach dem 3. Lebensjahr diagnostiziert wird, weil die betroffenen Kinder dann erst auffällig werden. Auch ASPERGER sieht bei den Kindern eine „Tendenz zur Abkapselung und Selbstisolierung“ (Feuser 1979, S. 70). Betroffene Kinder scheuen den Umgang und näheren Kontakt mit anderen Menschen. Sie wirken zudem oft abwesend und in sich versunken.
Ein wichtiges Merkmal, der autistischen Psychopathie liegt im häufig sehr frühen Spracherwerb, der nicht selten noch vor dem Laufen lernen erfolgt (vgl. ebda. S.70). Die Sprache selbst ist grammatikalisch ausgefeilt und wird auch kommunikativ eingesetzt. Jedoch ist sie „begleitet von einer monotonen, leiernden und theatralisch überspitzten Sprechweise“ (ebda. S.71). Sie wirkt dadurch sehr eigentümlich.
Autisten nach ASPERGER sind häufiger durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent, es gibt aber auch hier Formen mit leichterer geistiger Behinderung.
Auch die motorischen Bewegungsabläufe wirken zuweilen unkoordiniert und hölzern. Die Feinmotorik, etwa beim Ankleiden, ist gestört. Auch stereotype Verhaltensweisen sind Bestandteil der autistischen Psychopathie. Das „Sammeln“ und „Ordnen“ von unterschiedlichsten Dingen gilt hierbei als Bestandteil von teils stark ausgeprägten Spezialinteressen (vgl. ebda. S. 71). Hierbei ist vielfach auch ein hohes Maß an Kenntnissen über das Thema vorhanden.
Auch die Gefühlswelt der Kinder scheint nach ASPERGER gestört zu sein, da er sie als „ausgesprochen disharmonisch“ bezeichnet (vgl. Asperger 1968, S.191; zit. nach Feuser 1979, S.71). Hypersensibilität steht Unempfindlichkeit in Beziehungen und Kontakten gegenüber.
ASPERGER verleiht seiner Klientel sogar eine „gewisse aggressive Boshaftigkeit“, die darin begründet ist, „ daß sie z.B. Schwächen von Familienmitgliedern in sehr zutreffenden Äußerungen gezielt charakterisieren und auch vor anderen entlarven, was bis in sadistische Züge hineinreicht“ (Feuser 1979, S. 71).
2.4 Abgrenzung von KANNER zu ASPERGER
In diesem Kapitel soll nun noch einmal eine deutlichere Abgrenzung der beiden Autismusformen, die sich ja in vielen Symptomen ähneln oder gar gleichen, aufgezeigt werden.
KANNER und ASPERGER beschrieben nahezu zeitgleich und voneinander unbeeinflußt autistische Verhaltensmerkmale bei Kindern. Beide Autoren berichteten von Kindern, die Auffälligkeiten im sozialen Kontakt, der Sprache und den kognitiven Fähigkeiten aufwiesen. Nach ihrer Meinung mußte es sich um ein eigenes Krankheitsbild handeln (vgl. Dalferth 1995, S. 49).
Der Vergleich, der in den vorangegangenen zwei Unterkapiteln dargestellten Dispositionen des frühkindlichen Autismus gegenüber der autistischen Psychopathie scheint in erster Linie einen Unterschied in der verbalen Intelligenz aufzuzeigen. Asperger-Autisten lernen häufig sprechen, bevor sie laufen können. Autisten nach KANNER scheinen dagegen in den ersten zwei Lebensjahren eine relativ normale Entwicklung zu durchlaufen, oft auch mit normaler Sprachanbahnung, die jedoch nach einiger Zeit rückläufig ist und dann oft völlig stagniert bzw. zur vollkommenen Sprachlosigkeit führt. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal der beiden Behinderungen ist also der frühestmögliche Zeitpunkt, der für eine angemessene Diagnose in Betracht gezogen werden kann. Bei KANNER zeigen die Kinder vor dem 30. Lebensmonat autistische Auffälligkeiten, bei ASPERGER dagegen erst nach dem 3. Lebensjahr.
