Diese Arbeit widmet sich der Frage, welchen Stellenwert Abu Hanifa (80/699-150/767) und seine Schüler dem Hadis zuteilten und wie sie ihn verstanden und benutzt haben. Hier geht es also um die Grundlagen des Hadis („Usul al-Hadis“) bei den Hanafiten. Von den Hanafiten wird deshalb gesprochen, weil es auf Grund der Quellenlage nicht möglich ist, eine wissenschaftlich fundierte Aufstellung der Methode Abu Hanifas zu erstellen, da es nur sehr wenige von ihm selbst verfasste Schriften gibt. Diese wenigen jedoch sind in der Islamwissenschaft hinsichtlich ihrer Authentizität umstritten. Zur Zeit Abu Hanifas war es nämlich üblich, seine Gedanken und Ideen im Zuge des „Imla-Verfahrens“ zu verbreiten. Das heißt, man erfährt von der Methode Abu Hanifas nur durch die Feder seiner Schüler. Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, inwieweit besagte Gedankengänge wirklich die des Abu Hanifa darstellen und nicht schon durch Interpretation des Schreibers umgestaltet wurden. Ein weiterer Grund ist, dass Abu Hanifa selbst nicht zu den Hadis-Gelehrten gezählt wird. Im Gegenteil wurde ihm sogar nachgesagt, dass er nur 27 Überlieferungen kennen würde , und al-Gazali soll gesagt haben, dass er deshalb kein muctehid sein könne. Hier spielt die Aufspaltung in die zwei Schulen, die Rechtsschule der Meinung (rayy) aus dem Irak und die Rechtsschule der Tradition aus Medina, eine große Rolle. Es ging so weit, dass die eine Seite von der anderen Seite keine Überlieferungen akzeptierte. In dieser Zeit wurden auch viele Aussagen getätigt, die darauf abzielten, die Mitglieder der jeweils anderen Schule der Inkompetenz zu bezichtigen. Auch ist davon auszugehen, dass in dieser Phase viele gefälschte Überlieferungen entstanden sind. Jedenfalls würde eine Konzentration auf Abu Hanifa und seine Methode dadurch sehr erschwert. Mit der Zeit jedoch fand eine Synthese der beiden Schulen statt, und spätestens mit Abu Yusuf (113/731-182/798) hatten auch die Hanafiten einen Hadis-Gelehrten.
INHALT
1. Einleitung
2. Definition von uÈÚl al-½adÍÝ
3. Quellenlage
4. Einteilung der Überlieferungen
5. Die Eigenschaften eines rÁwÍ
5.1 Muss der Überlieferer ein faqÍh sein?
5.2 Die Eigenschaft al-±abÔ
6. Die Verwendung der Einzeltradition
6.1. Die Einzeltradition eines Nichtjuristen
6.2 Die Einzeltradition und þumÚm al-balwÁ
6.3 Die Einzeltradition und das Handeln des rÁwÍ
7. Abrogation
7.1 Abrogation von Sunna durch Koran
7.2 Abrogation von Koran durch die Sunna
8. Resümee
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Diese Arbeit widmet sich der Frage, welchen Stellenwert AbÚ ¼anÍfa (80/699-150/767) und seine Schüler dem ¼adÍÝ zuteilten und wie sie ihn verstanden und benutzt haben. Hier geht es also um die Grundlagen des ¼adÍÝ („uÈÚl al-½adÍÝ“) bei den ¼anafiten. Von den ¼anafiten wird deshalb gesprochen, weil es auf Grund der Quellenlage nicht möglich ist, eine wissenschaftlich fundierte Aufstellung der Methode AbÚ ¼anÍfas zu erstellen, da es nur sehr wenige von ihm selbst verfasste Schriften gibt. Diese wenigen jedoch sind in der Islamwissenschaft hinsichtlich ihrer Authentizität umstritten.[1] Zur Zeit AbÚ ¼anÍfas war es nämlich üblich, seine Gedanken und Ideen im Zuge des „imlÁÿ-Verfahrens“[2] zu verbreiten. Das heißt, man erfährt von der Methode AbÚ ¼anÍfas nur durch die Feder seiner Schüler. Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, inwieweit besagte Gedankengänge wirklich die des AbÚ ¼anÍfa darstellen und nicht schon durch Interpretation des Schreibers umgestaltet wurden. Ein weiterer Grund ist, dass AbÚ ¼anÍfas selbst nicht zu den ¼adÍÝ-Gelehrten gezählt wird. Im Gegenteil wurde ihm sogar nachgesagt, dass er nur 27 Überlieferungen kennen würde[3], und al-³azÁlÍ soll gesagt haben, dass er deshalb kein mÚýtahid sein könne.