„Was erscheint denn an Europa, an seiner Konstruktion vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus so außerordentlich grotesk?“, diese Frage stellte Gustav Stresemann in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund am 9.September 1929 angesichts der Weltwirtschaftskrise. Der Friedensnobelpreisträger und entschiedene Befürworter einer europäischen Einigung sollte seinerzeit, ebenso wie sein französischer Amtskollege Aristide Briand, am deutschen und italienischen Nationalismus scheitern. Doch nicht nur Stresemann oder Briand, sondern auch andere bekannte Persönlichkeiten setzten sich nach dem Ersten Weltkrieg für eine Neuordnung Europas abseits einer ausgeprägten Nationalstaatlichkeit ein. Im Rahmen dieser Arbeit sollen die wichtigsten Konzepte für eine europäische Zusammenarbeit, die unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstanden, vorgestellt und analysiert werden.
Im ersten Teil der Arbeit soll das „Paneuropa“-Konzept von Richard Coudenhove-Kalergi untersucht werden. Im zweiten Teil wird der Entwurf einer „Mitteleuropa“-Konzeption dargestellt, einschließlich der Begründer und ihrer Motive. Zum Abschluss des Hauptteils wird die Rolle der deutschen und französischen Außenpolitik, unter Berücksichtigung der eingangs erwähnten Repräsentanten, Stresemann und Briand, analysiert. Insbesondere soll auch der Entwurf des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Édouard Herriot erläutert werden, der sich mit dem Konzept der „Vereinigten Staaten von Europa“ beschäftigt. Abschließend werden die drei vorgestellten Europamodelle der Zwischenkriegszeit miteinander verglichen und erkennbare Parallelen, sowie Unterschiede von „Paneuropa“, „Mitteleuropa“ und den „Vereinigten Staaten von Europa“ herausgearbeitet. Ziel dieser Analyse ist es, eine Antwort auf die folgenden Leitfragen zu geben: Was waren die Motive der verschiedenen Überlegungen einer europäischen Neuordnung? Inwieweit nahmen die vorgestellten Europakonzepte Einfluss auf die damalige Außenpolitik der Nationalstaaten?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Richard Coudenhove-Kalergi und die „Paneuropa“-Konzeption
2.1. Herkunft und Leben des Europavisionärs
2.2. Das Paneuropa-Konzept
2.3. Entwicklung der Paneuropa-Union und politische Reaktionen auf die Idee von Paneuropa
3. Entstehung und historische Entwicklung des „Mitteleuropa“-Konzepts
3.1. Entstehung des Mitteleuropa-Konzepts im 19.Jahrhundert bis hin zum Ersten Weltkrieg
3.2. Die Ausarbeitung des Mitteleuropa-Konzepts bei Friedrich Naumann
3.3. Die Ziele der Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung und des Europäischen Zoll-Vereins
4. Die politische Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ als Bestandteil französischer und deutscher Außenpolitik
4.1. Europabestrebungen französischer und deutscher Politiker mit dem Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“
4.2. Der Entwurf der „Vereinigten Staaten von Europa“ bei Édouard Herriot
5. Vergleich der unterschiedlichen Konzepte für eine Neuordnung Europas
6. Resümee
1. Einleitung
„Was erscheint denn an Europa, an seiner Konstruktion vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus so außerordentlich grotesk?“, diese Frage stellte Gustav Stresemann in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund am 9.September 1929 angesichts der Weltwirtschaftskrise.[1] Der Friedensnobelpreisträger und entschiedene Befürworter einer europäischen Einigung sollte seinerzeit, ebenso wie sein französischer Amtskollege Aristide Briand, am deutschen und italienischen Nationalismus scheitern. Doch nicht nur Stresemann oder Briand, sondern auch andere bekannte Persönlichkeiten setzten sich nach dem Ersten Weltkrieg für eine Neuordnung Europas abseits einer ausgeprägten Nationalstaatlichkeit ein. Im Rahmen dieser Arbeit sollen die wichtigsten Konzepte für eine europäische Zusammenarbeit, die unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstanden, vorgestellt und analysiert werden.
