Die Identitätsfrage nach dem „Wer bin ich?“ ist eng verbunden mit den Fragen „Wo komme ich her?“ und „Wo bin ich?“. Die Herausforderungen an individuelle und kollektive Identitäten sind mit dem Prozess der Globalisierung gewachsen, und die Schaffung von Identifikationsräumen inmitten einer multikulturellen Gesellschaft und komplexen Vernetzung gestaltet sich zunehmend schwieriger und konfliktreicher. In seiner Rede zum Thema „The City and the Quality of Life“ stellt PASCAL LAMY Städte als lokale Verankerungen in einem globalen Netzwerk heraus. Vor allem Megastädte, hochkomplexe Siedlungskörper mit einer extremen Dynamik, stellen als Orte von Identitätskonstruktion eine große Herausforderung für das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven dar. In dieser Hinsicht fällt ein besonderes Augenmerk auf Los Angeles, da die Stadt zu einer der schnellst wachsenden, ethnisch diversifiziertesten und räumlich weitläufigsten Megastädte der Welt geworden ist.
Die theoretischen Grundlagen für die Konstruktion von Identität und die Differenzierung von Raumbezügen werden in Kapitel 2 dargestellt. Zunächst wird die Bildung personaler Identität beschrieben; bei der Betrachtung kollektiver Identität liegt der Schwerpunkt auf der Herausstellung des Konzeptes der ethnischen Identität. Anschließend werden Raumkategorien und ihre Grenzen als Ausdruck der geographies of power diskutiert. In Kapitel 3 wird die „Megastadt“ als Ort von Identifikation und Identität thematisiert. Unter den Vorzeichen der Globalisierung werden soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse beschrieben, die zur Herausbildung einer Megastadt mit Global City-Funktion führen können. Das 4. Kapitel gibt exemplarisch die dynamische Entwicklungsgeschichte von Los Angeles unter besonderer Betrachtung des wirtschaftlichen Aufschwungs und ihres Aufstiegs zu einer Megastadt bzw. Global City wider.
Im Zuge der Schilderung der Immigrationsgeschichte und der besonderen Betrachtung der gesetzlichen Rahmenbedingungen seit Mitte des 19. Jh. werden Los Angeles und Kalifornien in ihrer Sonderstellung als primäre Einwanderungsgebiete der USA positioniert. Die vierte Einwanderungswelle nach 1965 hat zu einer Umgestaltung der ethnischen Landkarte der Stadt und des Bundesstaates geführt und sie zu multikulturellen Räumen ohne ethnische Mehrheit gemacht (Kapitel 5). Im 6. Kapitel werden am Beispiel dreier ethnischer Gruppen im L.A. County Identitätskonstruktion und Identifikationsmuster untersucht.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Diagrammverzeichnis
1. Einleitung
2. Identität und Raum
2.1 Theoretische Konzepte von Identität
2.1.1 Fremdansicht und Eigenvorstellung
2.1.2 Personale Identitätsbildung in sozialen Umwelten eines Gesellschaftssystems
2.1.3 Formen der Identität: kollektive Identitäten
2.1.3.1 Konstruktion kollektiver Identitäten
2.1.3.2 Räumliche Ebenen kollektiver Identität
2.1.4 Kulturelle und ethnische Identität
2.2 Raum
2.2.1 Ebenen von Räumlichkeitssinn
2.2.2 Grundlagen und Ausdruck von Ortssinn als identitätsformendes
Element
2.3 Raum und Identität im Diskurs von Migrationsprozessen
2.4 (Nicht-)Identifikation
2.5 Repräsentationsformen von Identität im Raum
2.6 Die Stadt als Ort von Identitätskonstruktion
3. Megastädte und Fragmentierung
3.1 Megastädte – städtische Phänomene des neuen Jahrtausends
3.1.1 Definition des Begriffs „Megastadt“
3.1.2 Die Entwicklung von Megastädten weltweit
3.1.3 Die Entwicklungsdynamik der Megastädte
3.1.4 Megastädte der Ersten und Dritten Welt
3.1.5 Die physiognomische Struktur von Megastädten
3.2 Megastädte im Zeitalter der Globalisierung
3.2.1 Definition des Begriffs „Globalisierung“
3.2.3 Der Begriff „Global City“ in Abgrenzung zum Begriff „Weltstadt“
3.3 Fragmentierung als geographischer Stadtentwicklungsprozess am Beispiel von Los Angeles
4. Los Angeles
4.1 Los Angeles heute – Zahlen und Fakten
4.2 Gründung der Siedlung und Entwicklung bis
4.3 Die Entwicklung der Siedlung, des Transportwesens und der Wirtschaft (1850 bis 1930)
4.4 Die Entwicklung zu einer Megastadt
5. Demographische Entwicklungen in den USA im Zuge von Wanderungsbewegungen
5.1 Internationale Einwanderungswellen in der amerikanischen
Geschichte
5.2 Einwanderung nach 1965 (Die 4. Welle der jüngeren Immigrationsgeschichte)
5.2.1 Nationale demographische Komposition
5.2.2 Einwanderungsbewegungen nach und Binnenwanderungen aus Kalifornien
5.2.3 Einwanderungsbewegungen in Los Angeles und demographische Komposition
6. Ethnische Identitäten und Identifikationsräume in Los Angeles
6.1 Identität von Chinese-Americans
6.1.1 Die frühe Einwanderungsgeschichte als Grundlage der Identitätsformung chinesischer Einwanderer in die USA (1850 – 1965)
6.1.2 Der chinesische ethnoburb von Monterey Park
6.2 Crews und Gangs: Territorien als Identifikationsraum von Gruppen der youth culture
6.3 Zusammenfassende Betrachtung
7. Fazit: Los Angeles, ein Mosaik ethnischer Identitäten
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Bevölkerung der größten Städte der Erde mit über 10 Mio. Einwohner, 1950, 1975, 2001 und 2015 (in Mio.). (UN 2002)
Tabelle 2: Auflistung der Weltstädte nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung (The GaWC Inventory) (GaWC 1999)
Tabelle 3: Die zehn größten Agglomerationen der Vereinigten Staaten (in Mio.) (UN 2002: 129f)
Tabelle 4: Entwicklung der City of Los Angeles und der Metropolitan Area (Hahn 2004: 308, USCB 2000)
Tabelle 5: Entwicklung der Rechtslage zur US-amerikanischen Einwanderungspolitik (eine Auswahl) (Gamerith 2004, Pedraza 1996, Murswieck 2004)
Tabelle 6: Zusammensetzung der kalifornischen und US-amerikanischen Bevölkerung nach ethnischen Merkmalen, 2000 (USCB 2000)
Tabelle 7: Bevölkerungsentwicklung von Kalifornien, 1850-2000 (Thieme et al. 2003: 29)
Tabelle 8: Anteile an der hispanischen Bevölkerung, 2000 (Angaben in %) (USCB 2000)
Tabelle 9: Ethnische Zusammensetzung der City of Los Angeles , des Los Angeles County und der CMSA-Los Angeles, 2000 (USCB 2000)
Tabelle 10: Konstitutive Momente im Einwanderungsprozess (eigener Entwurf)
Tabelle 11: Ethnische Zusammensetzung von Monterey Park, 1960-2000 (Saito 1994: 234, USCB 2000)