[4] Hier spielt die Aufspaltung in die zwei Schulen, die Rechtsschule der Meinung (raÿy) aus dem Irak und die Rechtsschule der Tradition aus Medina, eine große Rolle.[5] Es ging so weit, dass die eine Seite von der anderen Seite keine Überlieferungen akzeptierte. In dieser Zeit wurden auch viele Aussagen getätigt, die darauf abzielten, die Mitglieder der jeweils anderen Schule der Inkompetenz zu bezichtigen. Auch ist davon auszugehen, dass in dieser Phase viele gefälschte Überlieferungen entstanden sind. Jedenfalls würde eine Konzentration auf AbÚ ¼anÍfa und seine Methode dadurch sehr erschwert. Mit der Zeit jedoch fand eine Synthese der beiden Schulen statt, und spätestens mit AbÚ YÚsuf (113/731-182/798) hatten auch die ¼anafiten einen ¼adit-Gelehrten. Denn „zu den Hauptgründen der Meinungsunterschiede zwischen AbÚ YÚsuf […] und AbÚ ¼anÍfa gehört, dass AbÚ YÚsuf sich mehr mit ¼adÍÝ beschäftigte und von den großen mu½addiÝÚn überlieferte. Außerdem vernahm er viele authentische Überlieferungen, die zur Zeit AbÚ ¼anÍfas noch nicht im Umlauf waren.“[6]
2. Definition von uÈÚl al-½adÍÝ
In dieser Arbeit ist uÈÚl al-½adÍÝ diejenige Wissenschaft, die über den Wahrhaftigkeitsgehalt, die Verschiedenartigkeit sowie über die Voraussetzungen und Bestimmungen der Überlieferungen Aussagen macht. Außerdem hat sie den Zustand und die Voraussetzungen der Überlieferer sowie die Kategorisierung der verschiedenen Überlieferungen zum Thema. Dieses ist die Definition, die durch as-SuyÚÔÍ (849/1445-911/1505) überliefert wurde,[7] der gemeinhin als „the most prolific author in the whole of Islamic literatur“[8] gilt.
3. Quellenlage
In Anbetracht dieser Definition tritt ein weiteres Problem zutage: Wenn es nämlich darum geht, den Büchern der ¼anafiten die erwähnte Methode zu entnehmen, so muss vorab geklärt werden, ob überhaupt eine spezifische uÈÚl al-½adÍÝ- Literatur der ¼anafiten existiert. So vertritt KirbaÐoýlu z. B. die Meinung, dass „die ¼anafiten keine ihrer Rechtsschule entsprechende uÈÚl al-½adÍÝ-Literatur entwickelt haben“[9]. Außerdem geht er davon aus, dass sämtliche Literatur aus diesem Bereich, egal von wem geschrieben, sich auf die Methode von aÊ-ÉafiþÍ (gest. 204/820) stützt und deshalb als šafiþÍtisch angesehen werden müsse.[10] Wenn man davon ausgeht, dass die systematische Sammlung der ¼adÍÝ-Methoden erst im vierten Jahrhundert begann und „the first to attempt a comprehensive work was AbÚ Mu½ammad al-RÁmahurmuzÍ (d. 360/971) whose lengthy work in seven parts is called al-Mu½addiÝh al-fÁÈil bayna ’l-rÁwÍ wa’l-wÁþÍ“[11] und noch nicht mal alle Themen dieses Komplexes enthält[12], dann wird schnell deutlich, dass von AbÚ YÚsuf, der ja fast zwei Jahrhunderte früher gelebt hatte, dementsprechend keine uÈÚl al-½adÍÝ-Literatur vorhanden sein kann, geschweige denn, von AbÚ ¼anÍfa. Da es aber in der Natur der Sache liegt, dass sich die Rechtsgelehrten, um sich für ihre Auffassungen und Rechtsgutachten zu rechtfertigen, auf bestimmte Ansichten gegenüber den Quellen bezogen und diese Ansichten deshalb in den uÈÚl al-fiqh-Werken gesammelt wurden, können aus ebendieser uÈÚl al-fiqh-Literatur die entsprechenden uÈÚl al-½adÍÝ-Regeln rekonstruiert werden. Genau das hat Ünal in seiner Dissertation „Imam Ebu Hanife’nin Hadis anlayıÐı ve Hanefi Mezhebinin Hadis Metodu“, die als Leitfaden für diese Arbeit dient, getan. Und das ist auch das Zugeständnis von KirbaÐoýlu, der seine oben erwähnte Meinung mit dem Hinweis relativierte, dass „die ¼anafiten in gewisser Weise die Entwicklung des uÈÚl al-½adÍÝ in ihrer uÈÚl al-fiqh Literatur verwirklicht haben“.[13] Was aber an der Aussage KirbaÐoýlu’s richtig ist und ob es überhaupt zutrifft, dass das, was heute uÈÚl al-½adÍÝ genannt wird, allein auf der uÈÚl-Literatur der Schafiiten beruhen soll, soll und kann nicht an dieser Stelle geklärt werden.