Im ersten Teil der Arbeit soll das „Paneuropa“-Konzept von Richard Coudenhove-Kalergi untersucht werden, einleitend ergänzt durch einige biographische Informationen, um die Motive für das Konzept besser zu verstehen. Zunächst wird das Programm der von ihm gegründeten Paneuropa-Bewegung aus dem Jahre 1923 vorgestellt und eine Analyse der grundlegenden Thesen vorgenommen. Anschließend soll die politische Folgewirkung des Konzepts überprüft werden, um die Bedeutung des Paneuropa-Begriffs herauszustellen. Im zweiten Teil wird der Entwurf einer „Mitteleuropa“-Konzeption dargestellt, einschließlich der Begründer und ihrer Motive. Zum Abschluss des Hauptteils wird die Rolle der deutschen und französischen Außenpolitik, unter Berücksichtigung der eingangs erwähnten Repräsentanten, Stresemann und Briand, analysiert. Insbesondere soll auch der Entwurf des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Édouard Herriot erläutert werden, der sich mit dem Konzept der „Vereinigten Staaten von Europa“ beschäftigt. Abschließend werden die drei vorgestellten Europamodelle der Zwischenkriegszeit miteinander verglichen und erkennbare Parallelen, sowie Unterschiede von „Paneuropa“, „Mitteleuropa“ und den „Vereinigten Staaten von Europa“ herausgearbeitet. Ziel dieser Analyse ist es, eine Antwort auf die folgenden Leitfragen zu geben: Was waren die Motive der verschiedenen Überlegungen einer europäischen Neuordnung? Inwieweit nahmen die vorgestellten Europakonzepte Einfluss auf die damalige Außenpolitik der Nationalstaaten?
Als Grundlage für diese Arbeit dienen sowohl Werke aus der Primärliteratur der Kriegs- und Zwischenkriegszeit, wie etwa die Paneuropa-Monographie von Coudenhove-Kalergi, als auch aus der aktuelleren Sekundärliteratur, wie zum Beispiel die Werke von Reinhard Frommelt und Peter Stirk.[2]
2. Richard Coudenhove-Kalergi und die „Paneuropa“-Konzeption
2.1. Herkunft und Leben des Europavisionärs
Eine Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung Richard Coudenhove-Kalergis in den frühen Jahren hilft den späteren Weg des Visionärs bis hin zur Gründung der Paneuropa-Union nachzuvollziehen. Coudenhove-Kalergi wird am 17.November 1894 als Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer Japanerin in Tokio geboren, wächst jedoch in Europa auf. Dieser Einfluss einer asiatischen Mutter und eines europäischen Vaters sollte sich auch später, wie er selbst sagt, in seinem kontinentalen Denken widerspiegeln, das sich auch in seinem Werk „Paneuropa“ nachvollziehen lässt.[3] Als Mitglied einer Adelsfamilie im böhmischen Ronsberg lernt er die aristokratische Welt kennen und studiert ab 1913 in Wien Philosophie und Geschichte. Böhmen gehört zu jener Zeit zur Donaumonarchie, einem Staat, in dem verschiedene Völker und Volksgruppen unter einem gemeinsamen „politischen Dach“ zusammenleben. Diese politische Erfahrung und Erkenntnis beeinflussen Richard Coudenhove-Kalergi entscheidend im Hinblick auf die Entwicklung seiner Europakonzeption. Für nationalstaatliches Denken hat er kaum Verständnis, was später für die Verbreitung seiner persönlichen Europaidee eher hinderlich sein sollte. Seine aristokratische Prägung lässt sich auch an seinen philosophischen Schriften erkennen, die er vor allem in seiner frühen Zeit veröffentlicht hat.[4] Trotz seiner aristokratischen Herkunft setzen seine Ideen in seiner Zeit jedoch ein modernes Verständnis voraus, da er sich nicht nur mit der zunehmenden Technisierung der Welt beschäftigt, sondern auch sein Hauptwerk der Jugend Europas widmet. Dass aus seiner Organisation eine junge Massenbewegung wird, verhindert er jedoch selbst durch seine strikte Leitung der Paneuropa-Union und, indem er lediglich den „Geistesadel“ für geeignet hält, seine Botschaft umzusetzen.[5] Daher sollte seine erste Ehefrau, die Schauspielerin Ida Roland, auch beruflich für lange Zeit seine einzige enge Mitarbeiterin sein. Unter anderem deshalb, aber auch aufgrund seiner späteren Verweigerung sich mit anderen Europa-Bewegungen zu verbünden, wird dem Visionär ein arroganter und autoritärer Führungsstil nachgesagt. Diesen kann er jedoch gegen Ende der zwanziger Jahre mit seinen guten Beziehungen zur politischen Elite Europas rechtfertigen.[6]
2.2. Das Paneuropa-Konzept
Das Vorwort zu der 1923 von Richard Coudenhove-Kalergi veröffentlichten Paneuropa-Monographie beginnt mit den folgenden anspruchsvollen Worten: „Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert.“[7] In den folgenden elf Kapiteln schildert er seine Vision von der Rückkehr „Pan-Europas“ zur Selbständigkeit, bei der er sich an das Konstrukt „Pan-Amerikas“ anlehnt.