Tabelle 12: Zusammensetzung der Asian-American population von Monterey Park, 1970-2000 (Saito 1994: 237, USCB 2000)
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Megastädte mit 5, 8 und 10 Mio. Einwohnern (2000) (Kraas 2003: 8)
Abbildung 2: Megastädte mit 5, 8 und 10 Mio. Einwohnern (2015) (Kraas 2003: 8)
Abbildung 3: Stadtmodell der Los Angeles School of Urbanism (Dear et al. 1998 in Fröhlich 2004: 51)
Abbildung 4: Satellitenaufnahme von Los Angeles in seinen naturräumlichen Gegebenheiten
Abbildung 5: Die City of Los Angeles (rot) und County (blau) als Bestandteil der kalifornischen Counties (grau) (Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/5/53/Los_Angeles_Lage.png, besucht am 14.11.2006)
Abbildung 6: Die metropolitane Region Los Angeles (CMSA) mit ihren fünf Counties (eigene Ergänzungen) (Quelle: (
Abbildung 7: Monterey Park (rot) im Los Angeles County (Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/a/a2/CAMap-doton-Monterey_Park.png, besucht am 15.11.2006) 89
Abbildung 8: Lage von Boyle Heights in der City of Los Angeles (eigene Ergänzung) (Quelle: http://www.laalmanac.com/LA/lamap2.htm, besucht am 17.11.2006 ) 100
Abbildungen auf der Titelseite entstammen den folgenden Internetseiten (besucht am 22.11.2006):
http://members.tripod.com/daveofcali/laart.html (Gemälde);
http://www.fotocommunity.de/pc/pc/extra/search/options/YTozOntzOjg6ImFkdmFuY2VkIjtzOjE6IjEiO3M6MTI6InNlYXJjaHN0cmluZyI7czoxMToiTG9zIEFuZ2VsZXMiO 3M6Njoic3VibWl0IjtzOjY6InN1Y2hlbiI7fQ/display/ 3183741 (Mao’s Kitchen);
http://members.tripod.com/daveofcali/lastreetscene.html (Straße); http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5e/College_Street_and_Broadway%2C_Chinatown%2C_LA.JPG (Straßenschild); http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Los_Angeles_
Basin_from_Mulholland_Pan.jpg (Los Angeles Basin); http://members.tripod.com/daveofcali/downtownculturalcenters.html (Olvera Street)
Diagrammverzeichnis
Diagramm 1: Drei parallele Prozesse der Aufrechterhaltung von ethnischer Identität: nach Innen gerichtete Identifikation (1), nach Außen gerichtete Abgrenzung (2), auf einander ausgerichtete Interaktion (3) (eigener Entwurf) 26
Diagramm 2: „Ort“ als Konzept von meeting-place (eigener Entwurf) 31
Global networks must begin and end somewhere. So the emergence of the global dimension in the lives of our societies does not mean the disappearance of locality … Cities are anchorage points for globalization par excellence because few human territories can offer such complex facilities, built up over time, offering so many facets, both material and conceptual, inherited and innovative. In short, our territories, our societies, are more and more interdependent, and it is in the cities that this interdependence is developing, forging links, intensifying.
(Pascal Lamy, Generaldirektor der WTO[1], 2006)
1. Einleitung
Die Identitätsfrage nach dem „Wer bin ich?“ ist eng verbunden mit den Fragen „Wo komme ich her?“ und „Wo bin ich?“. Die Herausforderungen an individuelle und kollektive Identitäten sind mit dem Prozess der Globalisierung gewachsen, und die Schaffung von Identifikationsräumen inmitten einer multikulturellen Gesellschaft und komplexen Vernetzung gestaltet sich zunehmend schwieriger und konfliktreicher. In seiner Rede vom 18. Mai 2006 in Genf auf dem WTO-Forum zum Thema „The City and the Quality of Life“ stellt Pascal Lamy Städte als lokale Verankerungen in einem globalen Netzwerk heraus. Vor allem Megastädte, hochkomplexe Siedlungskörper mit einer extremen Dynamik, stellen als Orte von Identitätskonstruktion eine große Herausforderung für das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven dar. In dieser Hinsicht fällt ein besonderes Augenmerk auf Los Angeles, da die Stadt zu einer der schnellst wachsenden, ethnisch diversifiziertesten und räumlich weitläufigsten Megastädte der Welt geworden ist.
Die theoretischen Grundlagen für die Konstruktion von Identität und die Differenzierung von Raumbezügen werden in Kapitel zwei dargestellt. Zunächst wird die Bildung personaler Identität beschrieben; bei der Betrachtung kollektiver Identität liegt der Schwerpunkt auf der Herausstellung des Konzeptes der ethnischen Identität. Anschließend werden Raumkategorien und ihre Grenzen als Ausdruck der geographies of power diskutiert. In Kapitel drei wird die „Megastadt“ als Ort von Identifikation und Identität thematisiert. Unter den Vorzeichen der Globalisierung werden soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse beschrieben, die zur Herausbildung einer Megastadt mit Global City-Funktion führen können. Das vierte Kapitel gibt exemplarisch die dynamische Entwicklungsgeschichte von Los Angeles unter besonderer Betrachtung des wirtschaftlichen Aufschwungs und ihres Aufstiegs zu einer Megastadt bzw. Global City wider.
Im Zuge der Schilderung der Immigrationsgeschichte und der besonderen Betrachtung der gesetzlichen Rahmenbedingungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden die Stadt Los Angeles und der Bundesstaat Kalifornien in ihrer Sonderstellung als primäre Einwanderungsgebiete der Vereinigten Staaten positioniert. Die vierte Einwanderungswelle nach 1965 hat zu einer Umgestaltung der ethnischen Landkarte der Stadt und des Bundesstaates geführt und sie zu multikulturellen Räumen ohne ethnische Mehrheit gemacht. Diese Entwicklungen werden in Kapitel fünf beschrieben. Im abschließenden sechsten Kapitel werden am Beispiel dreier ethnischer Gruppen in den Städten und Vororten des Los Angeles County die Identitätskonstruktion und verschiedene Identifikationsmuster in städtischen Fragmenten untersucht.
2. Identität und Raum
Der Raum, in dem man lebt, hat Einfluss auf die Konstruktion von Identität und formt Bestandteile dessen, was einen Menschen oder eine Gruppe ausmacht. Raum und Identität stehen in Wechselwirkung, und Ort bzw. Örtlichkeit bekommt eine prägende und gestaltende Aufgabe in der Konstruktion von Identität. Welcher Bezug zwischen Identität und Ort besteht, soll sowohl generell als auch unter dem besonderen Aspekt der Globalisierung als Faktor der Veränderung herausgestellt werden. Die beiden Komponenten Identität und Raum sind komplementär und sollen daher auch hier zusammen betrachtet werden.
