Frankreich – zeigt sich als Land, das sich gern und viel mit sich selbst beschäftigt, vor allem mit seiner Vergangenheit (wenn auch nicht immer mit der ganzen) und mit seiner Zukunft. Anders als in der Bundesrepublik füllen historische, soziologische und politologische Selbstbetrachtungen große Flächen in den Buchläden. Die Zunft der Politologen, Soziologen, Historiker, Philosophen und auch Politiker, die das Land ununterbrochen diagnostizieren und positionieren, gerhören nicht nur zu den omnipräsenten Diskurssubjekten, sondern sind auch die vielgelesenen Stars der Republik und schon immer Teil ihres Kultes, ihrer Rituale, ihres Prestiges und ihrer Institutionen1. Vieles, was auch bisher schon kontrovers diskutiert wurde, wie etwa die Vichy-Vergangenheit, konnte meist in einem republikanischen Diskurs „aufgefangen“ 2 werden, das heißt, hinsichtlich der republikanischen Werte geprüft, gedeutet, bewertet und politisch instrumentalisiert werden. Doch nun, so scheint es, steht die Republik als Ganzes auf dem Prüfstand und es wird schonungslos hinterfragt, wie ernst sie es selbst mit ihren Werten nimmt bzw. ob sie es jemals ernst genommen hat. Die Erschütterungen Frankreichs und seines Selbstverständnisses sind gewaltig: Die Debatten der Jahre 2000 und 2001 um die Rolle Frankreichs in der Sklaverei3, das französische Nein zur europäischen Verfassung, die Kolonialismus-Debatte anlässlich des Gesetzes vom 23.2.20054, die brennenden Vorstädte des November 2005, die gewalttätigen Proteste gegen den CPE5 im Frühjahr 2006 und schließlich die Clearstream-Affäre, die einen ganzen Sumpf von Korruption und Patronage zu Tage fördert. Im Gefolge eines „Krieges der Erinnerungen“6 wird auch die Vichy-Debatte neu entfacht und sogar der Anteil Frankreichs am deutsch-französischen Antagonismus nach 1870/717 und der persönliche Anteil der nationalen Ikone Napoleon I an der Sklaverei auf den Prüfstand gehoben. Man könnte meinen, kein Stein bliebe mehr auf dem anderen und viele sehen das Ende der V. Republik bereits gekommen. Es scheint, als bedingten sich Zeiten revolutionärer Umbrüche einerseits und Zeiten gesellschaftlicher Unbeweglichkeit und rückwärtsgewandter Konservatismus8 andererseits.
INHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung – warum der Algerienkrieg auch heute noch (auch aus deutscher Sicht) interessiert