Bereits im Vorwort bekräftigt Coudenhove-Kalergi, dass der Wille der Europäer die einzige Kraft sei, die Paneuropa verwirklichen könne. Zudem beklagt er die europäische Zersplitterung und ruft die Jugend Europas auf, eine Organisation an die Stelle der europäischen Anarchie zu setzen. Die soziale und die europäische Frage sind nach Coudenhove-Kalergi die grundlegenden Probleme der Zeit. Die einzige Antwort zur Lösung der europäischen Frage sieht er in der Schaffung eines europäischen „politisch-wirtschaftlichen Zweckverbandes“, da weder von Amerika noch von Russland Hilfe zu erwarten sei. Zum Schluss des Vorwortes verteidigt er sein Konzept gegen den Vorwurf der Utopie und ruft die Jugend Europas dazu auf, sein Programm zu verwirklichen.[8]
Das erste Kapitel des Buches trägt den Titel „Europa und die Welt“, in dem sich der Autor zunächst mit dem Niedergang der europäischen Weltherrschaft des 19.Jahrhunderts durch den Ersten Weltkrieg auseinandersetzt. Die Gründe für den Niedergang Europas sieht er in der Entstehung des britischen Commonwealth und Sowjetrusslands, sowie in der Emanzipation Asiens und Amerikas. Die europäische Welthegemonie sei daher „für immer“ vergangen, dies zeigt er anhand der zu seiner Zeit jüngsten Entwicklungen in Technik und Politik. Um gegen die Vorherrschaft der oben genannten Weltmächte zu bestehen, müsse sich Europa, nach Coudenhove-Kalergi, trotz aller Differenzen zu einem Staatenbund zusammenschließen.[9]
Im nächsten Kapitel setzt der Autor sich mit Europas geographischen und historischen Grenzen auseinander. Er legt sich bei der einzigen strittigen geographischen Grenze, nämlich der Ostgrenze, auf den Ural fest. Die historischen Grenzen Europas wären zunächst durch das griechische und das Römische Reich festgelegt worden und hätten sich später durch die Völkerwanderung, das Papsttum und die Aufklärung verändert. Nach dieser Vorgeschichte sei der Weg frei für die neuen historischen Grenzen der „Vereinigten Staaten von Europa“, die Coudenhove-Kalergi als Ergebnis der Paneuropäischen Föderation sieht. Die kulturellen Grundlagen dieses Staatenbundes seien die Antike und das Christentum; die relative Größe Paneuropas sollte neben dem Kontinent auch die europäischen Kolonien beinhalten.[10]
Im folgenden Teil seines Paneuropa-Programms setzt sich der Gründer der Initiative mit der Frage nach einer klein- oder großeuropäischen Lösung auseinander, also unter Einbeziehung oder Ausschluss Englands. Er kommt zu dem Ergebnis, dass nur die kleineuropäische Lösung durchführbar sei, da das englische Commonwealth fast alle Kontinente der Welt umfasse und daher nicht einem bestimmten Kontinent zugeordnet werden könne, sondern vielmehr als Vermittler zwischen Panamerika und Paneuropa auftreten müsse. Das Verhältnis zwischen Paneuropa und England müsse außerdem friedlich sein, weshalb er eine „Britisch-europäische Entente“ vorschlägt, um sich gegenseitig vor der russischen Bedrohung schützen zu können. Bei einem solchen Bündnis könne, dem Autor zufolge, England zum Schiedsrichter über Europa ernannt werden, müsse jedoch im Gegenzug den europäischen Kolonialbesitz akzeptieren und verteidigen.[11]
Das vierte Kapitel ist der Beziehung Paneuropas zu Russland gewidmet. Hier beschwört Coudenhove-Kalergi zunächst die große Gefahr, der Europa durch eine russische Invasion ausgesetzt sei. Diese Gefahr könne nur durch ein gemeinsames europäisches Defensivbündnis abgewendet werden, denn unabhängig von der Staatsform Russlands sei Europa von den imperialistischen Plänen dieser Nation bedroht. Auf wirtschaftlicher Ebene jedoch schlägt er eine Verständigungspolitik zwischen Paneuropa und Russland vor, von der beide Partner profitieren würden.[12]