Zwei Möglichkeiten, Raum-Identitätsbezüge herzustellen, werden von Twigger-Ross und Uzzell benannt, indem sie zwischen Raumidentifikation (place identification) und Raumidentität (place identity) differenzieren. Raumidentifikation wird als soziale Kategorie verstanden und drückt sich in der „Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, die durch die örtliche Bestimmung (location) definiert sind“, aus (1996: 206). In Ergänzung zum Verständnis des Ortes als Teil der sozialen Identität wird die Raumidentität als zweite Möglichkeit in der Wechselbeziehung von Raum und Identität gesehen. Raumidentität als Aspekt der Identität einer Person drückt sich somit in der „Sozialisation der Person mit ihrer physischen Umwelt“ aus (ebd.: 206). In welchem Maße Raumbezüge Aspekte der Identität beeinflussen, wird an vier Prinzipien in einem Modell der Identitätsformung dargestellt. Breakwell (in Twigger-Ross et al.) benennt in seinem Identity Process Model Selbstwert (self-esteem), Selbstwirksamkeit (self-efficacy), Einzigartigkeit (distinctiveness) und Stetigkeit bzw. Beständigkeit (continuity), die sich im Sozialisationsprozess entwickeln. Die Identifikation mit einem bestimmten Raum soll demnach das Selbstwertgefühl bestärken und zu einer positiven Bewertung einer Gemeinschaft (und nicht bloß eines Raumes) führen. Das Erfüllen der sozialen Funktion innerhalb des Raumes und der Glaube an die Fähigkeiten, den Herausforderungen begegnen zu können, bestärken das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Identifikation und Nichtidentifikation, beides Abgrenzungsprozesse zum Anderen, bestärken die spezifische bzw. einzigartige Beziehung zur Umwelt, die sich von anderen Beziehungsmustern bzw. Lebensstilen und Lebensarten abhebt. Raumidentität konstruiert sich aus Bezügen zur Genese von Räumen, welche eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellen, und aus einer Kontinuität des Raumes und damit einem Gefühl der Kontinuität des Selbstkonzeptes (individuell und kollektiv), aus der Identität entsteht (Beständigkeit von Raumreferenz zur Geschichte). Kontinuität des Selbst äußerst sich zusätzlich darin, in wie weit das Selbst in einem Raum ausgedrückt und verwirklicht werden kann (Beständigkeit von Raumkongruenz mit dem Selbst). (ebd.: 206-209)
Nach einer Einführung theoretischer Konzepte von Identitätskonstruktionen (2.1), werden unter 2.2 Raumebenen und raumrelevante Prozesse diskutiert. 2.3 thematisiert die Wechselwirkung von Migrationsprozessen und Raumbezügen und 2.4 das Thema „Identifikation“ bzw. „Nicht-Identifikation“. Wie Identität repräsentiert wird und sich im Raum verankert, wird unter 2.5 beschrieben. Mit der Betrachtung der Stadt als Ort von Identitätskonstruktion (2.6) findet die Überleitung zum dritten Kapitel „Megastädte und Fragmentierung“ statt.
2.1 Theoretische Konzepte von Identität
Das Thema Identität steht für eine Vielzahl von theoretischen Konzepten, die keine eindeutige und allgemeingültige Definition ermöglichen. Die Aspekte und Definitionen hängen vom Blickwinkel der Betrachtung und der jeweiligen Wissenschaft ab, die sich mit diesem Thema beschäftigt. In dieser Arbeit sollen die psychologische, soziologischen und geographische Perspektive und Dimension von Identitätskonstruktion erläutert und zusammengebracht werden. Die psychologische Betrachtungsweise ermöglicht, systematische und präzise Modelle und Konzepte zu betrachten, während die soziologische einen weiteren Winkel aufweist und Individuum bzw. Kollektiv im Zusammenhang mit dem sozialen und politischen Umfeld sieht und auch behavioristische Kategorien mit einbezieht. Die geographische Perspektive betrachtet Raumkategorien und -prozesse sowie Machtkonzentrationen und untersucht Repräsentationen von Identität und Identifikation im Raum. Der Begriff „Identität“ wird vom lateinischen Wort identitas (Wesenseinheit bzw. -gleichheit) abgeleitet und beschreibt eine Relation und Übereinstimmung bzw. Selbigkeit von Menschen bzw. Dingen. Im Folgenden werden Unterschiede bzw. Übereinstimmungen der Konstruktion von personalen und kollektiven Identitäten im Rahmen von Gesellschaft und Gemeinschaft herausgestellt.
In der Identitätskonstruktion auf der Basis interaktionistischer bzw. handlungsorientierter sozialwissenschaftlicher Konzepte sind bezüglich der Identität eines Individuums zwei Komponenten zu betrachten. Nach Mead wird zwischen der persönlichen und der sozialen Identität unterschieden. Diese Betrachtung ist in so weit relevant, als sie die Grundhypothese formuliert, der Mensch sei, nach Aristoteles, ein soziales und gesellschaftliches Wesen (zoon politicon) und von seiner Gesellschaft geprägt und auf sie angewiesen. In dieser Annahme liegt ein wesentliches Element für die Konstruktion von kollektiven Identitäten und Gemeinschaften, deren Einbettung in den theoretischen Zusammenhang der personalen Identitätskonstruktion daher als sinnvoll erscheint.
Das Selbst eines Individuums ergibt sich nach Mead aus dem Zusammenspiel dieser beiden Komponenten: das „I“ ist der subjektive Anteil mit eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen, während das „Me“, als objektiver Anteil, sowohl durch Erfahrungen mit, als auch Bezügen zum Anderen als Teil des Selbstkonzepts aufgebaut wird (der Vorstellung folgend, man finde über das Du zum Ich). Das Konzept wird sowohl durch Gruppenzugehörigkeit, Zuschreibungen und Einstellungen, die sich aus dieser Zugehörigkeit ergeben, als auch durch Erwartungen an die Umwelt und die der Gesellschaft an das Individuum bestimmt. Mead betont die Wichtigkeit der Fähigkeit zur Selbstreflexivität. Sie bildet sich in der Interaktion heraus und ermöglicht, die Haltung zum Anderen an der Haltung zu sich selbst abzugleichen. In diesem Prozess der Angleichung durch Reflexion kommen Interaktion und Kommunikation als Bestandteile von Gestaltung sozialer Bedeutungswelten eine zentrale Rolle zu, da sich darüber der Austausch vornehmlich sprachlich vermittelter Symbole, Bedeutungsgehalte, Erwartungen und Wertevorstellungen vollziehen (Mertens 1998: 17f.)
Die Komplexität und erschwerte Begriffsdefinition von Identität liegt darin begründet, dass Identität ein sozialer Prozess ist. Identitäten werden in Wechselbeziehungen mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten gestaltet, und da Gesellschaft nicht statisch ist, sondern sich stetig verändert, gilt dies auch für Identitätskonstrukte (Parekh 2000: 148). Persönliche und kollektive Identitäten werden stets geformt und entweder bewahrt oder weiter verändert. Dies gilt insbesondere für post-moderne Gesellschaften im 21.Jh., die sich im Zuge der durch die Globalisierung entstandenen Mobilität und Pluralität in einem kontinuierlichen (Re-)Konstruktionsprozess befinden, da sowohl Individuum als auch Gruppe verschiedenste Grundbezüge haben und mehre Teil-Identitäten haben können (Christmann 2003: 9).
Ein wesentliches Element in der Identitätskonstruktion bleibt trotz der gegenwärtigen Pluralität der historische Aspekt einer gemeinsamen Geschichte einer Gruppe. Geschichte ermöglicht die Fortschreibung von Identitäten und erlaubt damit eine Kontinuität, die wie oben erwähnt, einen wichtigen Bestandteil des Identitätsprozesses darstellt. Ein gemeinsames historisches Erbe und die kollektive Erinnerung spiegeln sich in der Sozialstruktur, in der Sprache und in der Kultur sowie Ritualen wider, in denen die eher abstrakte Geschichte konkret wird.