Die meisten Asperger-Autisten können dann auch mit Beginn der Adoleszenz sprechen, während etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Kinder mit frühkindlichem Autismus mutistisch bleibt. Gemeinsam ist den beiden Behinderungsformen der ungewöhnlich monoton und hölzern, teils aber auch schrill und bizarr wirkende Ausdruck der Sprache.
ASPERGER selbst hat sich nicht sehr eingehend mit den Differenzen und Gemeinsamkeiten der beiden Autismus-Formen beschäftigt. Er betonte jedoch bei der autistischen Psychopathie „die bessere Begabung, vor allem im sprachlichen Bereich“ und die allgemein „stärkere Beeinträchtigung bei Kindern mit frühkindlichem Autismus“ (Klicpera/Innerhofer 1999, S. 232).
KANNER und ASPERGER haben sich jeweils auch um die Ätiologie der von ihnen beschriebenen Krankheitsbilder bemüht. ASPERGER war davon überzeugt, daß die autistische Psychopathie auf endogene Faktoren zurückzuführen sei, also erblich ist (vgl. Dalferth 1999, S. 53). Er schreibt: „ Bei keinem anderen Typus von Psychopathen läßt sich so überzeugend wie hier zeigen, daß der Zustand konstitutionell verankert und daß er erbbedingt ist “ (Asperger 1968, S. 197; zit. nach Feuser 1979, S. 73). Das die autistischen Merkmale bei den Kindern erst ab dem dritten Lebensjahr auftreten, begründet ASPERGER damit, daß dann erst das Gehirn richtig ausgebildet sei. Auch die Tatsache, daß fast ausschließlich männliche Kinder betroffen sind, läßt ASPERGER für diese These sprechen. Auffällig war auch, daß die Mehrzahl der untersuchten Kinder Väter hatten die der Intellektuellenschicht angehörig waren. ASPERGER schrieb: „ In den meisten Fällen hat der Vater, wenn er es ist, der dem Kind die psychopathischen Wesenzüge vererbt hat, einen intellektuellen Beruf. In vielen Fällen sind die Voreltern dieser Kinder seit mehrerer Generationen schon Intellektuelle“ (Asperger 1956, S. 185; zit. nach Dalferth 1995, S. 57). Damit entspricht er voll und ganz den Studien von KANNER, der ebenfalls überwiegend Kinder aus Intellektuellenfamilien als frühkindliche Autisten diagnostizierte (vgl. Feuser 1979, S. 75). Im Gegensatz zu ASPERGER, der die überdurchschnittliche Zahl von akademischen Berufen der Eltern als Beweis für die Heredität der autistischen Psychopathie anführte, deutete KANNER diese Tatsache dahingehend, daß Eltern mit abgeschlossener Hochschulausbildung oft „emotional frigide“, introvertiert und distanziert dem Kind gegenüber seien. Demnach sei der Rückzug der Kinder in eine abgekapselte autistische Welt Folge der „emotionalen Unterkühlung“ im Elternhaus (vgl. Feuser 1979, S. 75/ Dalferth 1995, S. 70). Diese Einschätzung KANNERS hatte in den Folgejahren erhebliche negative Auswirkung auf die betroffenen Eltern autistischer Kinder, da sie mit dem Bewußtsein leben mußten, durch fehlende Wärme und Geborgenheit im Elternhaus Schuld zu sein am „Zustand“ ihrer Kinder. Der Begriff der „kalten Mutter“ wurde dadurch geprägt (vgl. auch Kapitel 2.6.5.). Die Eltern stürzte diese These verständlicherweise in tiefe Verzweiflung, da sie erheblich unter dem Druck der Öffentlichkeit standen, an der Behinderung ihrer Kinder selbst die Schuld zu tragen. KANNER hielt, wie auch viele andere Autoren mit ihm, lange an dieser Auffassung fest und bezeichnete die Eltern selbst als „erfolgreiche Autisten“ (Kanner 1954; nach Feuser 1979, S. 75). Bettelheim greift KANNERS Theorie auf und bemerkt, „das autistisches Verhalten alles in allem eine Anpassung des Organismus an eine Umgebung, die nicht als passend erfahren worden ist“, sei (Bettelheim 1977, S. 375). Diese und weitere Thesen zur Ätiologie der autistischen Störung, werde ich in Kapitel 2.6. noch einmal näher betrachten.