Im Anschluss thematisiert der Autor die Lage Amerikas und Europas mit den jeweils unterschiedlichen Grundvoraussetzungen. So stelle das geeinigte Panamerika gegenüber dem zerstrittenen Europa eine außerordentliche wirtschaftliche Bedrohung dar, welche lediglich mit Hilfe der Einigung Europas zu einem Paneuropa abgewendet werden könne. Sollte diese Union jedoch gelingen, so könne Paneuropa von dem brüderlichen Verhältnis zu Panamerika, unter dem Mittler England, durchaus profitieren. Dabei könne das panamerikanische Modell dem uneinigen Europa als großes Vorbild dienen, wie Coudenhove-Kalergi deutlich macht.[13] Nicht „Vorbild“, sondern „Fehlschlag“, sei hingegen das, im nächsten Kapitel erwähnte, Konzept des Völkerbundes. Ein weltweiter Völkerbund müsse seiner Ansicht nach ohne die Akzeptanz der Weltmächte Russland und Nordamerika wirkungslos bleiben. Aufgrund der Organisation und der „Bevormundung“ durch den Völkerbund werde die paneuropäische Idee in Gefahr gebracht. Daher müsse, dem Visionär nach, Europa hundert Jahre nach der amerikanischen seine eigene Monroedoktrin verkünden, unter dem Motto: „Europa den Europäern“. Auf dieser Grundlage schlägt Coudenhove-Kalergi eine Neuordnung des Völkerbundes nach folgenden Kontinentalgruppen vor: Panamerika, Paneuropa, Großbritannien, Russland und die ostasiatische Mongolei-Gruppe.[14]
Im siebten Kapitel warnt der Autor eindringlich vor den Folgen eines möglichen zukünftigen Kriegs und beschwört daher die pazifistische Einigung Europas als einzige sinnvolle Alternative.[15] Er weist wiederholt auf die schwere Krise hin, in der sich Europa nach dem Ersten Weltkrieg und dem Frieden von Versailles befinde. Gerade der Vertrag von Versailles bedrohe den Frieden Europas. Als Lösung schlägt er zunächst die Gründung einer europäischen Zollunion vor, um die wirtschaftliche Einheit Europas zu fördern.[16]
Bevor sich Coudenhove-Kalergi im abschließenden Kapitel seines Werkes mit der konkreten Entstehung Paneuropas beschäftigt, setzt er sich zuerst mit zwei grundlegenden Problemen seiner Idee auseinander: Zum einen mit der historischen Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich und zum anderen mit dem Problem der Nationalstaatlichkeit. In Bezug auf Deutschland und Frankreich schlägt er eine Versöhnungspolitik vor, die in wirtschaftlicher Hinsicht zum Beispiel mit der Gründung einer „paneuropäischen Montanindustrie“ beginnen könne. Darüber hinaus könnten die beiden Nationen nach der Gründung der Weimarer Republik in Deutschland als Schwesterrepubliken einen wichtigen Kern Europas bilden.[17] Das Problem der Nationalstaatlichkeit hingegen könne man ausschließlich durch Aufhebung der Grenzen lösen, weil alle europäischen Nationen „Mischvölker“ seien und daher auch eine Verschiebung der Grenzen nicht weiterhelfen würde. Denn es könne keine Nation entstehen, die sich auf einheitliche sprachliche, geographische, historische und wirtschaftliche Grenzen stütze.[18]
In dem letzten Kapitel seiner Paneuropa-Monographie zeigt Coudenhove-Kalergi schließlich „Wege zu Pan-Europa“ auf. In einem Vier-Stufen-Plan solle seine Idee verwirklicht werden. Am Anfang stehe die Einberufung einer Paneuropäischen Konferenz, die zum Beispiel von Italien, aber auch von anderen Nationen einberufen werden könne. Der zweite Schritt bestehe in der obligatorischen Verabschiedung eines gemeinsamen „Schieds- und- Garantievertrages“, um den Frieden Europas zu sichern. Schließlich müsse eine paneuropäische Zollunion gegründet werden, um die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes voranzutreiben. Erst dann könne die paneuropäische Bewegung durch die Konstituierung einer gemeinsamen Verfassung mit der Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vollendet werden. Nur dieser konföderative Zusammenschluss würde nach Coudenhove-Kalergi die friedliche und konkurrenzfähige Entwicklung Europas sicherstellen.[19]