Strauss betont die Kommunikation als Bestandteil von Interaktion, die Identität schafft, während Luhmann so weit geht und sagt, dass „alles, was Kommunikation ist, Gesellschaft [ist]“ (1984: 555). Erikson spricht von Identität als dem Bewusstsein vom inneren Sich-Selbst-Gleichseins in einem Entfaltungsprozess innerhalb einer Sozialstruktur: „[…] Als Vollmitglied einer Kulturgemeinschaft eben durch […] Teilhabe an „Gruppenidentität“, vermag der einzelne auf Dauer Genugtuung, Sinn und ein tiefes Gefühl der Selbstachtung zu gewinnen.“ (Erikson 1976: 256, Christmann 2003: 8)
Dies führt zur Definition von Castells, der Identität zum einen als Prozess der Sinnkonstruktion und zum anderen als Quellen von Sinn bezeichnet, die im Verlauf eines Individuationsprozesses konstruiert werden (2002: 8f.). Der Mensch handelt stets auf der Grundlage von Bedeutungen, die Dinge für ihn haben, und in diesem sinngetragenen Miteinander von Individuen und Nebeneinander von Gemeinschaften können Individuen und Gruppen verstehen, wer sie selbst sind. Wahrnehmung und Bedeutung als Bestandteil von identitätsformenden Machtbeziehungen nehmen damit neben den sozialen und geographischen Aspekten einen entscheidenden Einfluss auf den Prozess der Identitäts-konstruktion sowohl von Individuen als auch von Gemeinschaften.
2.1.1 Fremdansicht und Eigenvorstellung
Die Konstruktion von Identität ist nicht nur ein nach innen gerichteter Prozess, sondern definiert sich auch nach außen hin. Für die Identität einer Person und Gemeinschaft gibt es eine Vielzahl von konstitutiven Momenten: neben der besonderen Beziehung zu einer bestimmten Stadt, einer Landschaft oder einem Land und der spezifischen Lebensgeschichte und den damit verbundenen Erfahrungen sind es das Bewusstsein ihrer sozialen Stellung und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe; es sind ihre Hoffnungen und Erwartungen an das Leben und ihre Umwelt und ihre Neigung zu und ihr Ausdruck einer bestimmten Lebensart und die Verbundenheit mit einer bestimmten Lebensform. In diesem sozialen Geflecht von Gesellschaft entsteht das komplexe Bewusstsein des eigenen Selbst mit dem von der Gesellschaft geformten („Me“) und dem individuellen („I“) Persönlichkeitsanteil.
Identität ist ein Konzept, welches sich aus Fremdansicht und Eigenvorstellungen ergibt. Beide Formen der Ansicht führen zu einem Selbstverständnis, das sich nach Mead für das Individuum aus der Interaktion mit der konkreten Bezugsperson, dem „signifikant Anderen“, und mit der Gesellschaft, dem „verallgemeinerten Anderen“, entsteht (Thomas 1992: 297f.). Dieser Identifikationsprozess ist mit einem emotionalen Prozess verbunden, welchen Rutherford wie folgt beschreibt: „the centre expels its anxieties, contradictions and irrationalities onto the subordinate terms [the Other], filling it with the antithesis of its own identity; the Other, in its very alienness, simply mirrors and represents what is deeply familiar to the centre, but projected outside of itself.” (1990: 22). Als Ergebnis des Prozesses aus dem Wechselspiel von Fremdzuschreibungen und Eigendefinitionen wird bei der Identitätskonstruktion entschieden, welche zugeschriebenen Attribute hervorgehoben oder abgeschwächt werden. Dürr verweist insbesondere auf die Relevanz des Fremdbilds, welches das soziale Rollenverständnis einer Gemeinschaft und die Repräsentationen ihrer Eigensicht prägen, um das Fremdbild zu korrigieren oder zu relativieren. „Durch die Kontrastierung von Eigensicht und Fremdsicht offenbart sich die Dynamik, die der Konstruktion von Identität innewohnt (2002: 330).
2.1.2 Personale Identitätsbildung in sozialen Umwelten eines Gesellschaftssytems
Identitätsausbildung als Sinnkonstruktion (nach Castells) findet in gesellschaftlichen Netzstrukturen statt, die im Folgenden soziologisch näher betrachtet werden sollen. Gesellschaft ist ein vielmaschiges Netz von Beziehungen von Gemeinschaften und Individuen. Der Sozialwissenschaftler Parsons beschreibt in seiner System-Theorie die Gesellschaft als ein System in einem Beziehungsgeflecht bzw. Wirkungsgefüge, in welchem die diversen einzelnen Elemente eine übergreifende Gesamtheit bilden. Gesellschaft ist ein hochkomplexes Beziehungsgefüge mit vielfältigen Funktionen. Ziel des Funktionsgefüges ist die Aufrechterhaltung und Selbstproduktion des Systems in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Damit ist nach Mead die Gesellschaft die Summe der „verallgemeinerten Anderen“ (Thomas 1992: 297). In Hinblick auf diese gesellschaftlichen Funktionen gibt es feste Verhaltenserwartungen, die als Rollen bezeichnet werden und an eine gesellschaftliche Position gebunden sein können. Die Rolle umfasst die Erwartungen an den Inhaber einer bestimmten Position in einem sozialen Gefüge (Thomas 1991: 91). Rollen werden von Normen definiert, die ihre Struktur und Gültigkeit durch Institutionen und Organisationen der Gesellschaft erhalten (Castells 2002: 9). Sie regulieren das Deuten und Gestalten und beeinflussen Verhalten (Korff 1985: 114). Verhaltensregeln, Konventionen und Sitten und Bräuche sowie Tabus sind damit Ausdrücke eines institutionalisierten gemeinsamen Bewusstseins. Sie sind in der gemeinsamen Anerkennung begründet – oder sind es nicht. Das Teilen gemeinsamer Erwartungen an Verhalten und Denken erfordert die „Chance auf Anerkennung“ (ebd.: 105-108). Folglich gilt es zu unterscheiden, was einerseits in einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur als gemeinsame und geteilte Erwartung über angemessenes Verhalten angesehen wird und was andererseits gesellschaftlich als Überzeugung faktisch gelebt wird und sich unter kollektivem Erwartungsdruck Geltung verschafft. Der Grundcharakter von Normen bleibt auch in multikulturellen Gesellschaften gleich: sie sollen Muster bzw. Strukturen der Handlungsorientierung und des Denkens schaffen, damit die Fähigkeit erworben wird, als soziale Wesen in einer Sozialordnung gemeinschaftlich zu agieren (Thomas 1991: 72ff.).
Die Einpassung in das Funktionssystem einer Gesellschaft bzw. der einen Gesellschaft ist im Zuge der Pluralisierung und gleichzeitigen Individualisierung erschwert. „Die von der industriellen Zivilisation geprägte Sozialstruktur moderner Gesellschaften ist sonach einer funktionalen Differenzierung und, hierzu komplementär, von einer Pluralität an Werten, Normen und Optionsmöglichkeiten bestimmt […]“ (Mertens 1998: 145). Die wachsende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und folglich die Fragmentierung der Teilsegmente stellt neue Herausforderungen an die Interaktion als verbindendes Element zwischen den Teilelementen. Das Miteinanderumgehen von Personen in bestimmten Situationen ist von ihren kulturellen Vorgeschichten und jeweiligen kulturellen Mustern abhängig sowie von ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezügen (Institutionen, Rollen, Strukturen etc.). Neben diesen soziokulturellen sind die physischen Gegebenheiten von Orten und physischen Symbole (Gegenständen) Interaktionssituationen als Kontexte vorgeordnet. Soziale Umwelten sind nicht an Räume gebunden, werden aber im Zusammenhang mit ihnen bestimmt. Der physische und gesellschaftliche Lebensraum zusammen mit sozialen Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen ist ausschlaggebend dafür, wie Individuen und Gemeinschaften/Gesellschaften ihre Umwelt wahrnehmen und sich in ihr entfalten.