Der wahre Grund für die statistische Häufung akademischer Familien mit autistischem Kind, besteht jedoch schlicht und einfach darin, daß die Angehörigen der Oberschicht bei Erziehungsproblemen eher den Rat des Psychiaters oder Mediziners in Anspruch nehmen als Mitglieder anderer Gesellschaftsschichten (vgl. Feuser 1979, S. 78). Das war zumindest in den Nachkriegsjahren der Fall.
Während ASPERGER in seinen Studien zeigte, das fast ausschließlich Jungen betroffen sind, gab KANNER das konkrete Geschlechterverhältnis beim frühkindlichen Autismus mit 4:1 im Hinblick auf Jungen zu Mädchen an (vgl. Dalferth 1995, S. 33).
Langfristige Prognosen zeigen für Kinder mit autistischer Psychopathie günstigere Bedingungen als für die Autisten nach KANNER. Während Asperger-Autisten nicht selten die soziale und berufliche Eingliederung einigermaßen gelingt, muß KANNER 1955 in einer „follow-up“ Studie feststellen, daß die Prognose für Symptomfreiheit, soziale Kontaktaufnahme oder gar Heilung beim frühkindlichen Autismus sehr schlecht ist (vgl. Dalferth 1995, S. 35).
KANNER erhebt die Sprachentwicklung zum „Indikator“ der autistischen Störung. Ist mit 4 bis 5 Jahren noch keine brauchbare, d.h. der Kommunikation dienende Sprache erreicht, so ist eine weitere Prognose zum Guten nicht zu erwarten (vgl. Feuser 1979, S. 98).
Zu beachten ist bei solchen Prognosen jedoch immer die Tatsache, daß es hier um Menschen mit heteromorphen Dispositionen handelt. Spezifische Merkmale können auftauchen aber auch wieder verschwinden. So kann es auch durchaus sein, daß ein Kind im frühen Grundschulalter mit dem Behinderungsbegriff „frühkindlicher Autismus“ belegt wird, dann aber im weiteren Lebensabschnitt nach und nach Fortschritte macht und „Verhaltensverbesserungen“ erzielt, so daß schließlich die Diagnose Asperger-Syndrom gestellt werden muß (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S.233).
Es läßt sich also nicht immer eine exakte Trennlinie zwischen den Begriffen „frühkindlicher Autismus“ und „autistische Psychopathie“ ziehen (vgl. ebda., S. 234).
2.5. Das Autismussyndrom nach der ICD
Es gibt heute zwei international anerkannte psychiatrische Klassifikationssysteme, in die auch die autistischen Störungen eingegliedert sind. Das System genannt „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) wird von der „American Psychiatric Association“ herausgegeben. Das zweite Klassifikationssystem heißt „International Classification of Diseases“ (ICD) und wird von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation aufgestellt.
Im folgenden werde ich mich nur auf die ICD-10, die aktuellste Überarbeitung der WHO von 1993, beschränken, da diese auch für die Krankenkassen in Deutschland verbindlich ist (vgl. Knölker u.a. 2000, S. 48). Da der frühkindliche Autismus und die autistische Psychopathie zwei verschiedene Störungen sind, werde ich sie in den folgenden beiden Unterpunkten getrennt behandeln.
2.5.1. Der frühkindliche Autismus nach der ICD-10
Der frühkindliche Autismus wird laut ICD-10 den Entwicklungsstörungen und hier im besonderen den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) zugeordnet. Diese charakterisieren sich durch „qualitative Beeinträchtigung in der wechselseitigen Interaktion sowie durch eingeschränktes, sich wiederholendes Verhaltensrepertoire“ (Noterdaeme 1999, S.33).
Der frühkindliche Autismus wird in der Regel anhand von drei Hauptklassifikationskriterien beurteilt.
Das erste Kriterium betrifft die qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion.