a) Aktueller Bezugspunkt: die Krise der Republik
b) Aktueller Bezugspunkt: die Krise der Banlieues
c) Aktueller Bezugspunkt: der Blick von außen
d) Aktueller Bezugspunkt: Abu Ghreib und Guantanamo
II. Fragestellung
III. Schwerpunktsetzungen und Methode
IV. Hauptteil 1: Bedingungsfaktoren der Frankreich - Wahrnehmung
1. Politischer Führungsanspruch und zivilisatorische Mission - Zusammenhänge
2. Französische Zivilisation – positives Selbstverständnis
2.1 Algerienbild bei Bruzière und Mauger
2.2 Deutschlandbild bei Bruzière und Mauger
3. Der politische Führungsanspruch Frankreichs nach
3.1 Die außenpolitische Grundorientierung
3.2 Besatzungspolitik in der FBZ
4. Französische Zivilisation – Legitimation und politisches Instrument im historischen Kontext
4.1 Die französische Zivilisation – eine europäische Zivilisation mit einer certaine idée de la France
4.1.1 Das „überlegene Europa“
4.1.2 Europa als „Anfang der universalen Moderne“
4.1.3 Das „bedrohte Europa“
4.1.4 Die „innere Vielfalt Europas“
4.2 Europäische Zivilisation im nationalen Profil - Der deutsch-französische Antagonismus
4.2.1 Die Revolution von 1789 und die demokratisch-zivilisatorische Mission – Rezeption und Wirkung in Deutschland
4.2.2 Napoleon und die Deutschen
4.2.3 Persistenz von „stereotypen Systemen“: die Nation und der National- charakter - die langen Schatten der Geschichte
4.2.4 Die Kolonialmächte Frankreich und Deutschland als Konkurrenten in Nordafrika bis
4.3 Algerien – das Far West Frankreichs
4.3.1 Chronologie 1830 –1945
4.3.2 Der Weg zur Unabhängigkeit 1945 –1962
4.4 Die zivilisatorische Mission Frankreichs in Algerien in einem kritischen Licht am Beispiel der Camus-Rezeption
4.4.1 Universalismus-Anspruch
4.4.2 Gerechtigkeit: eine Frage der Verteilung von Gütern?
4.4.3 Eine algerische Nation?
4.5 Die politisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg in Frankreich in Bezug auf die Nationalmythologie
4.5.1 Littérature engagée und Existenzialismus
4.5.2 Algerien und Vichy
V. Hauptteil 2: Westdeutschland und der Algerienkrieg
5. Die französische Zivilisation – deutsches Wunschdenken in der Nachkriegszeit (Schulbuchanalyse)
5.1 Das Frankreichbild in deutschen Französischbüchern der 50er Jahre
5.2 Das Frankreichbild in deutschen Französischbüchern der 60er Jahre
6. Führungsmacht Frankreich – ein Partner Deutschlands?
6.1 EVG – die große Enttäuschung
6.2 Vertrauensbildende Zweite Berlin-Krise
7. Frankreichwahrnehmung seitens der SPD
7.1 Die SPD und Frankreich im Nachkriegsdeutschland – kein guter Start, vor allem in der FBZ
7.2 Die SPD und der Algerienkrieg
7.2.1 Unabhängigkeitsbewegungen und sozialdemokratische Traditionen
7.2.2 Der „dritte Weg“ – ein „eurosozialistisches Empire“
7.2.3 Algerienkonflikt: Ausgangslage und Stellenwert für die SPD
7.2.3 SPD – Nibelungentreue zum S.F.I.O ?
7.2.5 Von der Nebenaußenpolitik zur doppelten Außenpolitik
7.2.6 Fazit: Frankreich und Algerien aus der Sicht der SPD
7.3 Algeriensolidarität der „Kofferträger“ und Intellektuellen
8. Die CDU Adenauers – der „natürliche Partner“ Frankreichs
8.1 Die Rolle Nordafrikas in den deutsch-französischen Beziehungen
8.1.1 Schwierige Ausgangslage für Westdeutschland
8.1.2 Wirtschaftliche und politische Interessen
8.1.3 Deutschland in Nordafrika: Chancen und Gefahren für Frankreich
8.2 Allgemeine Zielsetzungen der Algerienpolitik der CDU Adenauers
8.2.1 Algerien als Randproblem
8.2.2 Algerien als Gefahr und als Chance bundesdeutscher Europa- und Weltpolitik
8.3 Die FLN und die Bundesregierung
8.4 Die deutsch-französische Kooperation im Rüstungsbereich
9. Der Algerienkrieg in der deutschen Öffentlichkeit
9.1 Die Berichterstattung in der Zeit
9.1.1 Kritik an der französischen Demokratie
9.1.2 „Faschismus“
9.1.3 Stereotype: deutsche Tiefe – französische Oberflächlichkeit
9.1.4 Algerienkrieg: Kriegsziele, Praxis, Legitimation und Erfolgsaussichten
9.1.5 Frankreich und Europa
9.2 Die Berichterstattung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
9.2.1 Algerienkrieg: Kriegsziele, Praxis, Legitimation und Erfolgsaussichten
9.2.2 Die französische Demokratie – Gefahr eines Faschismus?
9.2.3 Frankreich und Deutschland in Europa
9.3 Die Berichterstattung im Rheinischen Merkur
9.4 Pressestimmen aus der Nähe der ehemaligen FBZ; Stuttgarter Zeitung
und Badisches Volksecho
10. Fazit
11. Bibliographie
12. Auflistung der zitierten Tages-/Wochenzeitungen in der Reihenfolge
der Zitierstelle in der vorliegenden Arbeit
I. Einleitung – warum der Algerienkrieg auch heute noch (auch aus deutscher Sicht) interessiert
Frankreich – zeigt sich als Land, das sich gern und viel mit sich selbst beschäftigt, vor allem mit seiner Vergangenheit (wenn auch nicht immer mit der ganzen) und mit seiner Zukunft. Anders als in der Bundesrepublik füllen historische, soziologische und politologische Selbstbetrachtungen große Flächen in den Buchläden. Die Zunft der Politologen, Soziologen, Historiker, Philosophen und auch Politiker, die das Land ununterbrochen diagnostizieren und positionieren, gerhören nicht nur zu den omnipräsenten Diskurssubjekten, sondern sind auch die vielgelesenen Stars der Republik und schon immer Teil ihres Kultes, ihrer Rituale, ihres Prestiges und ihrer Institutionen[1]. Vieles, was auch bisher schon kontrovers diskutiert wurde, wie etwa die Vichy-Vergangenheit, konnte meist in einem republikanischen Diskurs „aufgefangen“[2] werden, das heißt, hinsichtlich der republikanischen Werte geprüft, gedeutet, bewertet und politisch instrumentalisiert werden. Doch nun, so scheint es, steht die Republik als Ganzes auf dem Prüfstand und es wird schonungslos hinterfragt, wie ernst sie es selbst mit ihren Werten nimmt bzw. ob sie es jemals ernst genommen hat. Die Erschütterungen Frankreichs und seines Selbstverständnisses sind gewaltig: Die Debatten der Jahre 2000 und 2001 um die Rolle Frankreichs in der Sklaverei[3], das französische Nein zur europäischen Verfassung, die Kolonialismus-Debatte anlässlich des Gesetzes vom 23.2.2005[4], die brennenden Vorstädte des November 2005, die gewalttätigen Proteste gegen den CPE[5] im Frühjahr 2006 und schließlich die Clearstream-Affäre, die einen ganzen Sumpf von Korruption und Patronage zu Tage fördert. Im Gefolge eines „Krieges der Erinnerungen“[6] wird auch die Vichy-Debatte neu entfacht und sogar der Anteil Frankreichs am deutsch-französischen Antagonismus nach 1870/71[7] und der persönliche Anteil der nationalen Ikone Napoleon I an der Sklaverei auf den Prüfstand gehoben. Man könnte meinen, kein Stein bliebe mehr auf dem anderen und viele sehen das Ende der V. Republik bereits gekommen. Es scheint, als bedingten sich Zeiten revolutionärer Umbrüche einerseits und Zeiten gesellschaftlicher Unbeweglichkeit und rückwärtsgewandter Konservatismus[8] andererseits. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die o.g. intellektuelle „Kaste“ (war sie doch in gewisser Weise systemstabilisierend und trug, indem sie sich als republikanische Institution kultivierte und hofieren ließ nicht unerheblich zur „nationalstaatlichen Saturiertheit“[9] Frankreichs bei) nun noch heftiger als üblich übereinander und über die politischen Institutionen und Repräsentanten herfällt. Diejenigen, die sich gewissermaßen von einer „ Collaboration“ mit einer agonisierenden V. Republik distanzieren wollen, sehen in Selbstvergessenheit, Geschichtsklitterung, Überheblichkeit, anachronistischem Personenkult, Xenophobie und einem eklatanten Demokratiedefizit die zurzeit markantesten Züge des offiziellen Frankreichs. So erkennt Alain Duhamel in dem „Zynismus“, mit dem die Republik „die einfachsten Regeln der Demokratie“ ignoriert, die „autistische Republik“[10]. Mehdi Belhaj Kacem spricht angesichts einer politischen Klasse, für die die Bewohner der Vorstädte nur „Abschaum“ (racaille) sei, von einer „démocratie fasciste“, für welche die terroristische Bedrohung zum überlebensnotwendigen Unterpfand wird[11]. Für die Schriftstellerin Cécile Wajsbrot geht die „Zeit der schönen Täuschungen nun zu Ende“[12]. Gnadenlos rechnet sie mit der französischen Geschichte ab, in der Euphemismus „ein sehr wichtiges, ein sehr nützliches Wort“ sei, „wichtiger als Amour oder Chanson“. Ein chronischer Realitätsverlust habe u.a. dazu geführt, dass die Kolonien mit großen Opfern ihre Unabhängigkeit erkämpfen mussten. Für diese Arbeit von einiger Bedeutung ist Waysbrots Vorwurf nach außen: „Sie kamen oder kommen, um ein Stück Vergangenheit zu betrachten, (...) Sie haben uns geholfen, die Illusion aufrecht zu erhalten.“ Gegenreaktionen bleiben naturgemäß nicht aus: Max Gallo etwa appelliert an Patriotismus und die Anerkennung dessen, was Frankreich groß macht.[13]
a) Aktueller Bezugspunkt: Die Krise der Republik
Wenn es richtig ist, was im einleitenden Absatz angedeutet wird; dass die aktuelle Krise nicht nur Ausdruck eines gesellschaftlichen Modernisierungsrückstands hinsichtlich der Angleichung pluralistischer und partizipatorischer Standards, des Globalisierungsdrucks, der Immigration/Integration oder nicht mehr funktionierender politischer Institutionen ist, sondern Ausdruck einer Implosion des bisherigen Selbstverständnisses und einer grundsätzlichen Neubewertung der Geschichte Frankreichs und seiner republikanischen Werte, dann erscheint ein Blick zurück umso lohnenswerter. Der Algerienkrieg, lange Zeit als les événements („die Ereignisse“) ähnlich wie der état francais (Vichy) beschönigt und semantisch neutralisiert, war Frankreichs schwerste Krise der Nachkriegszeit. Für diese Arbeit stellt sich die Frage, ob oder in welchem Maß die auf den Werten der Republik ruhende zivilisatorische Mission und der politischer Führungsanspruch Frankreichs – aus der bundesrepublikanischen Perspektive – in ihrer Überzeugungskraft eingebüßt haben oder hätten einbüßen müssen.
b) Aktueller Bezugspunkt: die Krise der Banlieues
Diese Krise ist zwar Teil der gesamtrepublikanischen Krise und doch gewinnt die kaum erfolgte gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung gerade hinsichtlich des Algerienkriegs in der aktuellen Krise eine besondere Brisanz. Denn die brennenden Vorstädte sind nicht nur Ausdruck einer sichtlich scheiternden Integration, einer sozialen und ökonomischen Marginalisierung ethnischer Randgruppen wie in vielen Ländern, sondern offensichtlich auch Protest gegen eine möglicherweise ungebrochene koloniale Attitüde in einem spezifisch französischem Kontext. Während Malek Chebel in dem Konflikt eher eine „crise de la modernité“ als ein „choc des civilisations“ (clash of civilizations)[14] sieht, ist aber für Blanchard die Krise der Banlieues untrennbar von der Debatte um das Gesetz zur „rôle positif“; es bestünde nach wie vor eine „fracture coloniale“ und ein zivilisatorischer, nicht primär ethnischer Überlegenheitsanspruch, gegenüber der Gruppe der Immigrierten. Die Explosivität der Lage könnte nur durch eine Akzeptanz kultureller Verschiedenheit und vor allem durch eine wahrhafte „mémoire collective“ entschärft werden[15]. Im übrigen erinnere die Anwendung der Notstandsgesetzgebung von 1955 im November 2005 auf fatale Weise an den Algerienkrieg.
c) Aktueller Bezugspunkt: der Blick von außen
Ein dritter aktueller Bezugspunkt rechtfertigt eine erneute Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg. Dass in der gegenwärtigen französischen Krise der Spott aus den USA nicht lange auf sich würde warten lassen, war zu erwarten. Eine Art Kulturkampf, eine Konkurrenz zwei verschiedener politisch-zivilisatorischer Modelle kennzeichnet seit langen, insbesondere nach 1945, das französisch-amerikanische Verhältnis[16]. Die amerikanische Kritik am französischen Kolonialismus hat Tradition[17] und es gibt es in den USA mehr wissenschaftliche Arbeiten zum Kolonialismus und zur französischen Kolonialisierung als in Frankreich[18]. Angesichts der Gewalt in den Banlieues attestieren US-Medien Frankreich ein Demokratiedefizit und einen romantisierten, philosophisch intellektualisierten Hang zur Gewalt.[19] Neu ist, dass auch der Blick der Bundesrepublik auf Frankreich nicht wie gewohnt wohlwollend-zurückhaltend, sondern differenzierend, kritisch und abgrenzend ist. Das betrifft nicht nur die gemeinsame deutsch-französische Geschichte wie etwa die französische Besatzungspolitik nach 1945[20], auch in allgemeineren Betrachtungen des Nachbarn ist der Ton durchaus schärfer geworden. So schreibt etwa der Berliner Tagesspiegel vom 24.11.05 anläßlich der von Innenminister Sarkozy geäußerten Absicht, die Banlieues vom kriminellen Mob („voyous“) „mit dem Kärcher“ säubern zu wollen:
„Frankreich ist eine Gesellschaft, die von Mauern durchzogen ist; nicht nur eine Klassengesellschaft mit scharf geschnittenen Konturen und einer selbstbewussten Geld- und Geburtsbourgeoisie, Frankreich ist auch eine alte Kolonialmacht mit einem nie verblassten zivilisatorischen Dünkel ..., (der) bis zum Sonnenkönig zurückreicht, und ... mit einem stillen, erbitterten Hass gegen die ehemals Kolonisierten gemischt ist (...) die ewige Arroganz der Civilisation francaise...“
Während Hitlerdeutschland naturgemäß in der politischen Dimension der Civilisation francaise, wie überhaupt in der (vor allem amerikanischen) liberalen Moderne[21] sein natürliches Feindbild[22] fand, Nachkriegs-Westdeutschland sich im Prinzip in zwei Lager spaltete, in die „Atlantiker“ auf der einen Seite und die „Franzosen“ oder „Gaullisten“[23] auf der anderen, mitunter geradezu frankophilen, Seite, scheint das wiedervereinigte Deutschland ungezwungener und distanzierter auf Frankreich zu schauen. Gab es aber bereits Ende der 50er Jahre eine differenziertere Wahrnehmung Frankreichs? Oder ordnete sich alles den politischen Wünschen und Gegebenheiten – Souveränitätswunsch, Westbindung, Deutschlandfrage, Ost-West-Konflikt – unter?