Ähnlich der Ebenen von Räumlichkeitssinn (siehe 2.1.3.2) ist der Mensch in menschliche ökologische Systeme eingebunden, die Bronfenbrenner in vier verschiedene Arten von Subsystemen unterteilt. Im Mikrosystem erfüllt der Mensch seine gesellschaftliche Rolle und gestaltet seine zwischenmenschlichen Beziehungen. Es ist derjenige Lebensbereich, der durch seine ihm eigentümlichen physischen und symbolischen Merkmale gekennzeichnet ist. Das Mesosystem umfasst die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Arbeit etc.). Im Exosystem werden Lebensbereiche von Ereignissen beeinflusst, an denen die Person nicht selbst beteiligt ist. Relevant im Diskurs dieser Arbeit ist das Makrosystem. „Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedriger Ordnung […], die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen könnte, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien.“ (Bronfenbrenner 1981: 38-42, Mertens 1998: 117)
Identitäten, seien sie personal oder kollektiv, sind sowohl multipel (Smith 1991: 4) als auch widersprüchlich (Hall 1994: 186): Das Selbst ist aus verschiedenen vielfältigen Identitäten und Rollen zusammengesetzt (Familie, Klasse, Religion, Geschlecht etc.), die sich überschneiden und ‚zerstreuen’.
2.1.3 Formen der Identität: kollektive Identitäten
Personale Identität ist immer Teil von kollektiven Identitäten, da das Individuum ein gesellschaftliches Wesen ist. Die obige Beschreibung personaler Identitätskonstruktion diente als Basis und Ausgangspunkt für das Verständnis kollektiver Identitätskonstruktion, da das Individuum stets Mitglied eines Kollektivs ist und die Grundmuster für beide Identitätskonstruktionen gleich relevant sind. Die Eigenschaften des Individuums drücken sich, wie oben beschrieben, in seiner persönlichen (I) und seiner sozialen Identität (Me) aus, die von einer spezifischen Gruppenzugehörigkeit geprägt wird und deren Werte und Strukturen in den objektiven Anteil des Selbst übernommen werden. Gespeist wird die personale Identität von verschiedenen Arten kollektiver Identität. Soziale Identität ergibt sich damit immer aus der Summe verschiedener Identitäten, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen.
2.1.3.1 Konstruktion kollektiver Identitäten
Kollektive Identität ergibt sich aus spezifischen Gruppenzusammenhängen, die sich zum einen aus kulturellen Traditionszusammenhängen und zum anderen aus Zugehörigkeitsgefühlen zu einer Gruppe bzw. Gemeinschaft konstruieren. Christmann beschreibt sie als „’Diskursformationen’, die mit den gesetzten Symbolsystemen von Mitgliedern einer Kultur eng verbunden sind“ (2003: 9). Die kollektive Identität ist somit die Gesamtheit aller kulturellen Bezugspunkte, die ein ihr eigenes Wertesystem enthält (Wieviorka 2003: 163). Mit diesem Wertesystem kommt es zur Abgrenzung von anderen Werten, die Eigenständigkeit innerhalb symbolischer Grenzen ermöglichen soll. Nach Saurwein äußert sich die Verbundenheit und Eigenständigkeit in einem Gemeinsamkeitsglauben und einem speziellen Solidaritätsempfinden. „Der Begriff der kollektiven Identität bezieht sich auf Vorstellungen vom Gelten oder Geltensollen eines unterscheidbaren Kommunikations- und Handlungszusammenhangs, der ihre Teilnehmer durch spezifische Solidaritätserwartungen verbindet“ (1999: 9). Während personale Identitätskonstruktion eher ein nach Innen gerichteter Prozess ist, wird durch die Kommunikation als Symbol von Interaktion erst die Erzeugung und Wahrung von kollektiver Identität möglich, da auf diese Weise Werte und Lebensweisen und -arten nach Außen behauptet werden können. Sprache wird damit zu demjenigen Element, das Menschen an ihren Ort bindet, wenn die Ausprägung von Ort-Identität als Resultat von Kommunikation gesehen wird (Dixon et al. 2000: 32).
Als Basis für diese Identität nennt Saurwein die Wahrnehmung aktueller Problemlagen, die Vergegenwärtigung einer Kollektivgeschichte und die zukunftsorientierten Projektionen kollektiver Ideale (1999: 10). Der Prozess der Konstruktion kollektiver Identität wird demnach von der kollektiven Vorstellung verbindender historischer Merkmale, der gemeinsamen Lebenssituation und der geteilten Werten und Visionen begleitet.
In der Abgrenzung zu anderen Kollektiven beschreibt Wieviorka vier Prozesse, durch die kollektive Identität positioniert und behauptet werden kann. Bedrohungen von Außen und Krisen des Kollektivs von Innen führen zu einer Verhaltensweise der Abwehr, welche nach Castells zur Ausprägung einer Widerstandsidentität führen kann (2002: 10). Castells betont die Entwertung und Stigmatisierung des Aufbaus von Identität durch übergeordnete Machtakteure, jedoch prägen Widerstände auf gleichgeordneter Ebene innerhalb des hierarchischen Systems ebenfalls die Konstruktion von Identität. Hier kann der Widerstand in einen nachfolgenden Prozess der offensiven Expansion der Gesellschaft und ihren Ideen und Konzepten zu Konflikten mit anderen übergehen, die in Gewalttaten eskalieren können. Bildet sich Identität in einer Konfliktbeziehung aus, so sollen durch Abwehr und Gegenangriff demokratische Anerkennung und ihre Werte eingefordert werden. Dies resultiert entweder in der Assimilation und der damit verbundenen Auflösung des Kollektivs oder im Bruch mit der Gesellschaft. Castells zeigt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Herausbildung einer so genannten Projektidentität auf, die sich ebenfalls aus Konflikten konstruieren kann, aber zum Aufbau einer neuen Identität führt, welche die „Lage in der Gesellschaft neu bestimmt, und damit eine Transformation der gesamten Gesellschaftsstruktur zu erreichen [sucht]“ (2002: 10). Findet keine Transformation durch Integration bzw. keine Assimilation statt, kann dies zum Rückzug des Kollektivs und zu einer Konzentration auf sich selbst führen, und es kann zum Bruch mit der Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppen in Folge von Unterdrückung, Ausgrenzung und Intoleranz kommen (Wieviorka 2003: 164).
Die Behauptung und Aufrechterhaltung von kollektiver Identität mit ihren Eigenwerten ist eng verbunden mit Fragen der Achtung (bzw. Missachtung oder Verachtung), der Toleranz (bzw. Intoleranz) und der Akzeptanz (bzw. Ablehnung oder Bekämpfung), die im Abgrenzungsprozess mit dem „Anderen“ und „Fremden“ aufgeworfen werden. Die Zuweisung oder Verweigerung von Anerkennung und gesellschaftlicher Achtung ist ein soziales Unterfangen, welches politisch und wirtschaftlich nicht beeinflusst werden kann. Saurwein stellt den Konflikt kollektiver Identitäten als nach Innen und gleichzeitig nach Außen ausgerichtet dar: während nach Innen gewendet die Frage nach glaubwürdigen Selbstzuschreibungen als „eigenständiger Bezugspunkt gemeinsamen Erinnerns, gemeinsam geteilter Werte, sozialer Zugehörigkeit und darauf bezogener Solidaritätserwartungen“ gestellt wird, ist man bemüht, nach Außen eine Antwort bezüglich der Darstellung der eigenen Identität und der öffentlichen Anerkennung bzw. Bestätigung inmitten anderer potentiell konkurrierender Kollektive zu finden (2003: 12).