Betroffene Kinder schauen oder lächeln andere Menschen nicht an, bzw. blicken durch sie durch. Es herrscht oft ein scheinbares Desinteresse an Menschen und Umwelt, emotionale und kommunikative Signale werden von den Kindern nicht erkannt oder erwidert. Auch die eigene Kontaktaufnahme ist stark gestört. Es wird kein Imitationsverhalten gezeigt, das während einer normalen Kindheitsentwicklung besonders im Baby- und Kleinkindalter auftritt. Auch fehlt das Einfühlungsvermögen in andere Menschen, die Empathie. Allgemein wird die Verhaltensanpassung im sozialen Kontext vermißt. Die Kinder scheinen mit ihrer Situation jedoch nicht unzufrieden, sie befinden sich in einer „selbstgewollten Isolation“.
Das zweites Kriterium nach der ICD-10 ist die Störung der Kommunikation.
Autistische Kinder gebrauchen ihre Sprache, trotz meist vorhandener sprachlicher Fähigkeiten, gar nicht oder nur bedingt kommunikativ. Neben den sprachlichen Einschränkungen fällt auch das Fehlen von Gesten und Mimik auf. Das Gesicht wirkt starr und emotionslos. Bei direkter Ansprache scheint das Kind nicht hinzuhören und zeigt keinerlei Reaktionen, was häufig so wirkt, als sei es taub.
Die Sprache selbst zeigt Auffälligkeiten in der Intonation, so wie bereits schon erwähnt Echolalien, Pronominalumkehr und Neologismen. Auch Phonographismus (die Wiederholung
der an die Person gerichtete Frage) und eine vom Kind entwickelte „Eigensprache“ sind typisch.
Drittes Kriterium des frühkindlichen Autismus sind die ritualisierten, stereotypen und zwanghaften Verhaltensweisen der Kinder.
Sie zeigen zum Teil erhebliche motorische Stereotypien und eine abnorme Bindung an Objekte, die nicht selten intensiv betrachtet, berochen, beleckt und betastet werden. Die Spiel- und Beschäftigungsmuster sind starr und nicht kreativ. Autistische Kinder bestehen auf immer gleichbleibende Abläufe und Gleicherhaltung ihrer Umwelt. Ändert sich etwas in ihrer gewohnten Umgebung oder geraten sie in Situationen, die ihnen fremd sind, kann es zu Angstzuständen, Wutanfällen und Panikattacken kommen. Zu diesen Kriterien zählen auch die teilweise außergewöhnlichen Begabungen in Teilbereichen, die von Daten auswendig lernen bis zu musikalischen Spitzenleistungen reichen können.
Neben diesen drei Hauptkriterien, die nötig sind, um die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ stellen zu können, zeigen sich oft noch weitere Merkmale, wie z.B. Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus, nicht nachvollziehbare, scheinbar grundlose Angst- und Wutanfälle, Eßstörungen oder selbstverletzende Verhaltensweisen.
Bei drei Viertel der Kinder mit frühkindlichem Autismus besteht außerdem eine Intelligenzminderung. Wie schon KANNER als Kriterium beschrieben hat, ist die Diagnose der Behinderung bis zum 3. Lebensjahr zu stellen (vgl. Knölker 2000, S. 200; Noterdaeme 1999, S. 33f; Remschmidt 2000, S. 16ff).
Für die Erfassung der autistischen Kernsymptome und die diagnostische Beurteilung stehen heute diverse standardisierte Tests und Beurteilungsskalen zur Verfügung, die sich auf die intensive Beobachtung und Anamnese des jeweiligen Kindes stützen.
Wichtige Diagnose-Instrumente sind beispielsweise das „Autism Diagnostic Interview“ in der revidierten Form (ADI-R), das „Autism Diagnostic Observation Schedule“ (ADOS) oder auch die „Childhood Autism Rating Scale“ (CARS). Auch Screening-Instrumente wie die „Autism Behavior Checklist“ (ABC) und die „Checklist for Autism in Toddlers“ (CHAT) finden Verwendung. Einige dieser Instrumente sind auch ins Deutsche übersetzt worden, so z.B. der ADI-R 1991 von SCHMÖTZER et. al. (vgl. Noterdaeme 1999, S.35ff; Remschmidt 2000, S. 21; Klicpera/Innerhofer 1999, S. 224ff).