d) Aktueller Bezugspunkt: Abu Ghreib und Guantanamo
Es soll und kann in dieser Arbeit nicht untersucht werden, welche Seite grausamer war als die andere, welche sich moralisch im Recht fühlen durfte, welche für die Eskalation der Gewalt verantwortlich war. Fest steht: die französische Armee hat systematisch gefoltert – unberührt davon bleibt der Terror der FLN, der vor allem unter den Algeriern selbst Tausenden das Leben kostete[24]. Auch wegen der systematischen Folter stand Frankreich vor dem UN-Tribunal. Angesichts der schockierenden Bilder aus Abu Ghreib und auch aus britischen Gefängnissen im Irak und der alles in allem recht milden Kritik und Empörung in Deutschland stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Berichte über die Folterpraxis in Algerien in die Frankreichwahrnehmung einflossen – vor allem vor dem Hintergrund einer wahrscheinlich großen deutschen Zurückhaltung wegen der Nazi-Verbrechen in Frankreich, dem sehr fragilen Annährungs- und Aussöhnungsprozess und der Unterordnung aller Einzelaspekte unter den Ost-West-Konflikt, der nach französischer Lesart auch in Algerien ausgetragen wurde, und den sich daraus ergebenden außenpolitischen Prioritäten.
II. Fragestellung
Auf die Allensbach-Umfrage, mit welchen Ländern „wir möglichst eng zusammenarbeiten“ sollten, sprachen sich im März 1953 nur 55% der befragten Bundesbürger für Frankreich aus, im September 1954 nur noch 46%, im April 1956, 43%, im September 1959, 48%, im Juni 1962, drei Monate nach Beendigung des Algerienkonflikts aber schon 61% und im September 1963 waren es sogar 71% (für die USA im Vergleichszeitraum 83%, 78%, 69%, 81%, 81%, 90%)[25]. Erst Anfang der sechziger Jahre stiegen die Sympathien für Frankreich an, ohne freilich mit denen für die USA ernsthaft zu konkurrieren. Erklärungen hierfür müssen (zunächst) im Bereich des Spekulativen bleiben:
- Trug die Politik der europäischen Integration Früchte?
- Erwies sich Frankreich im Ost-West-Konflikt als zuverlässiger Partner?
- Fand die grande vision, mit der de Gaulle seit 1959 den französischen Führungsanspruch formulierte und auch entsprechend handelte, Zuspruch?
- Machte erst das Tandem Adenauer - de Gaulle die deutsch-französische Aussöhnung und Partnerschaft glaubwürdig und attraktiv?
- Brauchte es einfach mehr Zeit, um die Wunden der Kriegs- und Besatzungserfahrungen zu heilen zu lassen?
- Spielte der Algerienkrieg überhaupt eine Rolle in der Frankreichwahrnehmung oder war er zu weit weg von der politischen Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik, deren starke Konzentration auf sich selbst[26] durch die exponierte Stellung im Ost-West-Konflikt verstärkt wurde?
Oder, falls der Algerienkrieg doch, auch in den Medien, eine größere Rolle spielte, :
- Drangen die Grausamkeiten des Krieges nicht ins kollektive Bewusstsein vor?
- Gab es eine anti-nordafrikanische Stimmung hinsichtlich der eigenen historischen[27] Erfahrungen 1920-25 („ Schwarze Schmach “) und 1945-49 („und wieder die Schwarze Schmach ?“)[28]
- Folgte man bedingungslos Adenauers Interpretation, dass Frankreich in Algerien einen Kampf gegen den Kommunismus führte?
- Wollte man die Aussöhnungspolitik mit Frankreich nicht durch zu starke kritische Einmischung gefährden?
- Hatte man zwar große Vorbehalte hinsichtlich Frankreichs Algerienpolitik, honorierte aber letztlich den Mut de Gaulles, sich von Algerien zu trennen?
Auf all diese Fragen wird keine Statistik eine zufriedenstellende Antwort geben können – in ihnen finden sich jedoch möglicherweise die Fährten, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll, um dem Einfluss des Algerienkrieges auf die bundesdeutsche Frankreichperzeption wenigstens in seinen Hauptströmungen zu bestimmen.
Der Algerienkrieg selbst, in seiner historischen Chronologie und in seinen bis heute großen Kontroversen hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die Eskalation der Gewalt, soll nicht eigenständig thematisiert werden. Da es aber um die subjektive Wahrnehmung seitens der Bundesrepublik geht, werden diese Kontroversen aber indirekt thematisiert. Ein zweiter großer politisch-soziologischer Komplex wird in dieser Arbeit nur gestreift: nämlich die große weltanschauliche Konkurrenz zwischen den USA (grand design) und – in verstärktem Maße – dem de Gaulle-Frankreich (grande vision) seit 1959[29]. Nicht nur aus weltpolitischen Motiven, sondern auch aus dieser prinzipiellen missionarischen Konkurrenz – gehörte die USA mit zu den stärksten westlichen Kritikern der französischen Kolonialpolitik. Vor allem ab 1958 und dem Werben de Gaulles um die Bundesrepublik bis zum Auftritt der bekennenden Atlaniker Erhard und Schröder sah sich die Bundesrepublik in einem Spannungsfeld zwischen Paris und Washington[30], welches sich in der französischen NATO-Politik und der MLF-Debatte[31] verstärkte und mit der Präambel zum deutsch-französischen Vertrag (1963) zugleich Höhepunkt und Abschluss fand. Inwieweit amerikanische Kräfte Einfluss genommen haben auf die westdeutsche Frankreichwahrnehmung soll in diesem Rahmen nicht eigenständig untersucht werden. Da aber, wie die Lagerbildung in „ Atlantiker “ und „ Gaullisten “ zeigt, die Konkurrenz beider Modelle allgegenwärtig war, wird der Einfluss und das Bild der USA wohl in einer Art Umkehrverfahren mitberücksichtigt und geltend gemacht.
III. Schwerpunktsetzungen und Methode
In Kapitel 1 soll aufgezeigt werden, in welch engem Verhältnis machtpolitischer Führungsanspruch und zivilisatorische Ambitionen der Weltmächte zueinander stehen. Letztere legitimieren, nach außen gerichtet, zwingend einen Überlegenheitsanspruch. Machtpolitisches Streben nach außen, das nicht mit dem Anspruch des zivilisatorischen unterfüttert ist, bliebe purer Expansionismus oder Imperialismus[32]. Eine rein zivilisatorische Mission, etwa religiös motiviert (in einem weiteren Rahmen aber auch Entwicklungshilfe, Friedenserhaltung) kann ohne Staat oder Nation als Impulsgeber auskommen. Wird aber eine „zivilisatorische Mission“ von einem Staat, von einer Nation, initiiert, gelenkt und geführt, so überkreuzen sich fast zwangsläufig politische und zivilisatorische Zielsetzungen.
Im Kapitel 2 soll geklärt werden, wie sich denn die spezifisch französische mission civilisatrice definieren lässt; aus einem französischen Selbstverständnis und später aus einer deutschen Perspektive. Nach der für Frankreich maßgebenden Definition von civilisation, schließt diese sämtliche sozialen, technisch-wissenschaftlichen, ästhetisch-künstlerischen, literarischen und gesellschaftlich-politischen Errungenschaften[33] ein. Wie sehr verschmilzt der Anteil der Geschichte und der politischen Kultur, konstitutiv für die Existenz der Nation, mit den anderen kulturellen Zeugnissen und Errungenschaften? Mit Hilfe einer zeitgemäßen positiven Darstellung des Jahres 1957 soll zunächst der Hintergrund skizziert werden, vor dessen Anspruch das konkrete politische Geschehen in Europa und Nordafrika nach 1945 eingeordnet und bewertet werden kann.
Kapitel 3 befasst sich mit dem politischen Führungsanspruch Frankreichs nach 1945 und zeichnet in groben Zügen die wichtigsten außenpolitischen Zielsetzungen (1945-1962) nach. Dabei werden nur diejenigen Aspekte der Deutschland-, Europa-, und Weltpolitik vergegenwärtigt, die Deutschland unmittelbar betrafen und die das Frankreichbild in Deutschland Anfang der 60er Jahre maßgeblich beeinflussen konnten. Wollte Frankreich eine Führerschaft in Westeuropa übernehmen? Und, wenn dem so wäre, mit welchen Konsequenzen für Westdeutschland? Ein weiterer Aspekt muß ausführlicher behandelt werden: Frankreichs Besatzungspolitik in Deutschland (Kap.3.2.3). Musste die Besatzungspolitik (bzw. die Erinnerung daran) für Westdeutschland nicht Gradmesser für die (zukünftige) Umgangsweise Frankreichs mit Deutschland sein?