An dem in der Paneuropa-Monographie vorgestellten Konzept von Richard Coudenhove-Kalergi ist positiv hervorzuheben, dass es in seiner Ausarbeitung bereits sehr konkret ist. So wird nicht nur die zeitgenössische Ideologie, die hinter diesem Konzept steckt, verdeutlicht, sondern auch ein realistischer politischer Weg zur Verwirklichung der Ideen aufgezeigt. Zudem gesteht der Autor den beiden großen Staaten im Zentrum Europas Deutschland und Frankreich eine bedeutende Rolle zu, die auch in den außenpolitischen Überlegungen dieser Zeit zum Ausdruck kommt, wie sich anhand der Bestrebungen von Briand und Stresemann nachvollziehen lässt. Es gibt jedoch auch einige Gesichtspunkte in diesem Paneuropa-Konzept, die kritisch zu beurteilen sind. So lässt sich zum Beispiel die ambivalente Stellung Russlands als enorme militärische Bedrohung einerseits und als wichtiger wirtschaftspolitischer Partner andererseits in diesem Modell kritisieren. Politisch oftmals hart umstritten ist auch die Rolle Englands im paneuropäischen Konzept. Denn es ist fraglich, ob es der englischen Sicherheitsstrategie entsprochen hätte, wenn die Commonwealth-Macht lediglich als Vermittler zwischen Panamerika und Paneuropa aufgetreten wäre, anstatt in das europäische Bündnis integriert zu werden. Ein Kernproblem der Paneuropa-Philosophie ist zudem die mangelnde Ausarbeitung der Staatsform einer paneuropäischen Union. So lassen einige Aussagen Coudenhove-Kalergis vermuten, dass er keine reine Demokratie, sondern vielmehr eine Ergänzung dieser in Form eines aristokratischen Gremiums, besetzt mit Mitgliedern der geistlichen Elite, anstrebt.[20] Gestützt wird diese These durch den bereits beschriebenen biographischen Hintergrund des Autors. Einige zeitgenössische Diplomaten bezeichnen seinen Entwurf von Paneuropa als „idealistisch“ und „utopisch“,[21] was allerdings nichts daran ändert, dass er mit seiner umstrittenen Bewegung auch teilweise Einfluss auf die Realpolitik nehmen konnte. Dies zeigt sich durch die Zusammenarbeit mit vielen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, womit sich seine Organisation, zumindest in der Zwischenkriegszeit, auch maßgeblich von anderen Europabewegungen unterscheidet.
[...]
[1] Walter Lipgens: Die europäische Integration, Stuttgart 1983, S. 8.
[2] Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, Stuttgart 1977; Peter M. R. Stirk (Hrsg.): European Unity in Context – The Interwar Period, London 1989.
[3] Vanessa Conze: Richard Coudenhove-Kalergi – Umstrittener Visionär Europas, Zürich 2004, S. 11.
[4] Richard Coudenhove-Kalergi: Adel, Leipzig 1923 und Ethik und Hyperethik, Leipzig 1923.
[5] Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, Stuttgart 1977, S. 11f.
[6] Zur Biographie Coudenhove-Kalergis: Vanessa Conze: Richard Coudenhove-Kalergi – Umstrittener Visionär Europas, Zürich 2004; Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas – Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004.
[7] Richard Coudenhove-Kalergi: Pan-Europa, Wien 1923, S. 7.
[8] Ebd.: S. 7-12.
[9] Ebd.: S. 13-27.
[10] Ebd.: S. 29-38.
[11] Ebd.: S. 39-50.
[12] Ebd.: S. 51-65.
[13] Ebd.: S. 67-80.
[14] Ebd.: S. 81-94.
[15] Ebd.: S. 95-105.
[16] Ebd.: S. 107-117.
[17] Ebd.: S. 119-134.
[18] Ebd.: S. 135-149.
[19] Ebd.: S. 151-168.
[20] Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa – Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, Stuttgart 1977, S. 11-16.
[21] Ralph White: The Europeanism of Coudenhove-Kalergi, in: Peter M. R. Stirk (Hrsg.): European Unity in Context – The Interwar Period, London 1989, S. 38-40.
- Quote paper
- Magister Artium Björn Schröder (Author), 2005, Konzepte für eine Neuordnung Europas - Beispiele unterschiedlicher Konzepte für eine Neuordnung Europas abseits ausgeprägter Nationalstaatlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74266
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