Wichtig bei der Diagnose ist immer auch die Abgrenzung zu anderen Störungen wie z.B. dem Rett-Syndrom, der Schizophrenie oder dem Hospitalismus (Deprivationssyndrom). Hierauf soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden, ich verweise nur auf die Ausführungen von Remschmidt (2000, S.22ff) oder Amorosa (1999, S. 40ff).
Zur Epidemiologie ist zu sagen, daß heutzutage in Deutschland von 10 000 Kindern im Alter zwischen vier und fünfzehn Jahren etwa vier bis fünf mit der Diagnose „frühkindlicher Autismus“ geboren werden. In Gesamtdeutschland dürften zur Zeit etwa 40 000 Menschen aller Altersklassen mit frühkindlichem Autismus leben. Die Jungen/Mädchen Relation beträgt 3-4:1 und entspricht damit den Werten KANNERS (vgl. Remschmidt 2000, S. 20).
2.5.2. Die autistische Psychopathie nach der ICD-10
Die autistische Psychopathie wird in der ICD-10 ebenso wie der frühkindliche Autismus und einige weitere Störungen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt.
Beim Asperger-Autismus unterscheidet die ICD-10 vier kernsymptomatische Eigenheiten, die zur Diagnosestellung unerläßlich sind.
Erstes Diagnosekriterium des Asperger-Syndroms ist, daß keine klinisch eindeutige Sprachentwicklungsverzögerung besteht und zwar weder in der gesprochenen, noch in der rezeptiven Sprache. Auch die kognitive Entwicklung ist nicht verzögert. Die Diagnose setzt voraus, daß im 2. Lebensjahr oder früher erste Worte und mit drei Jahren erste kommunikative Redewendungen benutzt werden.
Als zweites Kriterium nennt das ICD-10 wie beim frühkindlichen Autismus die qualitativen Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion (vgl. Kapitel 2.5.1.).
Das dritte Klassifikationskriterium besteht darin, daß die Kinder ungewöhnlich intensive Spezialinteressen haben. Beispielsweise beschäftigen sie sich häufig mit sehr eng gefaßten Wissensgebieten, die oft nicht von allgemeinem Interesse sind. Über diese Themen können sie dann stundenlang sprechen, ohne auf die eventuell gänzlich anderen Interessen des Kommunikationspartners einzugehen. Auffällig für die Diagnose ist hiermit also nicht nur der oft abnorme und praxisferne Inhalt der Sonderinteressen (wie z.B. die Kenntnis sämtlicher Handytarife oder jeglicher Biersorten) sondern eher deren Ausmaß.
Auch stereotype Verhaltensmuster wie repetitive motorische Manierismen oder das zwanghafte Befolgen von Ritualen zeigen sich beim Asperger-Autisten. Diese sind jedoch meist nicht so intensiv wie die der Kanner´schen Autisten.
Das vierte Kriterium der autistischen Psychopathie besagt, daß die Störung nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zuzuordnen ist (vgl. Remschmidt 2000, S. 42f; Knölker 2000, S. 204; Attwood 2000, S.220).
Zur Häufigkeit und Verteilung der autistischen Psychopathie gibt es bisher nur wenige epidemiologische Studien. Die Schweden EHLERS und GILLBERG bestimmten 1993 ein Vorkommen der Störung bei etwa 7,1 Kindern pro Tausend (vgl. Remschmidt 2000, S. 45). KNÖLKER spricht von 0,08% oder mehr. Auch die Jungen/Mädchen-Relation gibt KNÖLKER mit 4:1 an (vgl. Knölker 2000, S. 204).
2.6. Hypothesen zur Ätiologie des Autismussyndroms
Die Ätiologie der autistischen Störung ist bis heute nicht geklärt. Jegliche Aussagen zur Ursache der Behinderung sind bisher Vermutungen und beruhen auf Hypothesen. Autismus ist immer noch nicht heilbar. Die nun folgenden Unterkapitel stellen einige dieser Hypothesen zur Ätiologie vor.
2.6.1. Genetische Ursachen
Bereits ASPERGER ging bei der Beschreibung der autistischen Psychopathie davon aus, das sie erblich sein könnte (vgl. Kapitel 2.4. und Kehrer 1989, S.76).