Die enge, legitimatorische Verknüpfung von Zivilisationsanspruch und Machtpolitik ist bereits im Kapitel IV.1 auf eine allgemeine, einführende Art dargestellt worden. Nun soll näher untersucht werden, womit sich der französische Anspruch auf eine mission civilisatrice (und damit seine Einbeziehung in die großen Fragen der Weltpolitik) begründet. Hier werden zwei Argumentationsstränge untersucht: die französische Zivilisation als eine in die europäische Gesamtzivilisation eingebettete (4.1) und als eine gegenüber Deutschland konzeptionell antagonistische (4.2). Denn: 1945 begann das deutsch-französische Verhältnis nicht bei Null: Der deutsch-französische Krieg im Rahmen der beiden Weltkriege war vielmehr der Kulminationspunkt einer gegensätzlichen und gegeneinander gerichteten kulturellen und politischen Identität, die spätestens mit dem Krieg von 1870/71 begann. Hier nehmen die Angst vor kriegerischem germanisme und der Gedanke der Revanche seinen Lauf. Die deutschen Gallophobie[34] gegenüber Frankreich, seiner „kulturellen Arroganz“ gehen zurück auf den ersten Kontakt mit der Verbindung von Machtpolitik und zivilisatorischem Sendungsbewusstsein: auf 1789 und die napoleonische Invasion. Vor allem soll diese Rückschau das Fortbestehen der Klischees, der stereotypen Systeme, den Glauben an einen Nationalcharakter aufzeigen; Wahrnehmungen, die ihrerseits wieder in die Politik auch in den 50er und 60er Jahren einfließen. Es erscheint plausibel, dass die Momentaufnahme einer Frankreichwahrnehmung, wenn überhaupt, dann nur Aussagekraft durch einen zeitlichen Vergleich gewinnen kann. Nach einem Blick auf die Konkurrenz der Kolonialmächte Deutschland und Frankreich in Nordafrika bis 1918 (4.2.5), welche sehr lange Nachwirkungen hatten und einem nur groben Nachzeichnen des Weges Algeriens von seiner Kolonisierung bis zur Unabhängigkeit (4.3) soll die französische Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Mission in Algerien und mit dem Algerienkrieg beleuchtet werden. Schließlich – war der Algerienkrieg selbst aus deutscher Sicht anfangs auch ein „Randproblem“ – konnte dem deutschen Beobachter wenigstens die gesellschaftlich-politischen Verwerfungen im französischen Mutterland nicht entgehen . Kapitel V befasst sich mit der westdeutschen Wahrnehmung des Algerienkrieges und des Prestiges Frankreichs. Zunächst soll das neue Verständnis der französischen Zivilisation beleuchtet werden. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Propaganda des „demokratischen Imperialismus“[35] Frankreichs und seines geschichtlichen „Irrweges“[36] wurde von offizieller Seite ein neues, idealistisches Bild gezeichnet, welches naturgemäß vor allem dort zu finden ist, wo es in der Vereinfachung die stärksten Wirkungen haben soll: in Schulbüchern (Kap.5), vor allem in Französischbüchern, welche sich offensichtlich sehr nahe an den (tages-) politischen Vorgaben orientieren. Die anschließenden Kapitel 7 und 8 beleuchten schließlich zunächst eine allgemeine Frankreichwahrnehmung seitens der SPD und der CDU, wobei einige Aufmerksamkeit darauf verwendet wird, dem schwierigen Verhältnis zwischen SPD und französischer Besatzungsmacht nachzugehen, weil hier ein dauerhafter Grundkonflikt am deutlichsten sichtbar wird. Eine Zusammenfassung der frankreichpolitischen Grundpositionen der CDU soll deren Algerienpolitik und auch die „doppelte Außenpolitik“ (der CDU und der SPD) verständlich machen. Es wird sich zeigen, dass der innerfranzösische Grundkonflikt, eine erfolgreiche Nordafrika-Politik nicht ohne Deutschland und Europa machen zu können und andererseits die spezifische französische Vormachtstellung aufrecht erhalten zu wollen (zusätzlich zur allgemeinen Zerrissenheit über die Zukunft Frankreichs als Kolonialmacht[37] in Nordafrika) gewissermaßen eine deutsche Entsprechung findet in einer Zerrissenheit innerhalb der CDU und der SPD und der „doppelten Außenpolitik“, die eben auch ein doppeltes Spiel beider Parteien ist.
Die Haltung der westdeutschen Kommunisten, der 1956 verbotenen KPD und der DKP, wären hinsichtlich einer auch kommunistischen Inspiration der algerischen Freiheitsbewegung und des starken PCF auf französischer Seite ein interessantes Forschungsfeld; es erscheint hier jedoch gleichermaßen zu speziell und zu umfangreich, um im vorgegebenen Rahmen behandelt zu werden. Mit einigen Einschätzungen des kommunistischen Badischen Volksechos (Kap.9.3), der allerdings wegen seiner geographischen Nähe zur FBZ[38] Berücksichtigung fand, wird diese partikulare Frankreichperzeption immerhin angedeutet.
Wichtiger für ein rahmenhaftes Erfassen der westdeutschen Frankreichwahrnehmung erscheinen vielmehr die überregionalen Pressestimmen. Gehör finden sollen: Die Zeit als große, überregionale und voraussehbar eher frankreichkritische Zeitung mit sozialdemokratischer und überkonfessioneller Verankerung - sowie die Frankfurter AllgemeineZeitung (FAZ) - als gleichermaßen überkonfessionelle, aber konservative Stimme. Beide Zeitungen werden für den gesamten Zeitraum des Algerienkonflikts von Ende 1954 bis März 1962 untersucht, wobei ein besonderes Interesse auf die Berichterstattung der Suezkrise 1956, der Vorfälle von Sakiet, Sidi Youssef 1958, der Mai 1958 (Aufstand der Algerienfranzosen unter General Massu, Sturz der Regierung Pflimlin, Machtantritt de Gaulles), die Straßenkämpfe in Paris im Oktober 1961 und das Ende des Krieges 1962 gelegt wird. Aufgrund seiner regionalen, religiösen und parteilichen (CDU) Verankerung soll der Rheinische Merkur als potenziell frankreichfreundliche Zeitung partiell hinzugezogen werden. Wegen der Nähe zur FBZ und einer möglichen Verknüpfung von Algerienkrieg und Besatzungspolitik sollen stichprobenartig das Badische Volksecho und die Stuttgarter Zeitung hinzugezogen werden.
Alle Zeitungen sollen hinsichtlich des Stellenwerts der französischen Civilisation und der Akzeptanz eines französischen Führungswillens für Westeuropa untersucht werden. Dabei sollen, gemäß Themenformulierung, vor allem Artikel ausgewertet werden, die in direktem Zusammenhang mit der Nordafrika-Politik Frankreichs und der Bundesrepublik sowie dem Algerienkonflikt auf algerischem und französischem Boden zu sehen sind.
Das Fazit soll die Ergebnisse zusammenfassen und eine Tendenz aufzeigen. Dabei wird interessant sein, festzustellen, ob der Algerienkrieg das zivilisatorische Prestige Frankreichs beschädigt hat oder vielleicht gar nicht beschädigen konnte, da aus westdeutscher Sicht dieses Prestige möglicherweise gar nicht existierte und ob eine etwaige Akzeptanz einer französischen Führungsrolle eher auf strategischen deutschen Interessen (Sicherheit, Wiedervereinigung o.ä.) beruhte.
1. Politischer Führungsanspruch und zivilisatorische Mission - Zusammenhänge
Beides scheint zunächst zwingend ineinander zufallen; die Wahrnehmung und Durchsetzung einer zivilisatorische Idee ohne politische oder militärische Macht bliebe wirkungslos. Umgekehrt hat ein machtpolitischer Führungsanspruch mit einer Komponente zivilisatorischer Unterfütterung mehr Aussicht auf Erfolg. Wann im Einzelfall das (macht-) politische Element nur das zivilisatorische unterstützt und wann letzteres dem ersten nur als Vorwand dient, bleibt naturgemäß immer umstritten. Mit Blick auf die deutsch-französische Geschichte sind so etwa die zivilisatorischen und machtpolitischen Absichten und Wirkungen der napoleonischen Besetzung deutscher Staaten durchaus umstritten[39].
Dennoch muss zunächst einmal getrennt werden: Die Durchsetzung eines machtpolitischen Führungsanspruchs kann natürlich auch durch rein ökonomische oder militärische Interessen motiviert sein. Der im Kontrast zu seinen realen Möglichkeiten und zu einer außerordentlichen politischen Geringschätzung seitens der USA[40] und der UdSSR mit relativ großem Erfolg ab 1944 durchgesetzte Anspruch Frankreichs auf eine Mitsprache bei der Mitgestaltung Europas[41] beispielsweise war für Frankreich eine „Frage auf Leben und Tod“[42], ein dauerhafter Schutz vor dem östlichen Nachbarn. Zunächst sollte Frankreich auf Dauer und irreversibel sich mit deutschem Potential stärken, später Deutschland in Form eines doppelten Containment in einem französisch geführten Westeuropa gebunden werden. Die zivilisatorischen Maßnahmen im weitesten Sinne (Entnazifizierung, „Entpreußung“, „pénétration culturelle“[43] in der FBZ) sind hier als verstärkende, aber nachgeordnete Komponente des machtpolitischen Aspekts zu sehen (die Fahnen). Machtpolitisches Handeln sichert hier schlicht den Fortbestand der eigenen Zivilisation und zukünftigen Wohlstands.