2.1.3.2 Räumliche Ebenen kollektiver Identität
Kollektive Identitäten bilden sich in Relation zu Raumkategorien, die eine lokale, regionale, nationale und globale Dimension haben. Im Zuge der Globalisierung werden Gesellschaften Bestandteil des global village, einer Umwelt, die aus der Entstrukturierung bestehender Systeme, der Auflösung bestehender kultureller Strukturen und der wachsenden Mobilität entsteht. Inwieweit jedoch von der Konstruktion einer globalen kollektiven Identität gesprochen werden kann, ist fraglich. Die Entwicklung von nationaler Identität hängt mit der Entstehung von Nationalstaaten zusammen und ist vom Staatsbegriff zu unterscheiden. Ihre Multidimensionalität benennt Smith mit fünf wesentlichen Eigenschaften: ein Territorium, das historisch gewachsen ist; gemeinsame geschichtliche Erinnerungen; eine gemeinsame öffentliche Kultur; eine gemeinsame bindende Gesetzgebung und eine gemeinsame Wirtschaft (1991: 14). Im Rahmen der Globalisierung werden jedoch nationale Identitäten und ihre Grenzen fraglich und verwundbar, da transnationale Unternehmen und internationale Gemeinschaften über sie hinausgehen und sie damit untergraben und aushöhlen. Konstruktivistische Konzepte der Konstitution nationaler Identität gehen von einer interaktiven und kommunikativen Konstruktion nationaler Identität aus. Dies trifft insbesondere auf Einwanderungsländer wie den USA zu, bei denen die nationale Kulturgemeinschaft der Akteure nicht auf deren Abstammungsgemeinschaften beruht, und es zunehmend durch die Vermischung neuer Kulturelemente zur Ausbildung hybrider Identitäten kommt (Osterhammel et al. 2003: 12). Nationale Identität ist damit in einem ständigen Wandel zwischen „Zugehörigkeit zur Nation, multiethnischen Bindungen und kosmopolitischem Empfindungsvermögen“ (Tomlinson 2003: 276). Eine Unterscheidung von nationaler Identität in die politische und kulturelle Dimension wird in Christmann vorgenommen: sie ermöglicht Kollektiven die Identifizierung mit Eigenschaften der „Staatsnation[2] “ und/oder der „Kulturnation“ (2003: 10f.). Smith ergänzt das, wie er es bezeichnet, „westliche“ Nationenmodell mit einer „ethnischen“ Konzeption von Nation, deren Ursprung er in Asien bzw. Osteuropa sieht. Es hebt sich von ersterem Modell insofern ab, dass Nation als „Gemeinschaft gemeinsamer Abstammung“ gesehen wird und man auch bei Emigration organischer Mitglied der Gemeinschaft bleibt, während im Modell der westlichen Welt Zugehörigkeit zu einer Nation mehr oder weniger wählbar ist (1991: 11). Nach diesem Verständnis kann es zur Herausbildung von Nationen in einer Nation kommen, einem Prozess, der für das Beispiel des Einwanderungslandes USA als Herausbildung von „separate Americas“ bezeichnet wird (Booth 1998a).
Für die Ausprägung einer regionalen Identität spielt der oftmals charakteristische Raum eine wesentliche Rolle als Bezugspunkt. Die Definition findet über die Zugehörigkeit zu sehr viel konkreter definierbaren Gruppen und über das spezielle soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben in und die eigene Geschichte von einer Region statt. Die Begrenzung einer Region scheint aber aufgrund der Vieldeutigkeit des Begriffs und der verschiedenen Bezugspunkte (wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch) schwierig zu sein. Paasi führt Identifikationselemente wie Vorstellungen von Natur und Landschaft, die Kultur, Sprache und Dialekt, die wirtschaftliche Situation, Peripherie-Zentrum-Beziehungen und Marginalität sowie die spezifische Geschichte an. Er betrachtet die Entstehung von regionaler Identität besonders in Hinsicht auf regionale Machtbezüge. Sie entsteht in einem Konfliktumfeld von territorialer Kontrolle (durch Regierungsgewalt insbesondere auf nationaler Ebene) und territorialer Identifikation (durch Widerstand auf lokaler Ebene): politische und wirtschaftliche Institutionen sowie prägende Elemente wie Sprache, Medien und Literatur agieren „von oben“ und stehen in einem Wirkungszusammenhang mit Aktionen der Bevölkerung „von unten“ (Paasi 2003: 476). Tomlinson spricht von der Wechselwirkung (interplay) von technologischem Antrieb zur Globalität und den entgegen gesetzten Kräften zur Lokalität, die sich im Widerstand durch die Macht lokaler Kultur äußert (2003: 270).
Lokale kollektive Identität hat mit dem Bild eines Siedlungskörpers im Kopf der Menschen zu tun. Anhand so genannter mental maps kann mittels kognitiver Landkarten die Wahrnehmung des Lebensumfeldes festgestellt und Aussagen über die Bezugspunkte und potentiellen Identifikationspunkte getroffen werden. Dazu gehören in erster Linie Orte und Institutionen, die die Daseinsgrundfunktionen[3] erfüllen, im Besonderen Wohn- und Arbeitsplatz. Historische Gebäude wie Kirchen und Schlösser, öffentliche Plätze, Bauwerke und Monumente sind traditionelle Symbole lokaler Identität. Neue Symbole können Flughäfen, Shopping Center (Malls), Entertainment Parks, spezifische kulturelle Viertel oder moderne architektonische Gebäude sein, um nur einige zu benennen. Christmann verweist darauf, dass sich lokale Identitäten aber weniger auf ganze Städte, sondern vielmehr auf Stadtteile, und Nachbarschaften bzw. Gesellschaften und ethnischen Bevölkerungsgruppen beschränken (2003: 11). Diese Arbeit ist auf der Ebene von Stadtvierteln angesiedelt und betrachtet im Kontext des urbanen Gesamtsystems im Besonderen die Identität in und Identifikation mit so genannten ethnoburbs, ethnischen Stadtvierteln, die sich im Zuge der verschiedenen Immigrationswellen in die Vereinigten Staaten herausgebildet haben.
Kollektive Identitäten entstehen und behaupten sich in gesellschaftlichen und geographischen Räumen, die in einem historischen Prozess der Veränderung und Umformung auf politischer, ökonomischer und kultureller Ebene stehen. Inmitten dieses Prozesses entwickeln Individuen und Gesellschaften ihre Identitäten, definieren spezifische Abgrenzungen und schaffen Identifikationsbezüge. Konstruktionen von kollektiver Identität unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Raumkategorien sind somit immer Ausdrücke von Machtkonstellationen (siehe 2.2.2).
2.1.4 Kulturelle und ethnische Identität
Kulturelle Identität umfasst die Definition einer Gesellschaft, die sich entlang der Merkmale von Klasse, Religion, Rasse, Sexualität, Geschlecht und ethnischer und nationaler Zugehörigkeit ausdifferenziert. Sie ist eine Form von kollektiver Identität, die im Teilen einer gemeinsamen Kultur eine Einheit von Selbst herausbildet, die andere Formen von Selbst beinhaltet, welche durch eine gemeinsame Geschichte, Raumzugehörigkeit und Herkunft verbunden sind. Die kulturelle Basis für soziale Gruppen- bzw. Gesellschaftsformung sind divers und mehrschichtig. Während Verwandtschaftsnetzwerke horizontal organisiert sind, sind Formationen in Bezug auf Klassenzugehörigkeit vertikal ausgerichtet. Das Verständnis von einer kulturellen Identität, die vor allem räumlich beschränkt und dadurch klar definiert war und insbesondere verschiedenartig ausgeprägt und autonom war, hat sich im Zuge der globalen Entwicklungsprozesse verändert.