Mit der Weiterentwicklung der medizinischen und vor allem der molekularbiologischen Forschung gibt es heute eine Reihe von Studien, die sich auf die Erblichkeit des Autismussyndroms beziehen.
WOLFF hat 1995 die Untersuchungen ASPERGERS aufgegriffen und festgestellt, daß bei einer Kontrollgruppe von 32 Jungen mit Asperger-Syndrom, zwölf der Mütter und sieben der Väter nachgewiesenermaßen schizoide Verhaltensmerkmale aufwiesen (vgl. Remschmidt 1999, S.52).
Die meisten Forschungen richten sich aber auf den frühkindlichen Autismus.
Sowohl die Rate der Geschlechterverteilung, die drei bis vier mal mehr männliche Autisten aufweist, als auch die augenscheinlich familiäre Häufung des frühkindlichen Autismus, gelten als Indikatoren für eine genetische Disposition der Störung. Das Risiko von Eltern eines autistischen Kindes, ein weiteres Kind mit Autismus zu bekommen, liegt etwa 60 bis 100 mal höher als bei Eltern ohne Kind mit Autismus (vgl. Mildenberger 1999, S.30; Remschmidt 2000, S.26). Einige Studien zeigen auch bei Geschwistern autistischer Kinder kognitive Auffälligkeiten und hier besonders im sprachlichen Bereich. MacDonald und seine Mitarbeiter fanden diese Auffälligkeit 1989 bei 15% der Geschwister von Autisten, während nur 4,5% der Geschwister einer Vergleichsgruppe mit Down-Syndrom vergleichbare kognitive Störungen aufwies (vgl. Remschmidt 2000, S.26). Auch BOLTON et al. wiesen 1994 bei einer ähnlich angelegten Studie nach, daß keines der Geschwister eines Kindes mit Down-Syndrom eine autistische Störung aufwies, während jedoch Kinder mit einem autistischen Geschwisterteil zu 3% selbst eine autistische Störung entwickelten (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S. 173f).
Auch die Zwillingsforschung liefert für die Hypothese der Erblichkeit des Autismus Hinweise. Nach BÖLTE und POUSTKA zeigen die Ergebnisse aus der Zwillingsforschung „hinsichtlich des Autismus eine sechzigprozentige Übereinstimmung für eineiige gegenüber null Prozent bei zweieiigen Zwillingspaaren“ (ebda. 1999, S.8).
Daraus folgernd ergibt sich eine geschätzte Heritabilität (Erblichkeit) von 91-93 Prozent (vgl. ebda., S. 8; Klicpera/Innerhofer 1999, S.174).
Molekularbiologische Studien ermöglichen seit einigen Jahren die Forschung auf genetischer Ebene. Bisher ist es jedoch noch nicht gelungen, eine eindeutig auf bestimmte Gene begrenzte Chromosomen-Aberration nachzuweisen. Das Augenmerk der Forscher richtet sich unter anderem auf den Zusammenhang des frühkindlichen Autismus mit dem „Fragilen X-Syndrom“, da etwa drei Prozent der Autisten auch dieses Syndrom aufweisen, was bereits zuverlässig lokalisiert werden kann. Die naheliegende Vermutung, daß die Störung auf dem X-Chromosom liegen könnte, wird von BÖLTE und POUSTKA nach neueren Forschungen aber eher ausgeschlossen (vgl. ebda. 1999S. 8). Viele Forscher gehen heute davon aus, daß der frühkindliche Autismus eine polygene Störung ist, an der vermutlich zwischen sechs und zehn Gene beteiligt sein könnten (vgl. Remschmidt 2000, S. 29).
2.6.2. Hirnorganische Erklärungsansätze
Bereits seit den sechziger Jahren gibt es Studien, die die autistische Störung mit Fehlfunktionen und Schädigungen des Gehirns bzw. des Zentralnervensystems in Verbindung bringen. Es entwickelte sich sogar die These, daß der frühkindliche Autismus erst durch eine zusätzliche zerebrale Schädigung bei Asperger-Autisten hervorgerufen werde, daß also die eine Störung aus der anderen hervorgehe (vgl. Feuser 1979, S. 80).