Umgekehrt aber kann der Bezug auf eine zivilisatorische Mission oder der Nachweis eines zivilisatorischen Erfolges den politischen Führungsanspruch und seine machtpolitische Durchsetzung legitimieren. In dieser Argumentationsweise findet die Rechtfertigung der Algérie française genauso ihren Platz wie die Führung Europas durch das ewige Frankreich als Hüterin universeller Werte. Hier, im zivilisatorischen Diskurs, ist auch das „Herausdrängen“ Vichys aus der französischen (Zivilisations-) Geschichte begründet.
Der mit dem zunehmenden Machtverlust Frankreichs nach 1945 einhergehende rhetorische Rekurs auf die Grandeur (gemäß dem Diktum de Gaulles, „ohne Größe kann Frankreich nicht sein“[44] ) wirkt nach außen vor allem kompensatorisch. Diese Transzendenzpolitik[45] war zumindest teilweise Merkmal einer Verhandlungsstrategie der Maximalforderungen, einer diplomatischen Taktik, mit der Frankreich weltpolitisches Gewicht zurückgewinnen wollte. Hierfür war es notwendig, bei einem absehbaren Verlust der Kolonien und Einbuße nationaler Unabhängigkeit durch die westeuropäische Integration, auf anderen Feldern Weltgeltung zu erreichen oder zu sichern (z.B. im Bereich der Nuklearrüstung oder der Frankophonie). Wenn auch außenpolitisch der Bogen des global player manchmal überspannt wurde, wie in der Rumänien-Politik oder im provokanten „Vive le Québec libre“[46] deutlich wird, so war der innenpolitische Erfolg damit aber meist sicher.
Zweifelsfrei liegt dem Grandeur-Diskurs aber auch die echte Überzeugung einer zivilisatorischen Prädestination (und zwangläufig auch einer Notwendigkeit) für das Innehaben Frankreichs eines „ersten Ranges“. Dieser nutze der Welt und gebe Frankreich seine Existenzberechtigung. Zirkulär argumentiert sind die Werte, Überzeugungen und historischen Erfahrungen Frankreichs von universeller Reichweite. Da die nationale Identität der voluntaristischen Nation auf diesen gleichen Werten und Erfahrungen basiert, ist Frankreich gewissermaßen zu Größe verdammt – ohne Größe zerfiele Frankreich, weil es dann seine Identität verlöre. Weil die Welt Frankreich braucht, muss Frankreich Frankreich, also groß sein. Kolboom/Stark sprechen hier von einer spiegelbildlichen Vorstellung des Bildes Frankreichs und des Bildes der Welt. Sie befinden: „Die Frage nach dem Platz Frankreichs (in der Welt) ist … immer mit einer ‚certaine idée de la France’ verbunden. Sie ist damit die Frage par excellence nach der Identität Frankreichs“[47].
In einer solchen Sichtweise ist Weltpolitik für Frankreich existentiell, seine inneren Werte sind gleichzeitig seine außenpolitischen Interessen. Nur der Glaube an seine Werte und der Glaube an seine Größe halten Frankreich zusammen. Da diese Werte spezifisch französisch und gleichzeitig universell sind, ist Frankreich in seiner Existenz bedroht, wenn seine Werte (in der Welt) bedroht sind.Welche aber sind die Werte und Überzeugungen Frankreichs, die in der Nachkriegszeit universale Ausstrahlungskraft hätten? Weder die Verfassung und politische Kultur der IV. Republik (als Verlängerung der III. Republik) noch die der V. Republik hatten – wenigstens auf Deutschland – Anziehungskraft (vgl. Kap. 9.1.1). Die Vichy-Jahre konterkarierten das Frankreich der Moderne. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, für das Frankreich seit Yalta und gegen die Welt der Blöcke kämpft, schien in Bezug auf Nordafrika nicht in gleicher Weise einlösenswert und auch in Bezug auf Deutschland gelten erhebliche Einschränkungen. Auch die Zurückweisung der amerikanischen Beherrschung des Westens wirkt unglaubwürdig, wenn an die Stelle eines amerikanischen nur ein multilaterales, aber von Frankreich dominiertes Modell gesetzt würde. Aus bundesdeutscher Sicht jedenfalls zeigten bereits die Verhandlungen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), später die „Fouchet-Pläne“ und die MLF-Debatte[48], dass Frankreich nicht oder kaum mehr bieten wollte, nicht mehr Partnerschaft und auch nicht mehr Teilhabe, als die USA.
Eine ganz andere, radikal entmythologisierende Sichtweise auf die Grandeur einer Nation formuliert der Schriftsteller Sayouba Traoré:
„La grandeur d'une nation se nourrit de la petitesse des autres nations. Et on ne devient pas impunément une grande nation. Il faut y mettre de la volonté et de la détermination. (…) Ruser, escroquer, massacrer s'il le faut. (…) Prévoir les réponses au cas où des mauvais coucheurs auraient des reproches à vous faire. Prendre ce qui ne vous appartient pas. En prime, vendre le propriétaire de ce bien. L'appétit vient en mangeant. Il s'agit maintenant de faire les choses en grand, sur un plan industriel, c'est-à-dire civilisé “.[49]
2. Französische Zivilisation – positives Selbstverständnis 1960
„La France et ses écrivains“ von Mauger und Bruézière gilt als eines der großen Schul-Standardwerke über die französischen Zivilisation schlechthin. Es wurde nach 1957 mehrfach überarbeitet und ist „couronné par l’Académie francaise“. Darin werden Frankreichs Landschaften und Städte, seine kulturell-ethnischen Wurzeln, seine Bewohner, sein gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Leben, seine Stellung in der Welt, seine Kunst und Architektur, sein ganzes intellektuell-künstlerisches Schaffen durch die Brille der Literatur und der Literaten aufgeschlossen. Durch diese Perspektive wird nicht nur die außerordentliche Rolle der Dichter und Denker für das Renommee und die Grandeur betont, sondern Frankreich, auch das politische, wird durch die Perspektive der Literaten gleichsam auf eine überparteiliche Weise sublimiert und verewigt. Da die zu Wort kommenden Dichter und Denker sich selbst meist überschwänglich zu der Grandeur Frankreichs (und damit der eigenen) bekennen, erscheint dem Leser Frankreich als Zentrum des Universalismus und der humanité (dts. Menschheit, Menschlichkeit). Am deutlichsten wird dies in einem Auszug von Georges Duhamels „Civilisation francaise“[50], in dem sich die Berufung der Franzosen, „das Universelle voranzubringen und zu verteidigen“[51], bestätigt. In diesem Pamphlet Duhamels werden, nur höflich verschleiert, die begrenzten Möglichkeiten anderer Völker aufgezeigt:
„Manche Völker haben ihren Platz in der Geschichte errungen, weil sie kühne Seefahrer hervorgebracht haben. Andere schulden ihr Prestige ihren beflissenen Händlern. Wieder andere Nationen werden für ihre Industrie bewundert ... Andere aber können stolz auf ihre Dichter, ihre Musiker, ihre Philosophen sein. Wir kennen Nationen, selbst solche, die groß an Fläche und Bevölkerung sind, die vor dem Altar der Geschichte nicht einen einzigen großen Namen nennen können. Umgekehrt können sehr kleine Länder sich vor dem Gericht der Menschheit von einer ganzen Kohorte von Fürsprechern vertreten lassen. (...) Es ist nicht zu erkennen, dass Frankreich in irgendeinem Bereich der menschlichen Aktivität versagt hätte. Es ist überall präsent und überall glänzt es.“[52]
Der Reichtum in der Vielfalt Frankreichs ist die dominierende Denkfigur dieses Lehrwerks. Er resultiert zunächst auf natürlichste Weise aus einer „vielleicht einmaligen“ geographischen und ethnisch-kulturellen Beschaffenheit. Durch seinen „front atlantique“ sei Frankreich empfänglich für das liberale Element der angelsächsischen Zivilisation und – „fenêtre ouverte sur le grand large“ – für die Versuchung von Abenteuern in der Ferne („la tentation des aventures lointaines“). Durch seine kontinentale Anbindung machte es sich zum „pièce indispensable“[53] der europäischen Kultur, durch sein „front méditerranéen“ sei Frankreich geschichtlich-räumlich mit Afrika und den großen Kulturen der Antike und des Orients verbunden. Diese mediterrane Latinität, „die dem Nordeuropäer fremd sein mag“, verbinde die Menschen am Mittelmeer mit einem geheimen Bande der Sympathie („une secrète sympathie“). Völkerpsychologische Nationalstereotype werden daraus abgeleitet: Diese Mischung aus „fond latin“ und „fond celtique“, aus den verschiedensten regionalen Traditionen und Bräuchen führe nun aber nicht zu prinzipiellen Unvereinbarkeiten, Konflikten und Rissen, sondern vielmehr zu einem allen Franzosen gemeinsamen Charakterzug, der sich trotz oder wegen aller Unterschiedlichkeiten in einem Hang zum Ausgleich („équilibre“), zu besonnener Rationalität, Logik[54] und wohlwollender Milde („ douceur“) äußere. Der Franzose liebe den „contact humain“, er sei zwar Individualist, aber der „Einzelgänger, der Eremit, der Misanthrop fände sich nur selten in Frankreich.“[55] Aus der Betonung einer reichen, fruchtbaren, komplementären Vielfältigkeit, welche große Persönlichkeiten und große Momente der Weltgeschichte hervorbringe, werden folgende geschichtsphilosophische Ableitungen und politische Zielsetzungen hergestellt:
- Die Vielfalt berge zwar zentrifugale Kräfte, aber in der Deutung als übergeordneten Qualität der Gesamtgesellschaft wirke sie einheitsstiftend. Auch wer feindlich zu einzelnen Entwicklungen stehe, könne doch die Grandeur im Ganzen, die politische, ideengeschichtliche Reichweite als solche anerkennen und sich darin wiederfinden: als Royalist und Republikaner, als Laizist oder Kleriker, als Katholik oder Protestant, als Bretone, Korse, Elsässer oder Baske.