Als Hauptquelle kultureller Identität nennt Hall nationale Kulturen als Ausdruck nationaler Identifikation (1994: 199). Mit der Verwundbarkeit nationaler Identität im Zuge der Globalisierung wird somit auch kulturelle Identität angegriffen und in Frage gestellt. Ob und wie weit kulturelle Identität im Zuge der Globalisierung zerstört oder aber generiert wird, hängt von der Betrachtungsweise ab, die Tomlinson zu häufig als „ethnozentrisch“ bezeichnet. Bindung an einen Raum und die verschiedenen Ausdrucksformen und Auswirkungen auf Selbstkonstruktionen müssen im kulturellen Kontext gesehen werden. Obgleich Globalisierung in erster Linie ein Prozess ist, der Länder der so genannten Ersten Welt voranbringt, so sind es dennoch nicht nur primär westliche Lebensstile, die verbreitet werden, „[but] the entire range of institutional features of cultural modernity[4] “ (1994: 271f.).
Im Zuge der Globalisierung und Pluralisierung bekommt in der Identitätsfrage einer zunehmend kulturell diversifizierten Gesellschaft der Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit besonderes Augenmerk, da das kulturelle Erleben in vielerlei Hinsicht aus den traditionellen Verankerungen bestimmter Räume und Orte herausgenommen und in eine anderen Kultur als neuer Bestandteil eingefügt ist. In Zeiten der Instabilität nationaler Identitäten durch die Dynamik und Komplexität der Globalisierung, entwickeln sich ethnische Gruppen als neue Bezüge für Identifikation. Diese wirken insbesondere in Einwanderungsgesellschaften wie den Vereinigten Staaten und in Städten mit hoher Einwanderung und ethnischer Vielfältigkeit der Bevölkerung wie Los Angeles als kulturell-politisch verbindende Kraft. Diese Herausbildung verschiedener neuer Identifikationspositionen erfordert die Stellung und Dominanz nationaler Identität als Ausdruck kultureller Identität heraus und schwächt nach dem klassischen Verständnis die Identifikation mit der Nation. Im Zuge der multikulturellen Zusammensetzung postmoderner Staaten und der Zunahme transnationaler Formen von Kulturen entstehen zunehmend hybride kulturelle Identitäten mit verschiedenen Nationenbezügen bzw. so genannte Bindestrich-Identitäten (Chinese-American, Deutsch-Türken etc.).
„Ethnizität“ oder „ethnische Identität“ sind keine neuen Begriffe; sie stehen jedoch für Konzepte, die vor allem in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit in Politik- und Gesellschaftswissenschaften und der Geographie erhalten haben. Dies hängt mit der Notwendigkeit zusammen, zunehmend diversifizierte bzw. fragmentierte Gesellschaften zu erklären und zusammenzuhalten. Es scheint, dass der Begriff der „kulturellen Identität“ vom zeitgemäßen Konzept der „ethnischen Identität“ als dem relevanteren abgelöst wird, da es Herkunft, Historie und Ursprungskultur genauer betrachtet. Das Konzept ordnet diese Faktoren in einen globalen Migrationszusammenhang ein und legt den Schwerpunkt auf Interaktionen zwischen Kollektiven.
„Ethnische Identität“ ist wie der der „Identität“ kein klar definierbarer Begriff. Er muss insbesondere bzw. ausschließlich im Kontext multikultureller Gesellschaften (von Einwanderungsländern wie den USA), als Ausdruck eines multiethnischen Gesellschaftsgefüges von Majorität und Minorität und kultureller Diversität verstanden werden, welches durch subkulturelle Kategorien (siehe oben) weiter ausdifferenziert wird. Damit sind ethnische Gruppen Subgruppen kultureller Kollektive (Smith 1991: 20). Multikulturalismus bezeichnet kulturelle Vielfältigkeit in Einwanderungsgesellschaften, deren Bevölkerungsgruppen sich entlang bestimmter ethnischer, kultureller oder religiöser Grenzen von Verhaltens- und Denkweisen differenzieren und sich von anderen Minderheiten bzw. der Majorität unterscheiden (Kofler 2002: 3).
Der Begriff „ethnisch“ wird vom griechischen Wort „ethnos“ abgeleitet und bedeutet Volk, aber auch Herkunft, Menschenmenge, Heiden oder Nation (Bolaffi et al. 2003: 94). In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde der Begriff zuerst nach dem Zweiten Weltkrieg benutzt und bezog sich auf die Einwanderer der zweiten Einwanderungswelle (Juden, Iren, Italiener), die als untergeordnet angesehen wurden. So erklärt sich zum Teil das fehlgeleitete Verständnis, es handele sich bei der Debatte um Ethnizität um Rassenbeziehungen oder Machtstrukturen von Mehrheiten und Minderheiten. Vielmehr handelt es sich um Klassifikationen von Menschen und um Gruppenbeziehungen und Gruppenidentifikation, in denen sowohl Minoritäten als auch Majoritäten ethnisch sind (Eriksen 1996: 28). Unter dem Begriff „Multikulturalismus“ werden diese verschiedenen Gemeinschaften mit ihren eigenen Systemen in einem Beziehungsgeflecht zu anderen gesehen (Parekh 2000: 13)
Jackson II verweist auf die Brisanz der Betrachtungsweise und Herangehensweise bei der Analyse von ethnischen Gruppen und betont die sensible Bewertung kultureller Relevanz und Richtigkeit. So ist von einer emischen und etischen Untersuchung zu unterscheiden, bei der der Betrachter die Position eines Insiders oder Outsiders des Kollektivs einnimmt. Die emische Perspektive konzentriert sich auf intrinsische kulturelle Unterscheidungsmerkmale, die für Mitglieder des Kollektivs von Bedeutung sind und diese damit zu Richtern der Gültigkeit von emischen Zuschreibungen machen. Die etische Betrachtungsweise beruht auf extrinsischen Vorstellungen und Einordnungen und birgt die Gefahr von Überlegenheits- und Vormachtsdenken (Jackson II 1999: 8). Brass fügt neben den objektiven Attributen und den subjektiven Betrachtungen für die Definition von ethnischen Gruppen die behavioristische Perspektive hinzu, die eine Gruppe über den Ausdruck ihres Verhaltens in der Interaktion mit anderen Gruppen bestimmt (1996: 85). Kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind in ethnischen Kategorien enthalten, doch müssen diese Differenzen emisch betrachtet werden, damit der Stellenwert, den die Gruppe ihnen gibt, gewertet werden kann. Nach Barth bilden diese Kategorien ein Organisationssystem, welches voneinander abweichende Inhalte in verschiedenen soziokulturellen Systemen haben kann (1996: 78).