Andere spätere Studien zeigen auf, daß bei Kindern mit Autismus überdurchschnittlich häufig Störungen in der prä- peri- und postnatalen Phase auftreten. Hierbei könnten als Folge von Sauerstoffmangel oder ähnlichen Komplikationen, Schädigungen des Zentralnervensystems auftreten (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S.175f; Eichel 1996,S. 16). Auch die Erkrankung der Mutter an Röteln während der Schwangerschaft wird als eine mögliche Autismusursache diskutiert (vgl. Remschmidt 2000, S. 8).
Vielfach werden heute von Medizinern und Molekularbiologen auch Veränderungen der Hirnanatomie untersucht. Hierbei ließen sich vor allem die häufige Unterentwicklung des Kleinhirns und die Veränderung der Hirnrinde bei autistischen Menschen nachweisen (vgl. Mildenberger 1999, S. 26; Remschmidt 2000, S. 30).
Auch sind bei autistischen Menschen häufig Anfallsleiden, wie Epilepsie und EEG-Abweichungen festzustellen, die ebenfalls für eine Dysfunktion cerebraler Areale sprechen (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S.182).
Hirnschädigungen scheinen bei Autismus also eine Rolle zu spielen, können jedoch nicht als die ausschließliche Ursache angesehen werden.
2.6.3. Biochemische Indikatoren
Neben dem Versuch, das Autismussyndrom durch Teildefekte des Gehirns zu erklären, wird in der Medizin auch der Forschung auf dem biochemischem Sektor viel Beachtung geschenkt. Alle Stoffwechselvorgänge des Gehirns sind mit chemischen Prozessen gekoppelt. Kennt man die Prozesse, kann man evtl. versuchen, diese mittels Medikamenten zu beeinflussen.
Bei der Untersuchung autistischer Menschen sind den Forschern mehrere Auffälligkeiten begegnet, von denen ich an dieser Stelle jedoch nur die drei wichtigsten kurz anreißen möchte.
Zum einen ist der Serotonin-Spiegel bei etwa 25% der autistischen Kinder erhöht (vgl. Mildenberger 1999, S. 27; Kehrer 1989, S. 83). Serotonin beeinflußt als Transmitter im Gehirn verschiedene Körperfunktionen, wie z.B. Schlaf, Schmerz, Appetit, Stimmungslage, usw. (vgl. Klicpera/Innerhofer 1999, S. 184) und kann bei erhöhter Dosis zu Störungen in diesen Bereichen führen.
Zweitens läßt sich bei etwa der Hälfte aller Autisten durch die Untersuchung von Nebenprodukten auf einen erhöhten Dopaminspiegel schließen. Dopamin gilt als eine Vorstufe von Adrenalin und Noradrenalin und regelt u.a. die motorischen Aktivitäten. Durch Tierversuche wurde festgestellt, daß ein erhöhter Dopaminspiegel zu Stereotypen führt (vgl. ebda., S.185).
Drittens ist ebenfalls bei etwa der Hälfte der untersuchten Probanden ein erhöhter Endorphinspiegel festgestellt worden. Endorphin ist ein Opiat, was schmerzlindern ist und euphorisierend wirkt. Diejenigen Probanden, die einen erhöhten Endorphinspiegel aufweisen sind allesamt vermehrt autoaggressiv und haben ein herabgesetztes Schmerzempfinden. Diese Ergebnisse könnten also den Grund aufzeigen für selbstverletzendes Verhalten und verminderter Schmerzempfindlichkeit bei Autisten. Medikamentöse Behandlung setzt auch genau an dieser Stelle an (vgl. Mildenberger 1999, S.28).
2.6.4. Soziale Einflußfaktoren
Wie schon in Kapitel 2.4. angedeutet, war die Hypothese, daß die autistische Störung durch negative Erfahrungen des Kindes ausgelöst werden könnte, zu Beginn der Autismusforschung sehr populär. KANNER sprach damals von einem „emotional unterkühlten Elternhaus“ (vgl. Dalferth 1995, S.70). Die Eltern seien kalt und distanziert ihren Kindern gegenüber. In KANNERS Vorstellung fand auch BRUNO BETTELHEIM die Grundlage seiner psychoanalytischen Theorien. Sein Ansatz basierte darauf, daß der autistische Rückzug des Kindes erst durch negative Erlebnisse bzw. Frustrationserlebnisse in der frühen Kindheit ausgelöst wird.