- Frankreich sei durch seine einzigartige Vielfalt in gewisser Weise das Universum in kleinem Maßstab. Es sei als solches prädestiniert als menschheitsgeschichtliches Experimentierfeld und als Fermentationsbecken großer Ideen. Das bedeute, dass das, was universell ist, auch französisch sei und umgekehrt, dass das, was französisch ist, immer gleichermaßen universell (vgl. Kap.1) Werden die eigenen Ziele mit den universell wünschenswerten gleichgesetzt, ergebe sich daraus zwingend ein ewiger Anspruch auf Führung, mindestens auf Einfluss und Mitwirkung[56].
- „Die Tendenz des französischen Charakters zu Universalismus, Idealismus und Gemeinnutz“ führen im Denken André Siegfrieds[57] zu einer Haltung „proprement universaliste“ („geradezu universalistisch“), welche unweigerlich aus nationalistischer und ethnischer Enge hinausführe. Die Fähigkeit „de libérer les esprits“ mache den Franzosen, weil er Franzose ist, zum Weltbürger.
Mit einer notwendigen Neupositionierung Frankreichs in der Welt nach 1945 befasst sich der Beitrag von Marcel-Edmond Naegelen[58], der erkennen will, dass die Zeit einer „einsamen Grandeur“ vorbei sei. Aber: „Wir werden keine militärische Großmacht mehr sein. Wir werden eine intellektuelle und moralische und folglich auch politische Großmacht sein“.[59] Naegelen greift die im französischen Diskurs gängige Denkfigur auf, dass Frankreichs Abwesenheit auf der Weltbühne nicht ohne Grund zusammenfalle mit einer „Zeit des Hasses, des Misstrauens und der Gewalt“, seine Rückkehr zu Größe aber eine „Ära der Harmonie, der Gestaltungskraft und der Schönheit“ einleiten werde.
Der damalige Blick auf das politische Frankreich spiegelt in gewisser Weise den Blick auf Frankreich in der Welt. Was von außen gesehen zerbrechlich und schwach wirken muss, nämlich die Menge an Parteien, die Parteienzersplitterung („la poussière de partis que compte la France“), der geringe Wille zu Fraktionsdisziplin, die Regierungskrisen u.s.w., sei in Wirklichkeit Ausdruck einer „démocratie jusqu’à l’excès“ („exzessiven Demokratie“). Letztlich sei Frankreich ein Meister des „équilibre“ (dts. Ausgleich, Gleichgewicht). Kontinuität und Stabilität würden durch die neue Verfassung der V. Republik weiter gefördert[60].
2.1 Algerienbild bei Bruézière und Mauger
Was am meisten auffällt, ist das Vermeiden aller problematischen Bereiche und die offensichtlich enge Anbindung an die politischen Vorgaben. So ist es zwar nicht weiter überraschend, dass das Pétain-Frankreich nicht einmal angedeutet wird, ganz so, als wäre Frankreich in dieser Zeit nicht Frankreich gewesen, aber das totale Ausblenden Algeriens, immerhin noch Teil des Mutterlandes und wichtigster Aspekt im politischen und kulturellen Diskurs über Frankreichs Rolle in Afrika und der Welt, überrascht. Auf 520 Seiten findet sich nur der Hinweis auf Frankreichs unmittelbaren kulturellen (mediterranen) Kontakt mit Afrika. Selbst das Wort Nordafrika wird vermieden, es taucht nur einmal in einer Fußnote in der Besprechung des „L’Étranger“ von Camus auf; einen Hinweis auf Camus’ algerischen Geburtsort Mondovi, gibt es allerdings nicht.
2.2 Deutschlandbild bei Bruézière und Mauger
In besonderer Weise auffällig ist die vollständige Vermeidung eines sonst üblichen antagonistischen Selbstverständnisses (vgl. Kap. 4.2), das seine positive Identität und sein Selbstwertgefühl durch Abgrenzung zum deutschen Nachbarn gewinnt. Die jüngste Geschichte taucht nur in Form eines notwendigen Sicherheitsdenkens, einer „politique extérieure vigilante“[61] auf, die sich, durch vorangehende Erwähnung der vergangenen Kriege, auf Deutschland beziehen muss. Ansonsten fehlt jeder Hinweis auf eine ehemalige Feindschaft, selbst Elsaß-Lothringen wird in der Vorstellung der französischen Regionen einfach ausgespart. Allerdings wird (in einem Auszug von Colette Baudoche) bei Maurice Barrès den Elsässern und Lothringern gehuldigt, die einen „unwiderstehlichen patriotischen Instinkt“ zeigten, als sie 1871, weil „sie es nicht ertrugen, nicht mehr Franzosen zu sein“, in einem „sagenhaften Exodus“ Richtung Westen ihre Heimat verließen.
Viel deutlicher, und in mehreren Beiträgen anzutreffen, ist die Abgrenzung gegenüber den Anglo-Saxons, die mehrfach als den Franzosen völlig wesensfremd dargestellt werden: vor allem hinsichtlich einer weniger ausgeprägten Bindung an den Boden („le sol“), die Familie, das engste ländliche Umfeld und wegen eines englischen Misstrauens gegenüber „großen Ideen“.[62]
3. Der politische Führungsanspruch Frankreichs nach 1945
3.1 Die außenpolitische Grundorientierung
Es muss hier an einige Grundorientierungen Frankreichs erinnert werden, um deutlich zu machen, wie schwierig Frankreichs Stand war, sich für den westdeutschen Teilstaat als europäischen Führungsmacht zu empfehlen, waren doch alle ersten Bestrebungen darauf gerichtet, Westdeutschland dauerhaft zu schwächen („Vergeltungsfrieden“) – zugunsten einer endgültigen Kräfteverschiebung in Mitteleuropa, von der Frankreich profitieren sollte. In diesem Licht sind die anfänglichen Zerstückelungs- und Abtrennungspläne (Rheinland, Saarland) zu sehen, die Abschottung der FBZ („seidener Vorhang“), die Internationalisierung des Ruhrgebietes, die Obstruktion gegen die Bizone und gesamtdeutsche zentralistische Institutionen, später gegen die Staatsgründung 1949, die für de Gaulle noch „das Embryo des neuen Reichs“ darstellte. Der Rückerhalt der Teilsouveränität, unverzichtbar in der Konzeption Adenauers, barg mit der Gründung des westdeutschen Teilstaates gleich ein Bündel von Gefahren[63]: a) Die UdSSR würde mit der Gründung eines ostdeutschen Teilstaates antworten und von dort aus Frankreich bedrohen. b) Die Entstehung zweier deutscher Staaten würde den deutschen Nationalismus schüren, zudem könnten sie die Siegermächte gegeneinander ausspielen, c) die Staatsgründungen führten früher oder später zu einem starken Gesamtdeutschland, dessen Neutralität früher oder später zu einem deutsch-russischen Übergewicht im Osten führen würde.
Erst das Ende französisch-russischer Konsens-Positionen, die Verschärfung des Ost-West-Konflikts, die stärkere Einbindung Frankreichs in den Westen, der Kooperationsdruck seitens der USA und die Belastungen und Niederlagen in Korea und Indochina führten zu einen „Rückzug auf Realpositionen“[64], zu einem Hinnehmen westdeutscher Staatlichkeit als das kleinere Übel. Die notwendige Westintegration der Bundesrepublik erhöhte gleichzeitig den Druck auf Paris zu westeuropäischer Integration (EVG). Der Zeitpunkt war gewissermaßen sehr unvorteilhaft: „Frankreich verteidigte in Indochina und Algerien seine im 2. Weltkrieg verlorene Rolle als Weltmacht“[65] ; nun sollte sie auch noch ihre Souveränität und gleich das Herzstück dieser, die militärische Souveränität, hergeben. Wilhelm Hausenstein formuliert 1961 rückschauend:
„Es mochte in Frankreich weithin als eine beunruhigende Zumutung empfunden werden, zu Gunsten einer politischen und militärischen Integration, an welcher der deutsche Nachbar aufs Unmittelbarste beteiligt sein würde, Elemente nationalstaatlicher Souveränität zu opfern – und dies in einem Augenblick, wo sich Frankreich auf nordafrikanischem Boden in blutige Schwierigkeiten verstrickt sah...“[66]
Die Rolle Frankreichs bei der europäischen Einigung wird nicht unbegründet oft als die der grande gêneuse bezeichnet, einer Störerin und Querulantin. Die Lösung der deutsche Frage war für Frankreich einerseits der Schlüssel zu alter europäischer Machtstellung, andererseits wurden die querelles allemandes (deutschen Streitereien) auch als lästig empfunden – hatte doch die deutsche Zweistaatlichkeit einen insgesamt mächtigen deutschen Nachbarn wiederauferstehen lassen und Frankreich als „weak sister“[67] im NATO-Bündnis auf den zweiten Rang verwiesen. Die Wiedervereinigung wurde zwar jederzeit als eine natürliche Lösung angesehen und auch unterstützt. Allerdings war klar, dass ein vereinigtes Deutschland nur über „das Einvernehmen der Völker, die immer hauptsächlich am Schicksal des deutschen Nachbarn interessiert waren, sind und bleiben, kurz der europäischen Völker“[68] geregelt werden könnte, also in einer Welt ohne Blockkonfrontation und in einer von der UdsSR gebilligten starken Verbindung Deutschlands an ein stärkeres Frankreich. Ein Ziel in weiter Ferne also, das die Unterstützung der westdeutschen Wiedervereinigungsrhetorik risikolos machte. Wie schwer sich Frankreich letztlich aber mit dem „natürlichen Zusammengehen“ tat, wird selbst noch deutlich bei Mitterrands gespaltener Haltung im Winter 1989...