Es werden in der Literatur mehrere Kerncharakteristika für ethnische Gruppen benannt, die als Abgrenzungsmerkmale die Zugehörigkeit zu spezifischen Ethnien definieren. Es werden all diejenigen dazu gezählt, die (Bluts-)Verwandtschaft bzw. Herkunft, einen gemeinsamen religiösen Glauben und eine gemeinsame Gesellschaftsstruktur und Kultur mit ihren Normen und Gebräuchen aufweisen, mit der sie sich identifizieren. Nash bezeichnet diese Merkmale als Tiefenstrukturen, da sie grundlegende Werte beinhalten und Orientierung sind, nach denen beurteilt wird, während er Kleidung, Sprache und physische Merkmale zu den Oberflächenstrukturen zählt (1996: 25). Ethnische Gruppen teilen Traditionen, die in einer gemeinsamen Geschichte verankert sind. “The group’s actual history often trails off into legend or mythology, which includes some concept of an unbroken biological-genetic generational continuity, sometimes regarded as giving special characteristics to the group” (De Vos 1995: 18). Smith fasst die Kerneigenschaften für eine ethnische Gemeinschaft (ethnic community) wie folgt zusammen: sie teilen einen gemeinsamen Namen, haben eine (mythische) gemeinsame Anstammung und Erinnerungen an eine gemeinsame Geschichte, sind gekennzeichnet durch ein oder mehrere sich unterscheidende Merkmale einer gemeinsamen Kultur, zeichnen sich aus durch Verbundenheit zu einem gemeinsamen Heimatland und seiner Kultur leben ein ausgeprägtes Gefühl von Gemeinschaftlichkeit und Solidarität (1991: 20).
Wie schon zuvor erwähnt, spielt die Abgrenzung eine entscheidende Rolle in der Identitätskonstruktion. Doch kann eine Gruppe ihre Existenz nicht allein durch das sich Abheben von anderen als different sichern, sondern sie muss nach Barth Interaktion mit anderen ethnischen Gruppen aufbauen und erhalten. Damit versteht er ethnische Gruppen als komplexe Organisationen von Verhaltensmustern und sozialen Beziehungen inmitten eines Feldes von Kommunikation und Interaktion (1996: 79f.) (siehe Diagramm 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diagramm 1: Drei parallele Prozesse der Aufrechterhaltung von ethnischer Identität: nach Innen gerichtete Identifikation (1), nach Außen gerichtete Abgrenzung (2), auf einander ausgerichtete Interaktion (3) (eigener Entwurf)
Kollektive Identität muss zum einen kommuniziert werden, zum anderen drückt sie sich im Raum aus und konstruiert sich inmitten räumlicher Prozesse. Sie braucht sichtbare Manifestationen, um durch öffentliche Präsenz Achtung und Anerkennung zu erlangen. Somit kommt dem Raum als Ausdruck kollektiver Identitäten in Bezug auf die Herstellung von Sinnbezügen eine wesentliche Rolle zu. Die Relevanz von „Raum“ und seinen Grenzen für kollektive Identitäten sollen im Folgenden dargestellt werden.
2.2 Raum
Räumliche Kategorien, die Kultur vermitteln und in Relation zu anderen Raumkategorien gesehen und von ihren Akteuren gestaltet werden, werden im Zusammenhang dieser Diskussion nicht als objektivierbare, messbare Größe verstanden, sondern als „relationale Kategorie, deren Perzeption und Definition von den spezifischen Merkmalen der Individuen und ihren Lebenszusammenhängen abhängig ist“ (Dürr 2005: 3).
2.2.1 Ebenen von Räumlichkeitssinn
Raum-Identitätsbezüge können auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Die Verbindung beider Elemente findet über die kognitive und affektive Dimension statt. Über die Wahrnehmung des Ortes (place) entstehen bei Identifikation Gefühle der Zugehörigkeit (sense of belonging), der Sicherheit und der Sinnhaftigkeit. Die Übereinstimmung der Definition des Selbst mit den Eigenschaften eines spezifischen Raumes drückt sich in Gefühlen aus, die den Ort mit „Heimat“ oder „Zuhause“ umschreiben können. Gefühle der Zugehörigkeit finden ihren Ausdruck besonders in privaten Räumen (Haus, Zimmer etc.), jedoch findet Identifikation auch auf anderen ebenso wesentlichen Maßstabsebenen statt, beispielsweise mit Nachbarschaften, Stadtteilen, Landschaften sowie Bundes- und Nationalstaaten. Die Identifikation mit lokalen Räumen (Arbeitsplatz, Wohngebiet, (ethnisches) Viertel, soziale Einrichtungen) (Ebene 1) ist ein grundlegendes Element in der Konstruktion von Gemeinschaften (communities[5]), welche wiederum in ein Zugehörigkeitsgefühl auf städtischer Maßstabsebene integriert sind (Ebene 2). Im Fall von Los Angeles wird deutlich/gezeigt, dass im Zuge der Zuwanderung vor allem im 19. Jh. die regionale bzw. bundesstaatliche Ebene (Kalifornien als „Golden State“ oder „Promised Land“) (Ebene 3) ein Wanderungsgrund war und ein wesentliches Gefühl von Zugehörigkeit gegeben hat. Eine vierte Ebene, die das Gefühl von Zughörigkeit zu einem Raum prägt, ist Identität auf nationaler Ebene, die vor allem in der Diskussion um Einwanderung und Einbürgerung eine konfliktreiche Rolle spielt. Im Zuge der Globalisierung entsteht ein neuer, weltumspannender Raumsinn (Ebene 5), der durch Informations- und Telekommunikationstechniken und technische Innovationen hergestellt und aufrechterhalten wird. Wie klein und gleichzeitig dynamisch der Globus geworden ist, belegt eindrucksvoll der Slogan der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft in Deutschland (2006): „Die Welt zu Gast bei Freunden“.
Das Bild einer Stadt – Los Angeles – ist nicht nur relevant für die Identität der Stadt, sondern auch die des Bundesstaates – Kalifornien –, welcher wiederum Teil der staatlichen Identität – der Vereinigten Staaten – ist. Der geographische Begriff des Ortes bzw. Raumes kann somit von einem lokalen über einen nationalen hin zu einem globalen Orts- bzw. Raumsinn ausgeweitet werden. Die Betrachtung und Analyse von lokalen Räumen bzw. spezifischen Orten erfordert aufgrund der Komplexität im Zeitalter der Globalisierung ebenfalls eine Betrachtung größerer Raumkategorien.
[...]
[1] WTO: World Trade Organization (Welthandelsorganisation)
[2] Die Unterscheidung in „Kulturnation“ und „Staatsnation“ geht auf Friedrich Meinecke (1908) zurück, der erstere als eine größtenteils passive Kulturgemeinschaft ansah, während letzterer Begriff eine aktive, sich selbst bestimmende politische Nation umschrieb. (Smith 1991: 8)
[3] Zu den Daseinsgrundfunktionen zählen in der Stadtforschung aus sozialgeographischer Perspektive “Wohnen und in Gemeinschaft leben”, “Arbeiten”, “Sich-Versorgen”, “Sich-Bilden” und “Sich-Erholen”. (Heineberg 2000: 17)
[4] „Modernity is a complex and much contested idea, but in this context it means, above all, the abstraction of social and cultural practices from contexts of local particularity, and their institutionalization and regulation across time and space.” (Tomlinson 1994: 272)
[5] Der Begriff community bezeichnet im Englischen eine Gemeinschaft, die sich räumlich auf ein gemeinsames Gebiet (Stadtteil oder Nachbarschaft) beziehen kann. Darüber hinaus beinhaltet er ebenfalls Bezüge zu sozialen, kulturellen und/oder politischen Zusammenhängen (beispielsweise Black Community oder Gay Community). Im Rahmen dieser Arbeit wird community mit „Gemeinschaft“ übersetzt und geht über die geographische Begrifflichkeit von Gemeinde oder Stadtteil hinaus.
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- Lars Berghaus (Author), 2006, Identität und Identifikation in einer Megastadt: Ethnische Bevölkerungsgruppen in Los Angeles als Bestandteile einer fragmentierten Stadt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74229
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