Zitat: „Doch kann die Entwicklung schrecklich scheitern, wenn die Welt zu früh als grundlegend frustrierend erfahren wird“ (ebda. 1977, S. 57). BETTELHEIM schreibt weiter „der Mangel an befriedigenden Reaktionen durch die Personen, die sich um den Säugling kümmern, kann diesen zu früh dazu zwingen, die Welt als rein frustrierend zu erfahren“ (ebda. 1977, S.57). Dadurch bedingt sich schließlich der Rückzug des Kindes in die autistische Welt, Zitat BETTELHEIM: „da das autistische Kind einst eine vage Vorstellung von einer befriedigenden Welt gehabt hat, strebt es immer noch nach solch einer Welt – allerdings nicht handelnd, sondern träumend“ (ebda. 1977, S.59).
Diese Hypothesen wirken auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar, da Kinder bei schwerer Deprivation durchaus dem Autismus ähnliche Symptome entwickeln (vgl. auch die in Kapitel 2.1. beschriebenen Wolfskinder). Dieses, heute als Hospitalismus bezeichnete Syndrom führt auch unter anderem zu schweren Kontaktstörungen mit Stereotypien und Schaukelbewegungen (vgl. Knölker 2000, S. 367; Kehrer 1989, S. 74).
TINBERGEN&TINBERGEN haben 1984 viele weitere „autismogene Faktoren“ benannt. Diese reichen von der „ Überängstlichkeit und Unsicherheit so vieler junger Mütter“ (ebda. 1984, S.127), über den potentiell schädigenden Faktor des Flaschentrinkens gegenüber des Stillens, bis zu der starken Eingebundenheit der Eltern in ihre Berufe, die zu einer mangelnden Versorgung des Kindes führen kann (vgl. ebda. 1984, S. 127f).
Zusammenfassend läßt sich zu diesem Unterkapitel sagen, daß ein problematisches soziales und emotionales Umfeld zwar negative Auswirkungen auf ein Kind haben kann, jedoch nicht ursächlicher Faktor für eine so gravierende Kontaktstörung wie den Autismus sein kann.
2.6.5. Störungen im affektiven Kontakt
Ein für den Autismus typisches Symptom ist die mangelhafte Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen sowie Emotionalität und Empathie zu zeigen. Vielfach gehen Ursachenforscher daher von einer gestörten Wahrnehmungs- bzw. Informationsverarbeitung bei Autisten aus. Wo genau die Störung liegt, ob in der Reizaufnahme, der Reizselektion oder der Verarbeitung kann bis heute nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Die These, daß die autistische Störung primär affektiv bedingt ist, haben einige Forscher durch Experimente nachzuweisen versucht. So prüfte HOBSON 1986 „die Fähigkeit von autistischen, normal entwickelten und rückständigen, aber nicht autistischen Kindern, gezeichnete und fotografierte Gesichter mit einem bestimmten emotionalen Ausdruck (Ärger, Glück, Unseligkeit, Angst) einer Person zuzuordnen, die auf einer kurzen Videosequenz das gleiche Gefühl zeigte“ (Remschmidt 2000, S. 32). Die Person auf dem Video drückte das jeweilige Gefühl nur mit nonverbalen und gestisch-mimischen Mitteln aus. Das Ergebnis zeigte, daß die autistischen Probanden signifikant schlechter waren in der richtigen Zuordnung der dargestellten Gefühle. HOBSON folgerte daraus, daß Autisten nicht oder nur begrenzt in der Lage sind, die Empfindungen und Gefühle des Gegenübers richtig zu deuten und „daß autistische Kinder Schwierigkeiten in der Erkennung, Verarbeitung und Verknüpfung unterschiedlicher Ausdrucksformen ein und desselben Gefühls (Gestik, Lautäußerungen, etc) haben“ (Remschmidt 2000, S. 33).
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- Quote paper
- Sven Szalies (Author), 2002, Gestützte Kommunikation - ein neuer Weg für Menschen mit autistischer Behinderung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7430
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