3.2 Besatzungspolitik in der FBZ
Verbrechen der französischen Besatzungsmacht hat es zweifelsfrei gegeben. Über deren Umfang wird noch gestritten, vor allem, ob sie das Maß eines, wenn auch völkerrechtlich nicht legitimen, so doch psychologisch nachvollziehbaren Rahmens überschritten oder nicht. Bei Hüser und auch bei Koop sind sie dokumentiert und ihre Unrechtmäßigkeit wird vorsichtig angedeutet. Bei Kusch[69] allerdings finden sich eine Reihe von Argumenten, die die französische Seite entlasten:
„Eine Armee, die in selbstgewisser Siegerpose rauschende Feste feierte und vor Racheakten nicht zurückschreckte, prägte die kollektive deutsche Erinnerung. In einer mit rassistischer Propaganda bombardierten Bevölkerung mußten gerade die farbigen Angehörigen der nordafrikanischen Truppenteile Angst und Schrecken wecken. Daß dabei das Ausmaß der Übergriffe übertrieben wurde, ist psychologisch nur allzu verständlich, denn das offensichtliche eigene Unrecht erschien dadurch in einem milderen Licht“.[70]
Folgende Umstände gelte es hinsichtlich der FBZ zu berücksichtigen:
- Keine Besatzungsmacht, vor allem nicht die französische, könne als einheitlich handelndes „Kollektivsubjekt“ betrachtet werden. Die soziale Heterogenität bei den Besatzern, die Entfernung zum Mutterland, die Kommunikationsschwierigkeiten mit diesem, all das stand einer direkten Umsetzung einer rein interessengeleiteten Politik des Mutterlandes entgegen.
- Dem Gouvernement Militaire pour la Zone Francaise d’Occupation, wurde eine Zivilverwaltung beigeordnet (nicht untergeordnet). Hier fände sich die nachweisbare Kontinuität einer Linie, die sozialen, demokratischen und aussöhnungsbereiten Idealen folgte[71].
- Das System der Doppelverwaltung in der FBZ, also die Zuordnung einer französischen zu jeder deutschen Stelle, führte zwar zu einer sechsfachen Besatzungsdichte im Vergleich zu der US-Zone, konnte aber mitunter eine Interessenidentität zwischen Besatzern und Besetzten begünstigen.
- Die große wirtschaftliche Not in der FBZ[72] (mit Ausnahme des Saarlandes) ergäbe sich nicht nur aus Partikularismus („politique compartimentée“) und Demontage, sondern auch aus dem extrem ungünstigen Zonen-Zuschnitt, der Kriegswirtschaft des dritten Reichs und schließlich den schlechten Lebensbedingungen in Frankreich selbst[73].
- Es ein Fehlschluss zu glauben, die französische Politik verfolgte nur kurzfristige Ausbeutungsinteressen. Frankreich musste an einer wirtschaftlichen Gesundung interessiert sein, vor allem in Rheinland-Pfalz, das ja später eine eigene Identität und Lebensfähigkeit gewinnen sollte.
Interessant wird es sein, zu überprüfen, in welchem Maße die höchst subjektiven Erfahrungen mit der Besatzungsmacht, vielleicht sogar die der 20er Jahre, in die bundesdeutsche (vor allem südwestdeutsche) Wahrnehmung des Algerienkrieges mit hineinspielten.
Die Jahre der FBZ können mit einiger Sicherheit als eine Geschichte des politischen Misserfolgs interpretiert werden. Die „stringente Reparationspolitik“[74] brachte Frankreich hinsichtlich der Kohlelieferungen einigen Nutzen, aber schadet der FBZ gewaltig. Insbesondere die „wilden“, technisch unzulänglich bewerkstelligten „extensiven“ Demontagen im Herbst 1945[75] führten den Deutschen ein Chaos der französischen Besatzungsinstitutionen und -konzeptionen vor Augen. Ohnehin war der „Vertrauensrückstand“[76] Frankreichs im Vergleich zu den angelsächsischen Zonen von Anfang an eklatant und konnte auch nicht mehr aufgeholt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die von der NS-Propaganda verbreitenden Schreckensvisionen französischer Rachefeldzüge, die angesichts der von der Wehrmacht in Frankreich verübten Verbrechen wahrscheinlich schienen. Zweitens die frankophobe Propaganda[77] der US – Militärs als Folge der endlosen Reibereien zwischen den freien Franzosen und den USA. Drittens die Nachwirkungen der Schwarzen Schmach – Berichterstattung der Weimarer Zeit. Viertens die französischen Minderwertigkeitskomplexe hinsichtlich ihres zweifelhaften Status als militärische Sieger[78]. Fünftens die gravierende materielle Schlechterstellung in der FBZ im Vergleich zu den angelsächsischen Zonen und sechstens schließlich die tatsächlichen Exzesse und Gräueltaten, derer sich französische Armeeangehörige schuldig machten und die auch Konrad Adenauer in einem Gespräch mit Vertretern der Besatzungsmacht Mitte September 1945 in Köln zur Sprache brachte. Die französische Deutschlandperzeption ist im Übrigen gleichermaßen negativ: Obstruktion, Überheblichkeit und Uneinsichtigkeit sind die häufigsten Vorwürfe der FBZ-Behörden, die sich über eine „renaissance de la morgue boche“[79] beschwerte.
4. Französische Zivilisation – Legitimation und politisches Instrument im historischen Kontext
4.1 Die französische Zivilisation – eine europäische Zivilisation mit einer certaine idée de la France
Die enge, legitimatorische Verknüpfung von Zivilisationsanspruch und Machtpolitik und die französische Begründung der mission civilisatrice ist bereits eingangs dargestellt worden. Um zu untersuchen, ob oder inwieweit der französische Missionsauftrag in Konkurrenz zu einer anderen (möglicherweise deutschen) Zivilisationsidee stand und sich dadurch Schwierigkeiten oder Begünstigungen für seine Durchsetzung ergeben mussten, soll der nächstgrößere Rahmen – die europäische Zivilisation beleuchtet werden. Hartmut Kaelble erwähnt in seiner detaillierten Untersuchung der „Typen des europäischen Selbstverständnisses“[80], dass für diese dasselbe gilt, wie für die Nation und die nationale Identität (welche allerdings einen klareren Ausgangspunkt, den Moment ihrer „Erfindung“ haben): sie müssen „fortwährend ausgedacht und gewollt werden, um weiter zu existieren“[81]. Für Frankreich, in dem der Dreiklang Nation-Zivilisation-Identität[82] besonders markant ausgeprägt ist, wird die Debatte um die eigene zivilisatorische Rolle zwangsläufig zur Überlegensfrage der nationalen Identität, wobei der Diskurs selbst Teil einer identitätsstiftenden politisch-philosophischen Alltagskultur geworden ist. Und auch aus dem Ausland wird Frankreich häufig über den Umweg einer französischen Perspektive verhandelt: In Bezug auf den Algerienkrieg bzw. dessen Nachwirkungen im Schulgesetz vom 23.2.05 zur „positiven Rolle der französischen Präsenz in Übersee“ schreibt die FAZ am 30.11.05 unter dem leicht süffisanten Titel „Frankreichs Sozialisten bezweifeln plötzlich die zivilisatorische Mission ihrer Nation“:
„Einstimmig hatten die Abgeordneten und Senatoren am 23. Februar den Gesetzestext verabschiedet, mit dem die historische Leistung der französischen Siedler in den Kolonien und der Einsatz der algerischen Hilfssoldaten, der „harkis“, auf der Seite der französischen Armee gewürdigt werden sollte. (...) Über das Gesetz beschwerten sich zunächst die Lehrergewerkschaften, die darin einen Eingriff in ihre Lehrerfreiheit sahen. Dann entdeckte der algerische Staatspräsident Bouteflika den Gesetzestext und nahm ihn zum Anlaß, Frankreich ‚Blindheit, die an Revisionismus grenzt, vorzuwerfen. (...) Mit dem Ausbruch der Gewalt in den Vorstädten,..., hat sich der Blick der Sozialisten auf das von ihnen gebilligte Gesetz zum Kolonialerbe geändert. Sie sehen jetzt darin ein schwerwiegendes Hindernis auf dem Weg zu einer Aussöhnung mit Algerien. (...) (Dem sozialistischen Fraktionsführer) Ayrault gelang es allerdings nicht, die späte Kehrtwende der Sozialisten zu erläutern. (Außer:) ‚Wir waren nicht wachsam genug!’ (...) Bildungsminister Gilles de Robien hat die Debatte mit dem Hinweis zu entschärfen versucht, dass Art.4 keine Änderung in den Lehrplänen nach sich ziehe. (...) „Wir wollen keine offizielle Geschichtsschreibung, wie das in Diktaturen üblich ist.“
Woraus nun besteht das französische zivilisatorische Selbstverständnis? Kaelble identifiziert zunächst ein europäisches Selbstverständnis in fünf verschiedenen Ausprägungen – je nach Epoche und Nationalstaat anders gewichtet. Diese Feststellung ist besonders wichtig, setzte Frankreich doch, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, den Akzent auf die europäische Dimension seiner Zivilisation.