4. Einteilung der Überlieferungen
Fest steht aber, dass die besagte Wissenschaft genau wie andere Zweige der Wissenschaften im Islam eine Entwicklung durchgemacht hat, in deren Verlauf sich eine entsprechende Terminologie bildete. Gerade an der unterschiedlichen Nutzung solcher Termini zu verschiedenen Zeiten wird dieser Entwicklungscharakter deutlich.
So erfahren die Überlieferungen unter anderem eine Einteilung in Bezug auf die Anzahl ihrer Überlieferungsketten (sanad). Hierbei ging man davon aus, dass Überlieferungen in zwei Rangstufen mitgeteilt wurden: entweder als Mehrfachüberlieferung oder als Einzelüberlieferung. Man unterschied einfach in sunna mutawÁtira und sunna ™ayr mutawÁtira,[14] wobei hier sunna als Synonym für ½adÍÝ genommen werden kann. Während die meisten islamischen Gelehrten davon überzeugt waren, dass die sunna mutawÁtira sicheres Wissen (al-‘ilm al-yaqÍnÍ) liefert[15], handelt es sich ihrer Meinung nach bei der ™ayr mutawÁtira Überlieferung nur um präsumtives Wissen (al-‘ilm al-nazarÍ), das durch Nachforschung erlangt werden muss.[16] Es ist davon auszugehen, dass die Überlieferungen der ersten Rangstufe nur bezüglich ihrer Anzahl der Überlieferungsketten untersucht wurden, und als feststand, dass genügend solcher Überlieferungsketten vorhanden waren, wurden sie besagter Kategorie zugeordnet und stellten schon sicheres Wissen da. Nur die Einzelüberlieferungen wurden weiteren Untersuchungen unterzogen. Hier entstand bald eine Unterteilung in weitere drei Kategorien. Alles, was ™ayr mutawÁtira war, also die sunna Á½Ádiyya,[17] unterteilte man in maÊhÚr -, ‘azÍz - und ™arÍb- Überlieferungen. Abgesehen davon, dass der Termini maÊhÚr oft mit Überlieferungen im Zusammenhang gebraucht wird, bei denen es sich nicht um wirkliche a½adÍÝ handelte[18], nahm er bei den ¼anafiten eine andere Entwicklung. Er entwickelte sich nämlich zu einem Terminus technicus, der die Überlieferungen abdeckte, die weder zu den mutawÁtira noch zu den Á½Ádiyya gehörten.[19] Während die Mehrheit der Gelehrten sich für eine Unterteilung in sunna mutawÁtira und sunna ™ayr mutawÁtira entschied und die sunna ™ayr mutawÁtira in drei Unterstufen einteilte, unterteilen die ¼anafiten die Überlieferungen in drei Stufen, wobei nur die dritte Stufe sunna Á½Ádiyya genannt wird und zwei Unterstufen hat. Man kann sich das am besten an einem Organigramm[20] verdeutlichen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dadurch, dass die ¼anafiten der sunna maÊhÚra eine höhere Wertschätzung entgegenbringen, gewinnt diese Art von sunna an Bedeutung, im Zusammenhang mit dem Koran. Denn, „nach ½anafitischer Auffassung vermag eine sunna maÊhÚra, koranische Bestimmungen zu modifizieren“.[21]
Bis hierhin bezogen sich die Ausführungen auf die Anzahl der Überlieferungsketten und die daraus resultierende Kategorisierung der Überlieferungen. Mit Abnahme der Anzahl der sanad einer bestimmten Überlieferung steigt das Interesse an den einzelnen Überlieferern. Das heißt, der rÁwÍ wird einer genauen Überprüfung (ýar½ wa taþdÍl) unterzogen.
5. Die Eigenschaften eines rÁwÍ
Da in dieser Arbeit versucht wird, die spezifische Sichtweise der ¼anafiten aufzuzeigen, soll auf zwei Aspekte besonders eingegangen werden. Beide beziehen sich auf Eigenschaften, die den rÁwÍ glaubwürdig und kompetent erscheinen lassen sollen.
[...]
[1] Zu diesem Thema siehe Sezgin, Band III, S. 37–50
[2] Gemeint ist damit, dass der Lehrer seinem Schüler den Stoff diktiert.
[3] Beroje: Re’y Hadîs TartıÐmalarinda Hanefi ve Ëâfiîler, S. 53
[4] Ünal: Imam Ebu Hanife’nin Hadis AnlayıÐı, S. 258
[5] Für eine Einführung in die Thematik siehe die beiden Aufsätze von J. Schacht: AȽÁb al-ra’y in EI² I:691b und Ahl al-¼adÍÝh in EI² I:258b
[6] Ünal: Imam Ebu Hanife’nin Hadis AnlayıÐı, S.76
[7] TadrÍbu ar-rÁwi fi šar½i taqrÍbi an-NawawÍ, Kairo 1385/1966 Band 1 S. 41
[8] E.Geoffroy: al-SuyÚÔÍ in EI², Band IX, S. 913a
[9] KirbaÐoýlu: Hadis ilminde metodologie sorunu S. 433
[10] KirbaÐoýlu: Hadis ilminde metodologie sorunu S. 432 f.
[11] J.Robson, ¼adÍth in EI² Band III, S. 27a
[12] Vgl. Kocyiýit: Hadis usülü, S. XIII
[13] siehe Fußnote 10
[14] Krawietz: S 135
[15] Dies ist die allgemeine Überzeugung der Mehrheit der Gelehrten. Für andere Auslegungen siehe as-Sara¿sÍ, uÈÚl, Band I S. 291
[16] Koçyiýit: Hadîs Usûlü, S. 22
[17] Also die sunna, die auf Einzeltraditionen zurückgeführt wird. Weitere Synonyme sind ½adÍÝ al-Á½Ád oder ¿aber al-wÁ½id. Für detailliertere Informationen siehe Krawietz: S. 141
[18] Bei Sprichwörtern und Überlieferungen, die unter dem normalen Volk bekannt waren, aber nicht echt sind. Wie z. B. „man ‘arafa nafsahu faqad ‘arafa rabbahu“. Siehe hier auch Koçyiýit: Hadîs Usûlü, S. 24
[19] Krawietz: S. 149, Ünal: Ïmam Ebu Hanife’nin Hadis AnlayıÐı S. 131
[20] Idee und Entwurf dieses Organigramms stammen vom Verfasser dieser Arbeit.
[21] Für tiefer gehende Ausführungen und einige Beispiele siehe Krawietz: S. 151