4.1.1 Das „überlegene Europa“
Die Vorstellung einer einzigartigen zivilisatorischen Überlegenheit Europas ist die älteste des europäischen Selbstverständnisses. Sie basiert auf technisch-wissenschaftlicher Entwicklung und Erkenntnisfähigkeit, auf kapitalistisch-liberalen Einstellungen in der Wirtschaft, der Autonomie des Individuums, der Verfeinerung der Lebensweisen, Wohlstand und Hygiene; Alphabetisierung, Bildung und die europäische Stadt waren ihre Symbole. Diese „naturwüchsige Überlegenheit“ fand ihren Beweis in der wirtschaftlichen und politischen Dominanz Europas über den Rest der Welt und war nicht zuletzt Quelle einer selbstverständlichen Kolonisierung „unzivilisierter“ Erdteile. Spätestens mit dem 2. Weltkrieg und der weltwirtschaftlichen Dominanz der USA ist sie zerstört, befindet Kaelble[83]. Nicht gegenüber der afro-asiatischen Welt, aber gegenüber Nordamerika gab es allerdings schon lange vorher eine große zivilisatorische Rivalität. Was der deutsche Chemiker R.E. Schmidt, Vorstandsmitglied bei Bayer, 1913 über Amerika sagt, ist idealtypisch für eine europäische Sicht auf Amerika:
„So kann man nicht umhin, diese großartigen technischen Leistungen sowie die Energie, den Wagemut und den Elan, womit sie geschaffen wurden, anzuerkennen und zu bewundern. Um so größer ist nun der Kontrast zwischen dieser technischen und kaufmännischen Zivilisation und der eigentlichen Geisteskultur, deren niederes Niveau jedem gebildeten Europäer sofort auffällt.“[84]
Andere drücken sich zurückhaltender aus. Max Weber etwa sagt, dass man als Europäer die Dinge in den USA „in ihrer massivsten Ursprünglichkeit sehen kann“[85]. Es fällt allerdings schwer, dem von Kaelble[86] festgestellten Ende dieses Stranges zuzustimmen. Bis heute (z.B. in der Argumentation eines Tedd Ellington) existiert diese Linie weiter, allerdings ist hier dieses europäische Selbstverständnis mehr zu einem französischen geworden. Auch der grandeur -Diskurs[87] de Gaulles nach 1959 nimmt diese Perspektive ein, aus Überzeugung oder Taktik, und zieht eine feine Linie zu den USA, deren zivilisatorischen Anspruch de Gaulle üblicherweise ignoriert:
„Nur ein solches Gleichgewicht (zwischen Atlantik und Ural) wird es vielleicht eines Tages dem Alten Kontinent ermöglichen, zwischen seinen beiden Lagern eine Verständigung herbeizuführen, in seinem Inneren Frieden zu schaffen, seiner Zivilisation einen neuen Antrieb zu geben und schließlich gemeinsam mit Amerika in aller Ruhe zur Entwicklung der Masse der unbemittelten Menschen und der in vollem Erwachen begriffenen Völker Afrikas beizutragen...“[88]
4.1.2 Europa als Anfang der „universalen Moderne“
In dieser Perspektive sieht sich Europa als Teil „eines weltweiten Wandels, etwa einer weltweiten Demokratisierung, einer weltweiten wirtschaftlichen Modernisierung, einer weltweiten Durchsetzung einer Zivilgesellschaft oder Zivilreligion, eines gemeinsamen universalen Wertekanons.“[89]
Im Kern dieser Perspektive ist zwar keine dauerhafte Superiorität Europas angelegt, aber sie kann natürlich bis zur vollständigen Modernisierung der Welt instrumentalisiert werden. Neben einer Variante des Bewusstseins einer aktuellen Führungsrolle gebe es eine „eher rückwartsgewandte“ Variante dieses Bewusstseins, die sich auf eine „entscheidende, aber vergangene Vorreiterrolle in einem die Gegenwart noch bestimmenden Prozess der Zivilisierung und Modernisierung“[90] stützt. Dieser Typ europäischen Selbstverständnisses gewann nach dem 2. Weltkrieg parallel zur ökonomischen und weltpolitischen Rückstufung Europas an Profil. Gerade weil sich Frankreich mit der Aufklärung und Revolution als universaler Motor des Fortschritt begriff und zugleich (neben Deutschland) die wohl empfindlichste weltpolitische Rückstufung nach 1945 erfuhr - und zwar doppelt, auf europäischer und auf weltpolitischer Ebene - betrieb es, vor allem nach dem Verlust bald aller Kolonien, nicht uneigennützig, eine Politik der Aufwertung Europas:
„Letzten Endes, so war es schon immer, wird nur das Gleichgewicht der Welt den Frieden bringen (...) Dann wird ganz Europa, wenn es aufgehört hat, durch überholte Ambitionen und Ideologien geteilt zu sein, wieder (eig. Hervorhebung) das Hauptzentrum der Zivilisation werden“[91]. „Warum sollte dieser große Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschritts unter seiner eigenen Asche erlöschen?“[92]
In dem großen Konflikt der Blöcke nach 1945 aber musste angesichts der Realitäten dieser Zivilisations-Diskurs einigermaßen wirkungslos verhallen. Im innereuropäischen Streit um die Führungsrolle allerdings war die rückwärtsgerichtete Perspektive eine für Frankreich äußerst wichtige. Auch in den 50er Jahren, in denen die westdeutsche Demokratie für alle sichtbar funktionierte, in denen „Deutschland heute niemanden mehr bedroht“[93], hatte Frankreich ein starkes Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland und misstraute jedem Deutschland, das kein Adenauer-Deutschland[94] wäre. Durch die Retrospektive und das starke Wachhalten der deutschen Aggressionen[95], die Ausblendung Vichys und des französischem Antisemitismus und im betonten Rückgriff auf die Ideale der französischen Revolution von 1789 konnte Frankreich gegenüber den westdeutschen „Neudemokraten“ leichterhand seine moralische Führungsrolle legitimieren. So formulierte der französische Historiker Pierre Nora: „Frankreich mag eine Mittelmacht geworden sein, aber durch seine Geschichte ist es groß geblieben.“[96]
4.1.3 Das „bedrohte Europa“
Dieser Typ des europäischen Selbstverständnisses beruht auf einem Gefühl der Bedrohung durch andere Zivilisationen oder Nationen und deren Hegemonialbestrebungen. Besonders virulent ist dieses Bewusstsein von der Jahrhundertwende bis in die 70er Jahre bezüglich der USA und seit der Oktoberrevolution bis in die 70er Jahre bezüglich der Sowjetunion. Vor allem Deutschland und Frankreich waren die Wortführer gegen eine „amerikanische Gefahr“.
„Nicht in der Einführung amerikanischer Maschinen an sich, nicht in der gesamten Kapitalisierung und Demokratisierung des Lebens, sondern in der Nivellierung des Geistes ... (besteht die amerikanische Gefahr). Schon sieht es so aus, als erobere sich die amerikanische Simplifizierung des Lebens auch unseren Kontinent. (...) Der Krieg hat Amerika nicht nur zum Sieger über die Mittelmächte, sondern über ganz Europa gemacht. Es wird Aufgabe Europas sein, sich zu wehren, dass es nicht auch kulturell unterliegt.“[97]
Auf französischer Seite war es z.B. Jules Huret, der die Bedrohung Europas durch die USA als „einen gigantischen Kampf“ sah, „der schon nicht mehr nur ein Kampf, sondern ein Massaker ist.“[98]
Nach dem 2. Weltkrieg verband Adenauer-Deutschland mit dem Frankreich der Volksrepublikaner und Gaullisten eine starke Angst und Aversion gegen die UdSSR. De Gaulle, der schon früh wusste, auf welcher Seite er im Ernstfall zu stehen hatte[99], war zwar überzeugter Antikommunist, sah die Bedrohung Frankreichs und Europas aber vor allem in der durch die Blockbildung und Spaltung erzwungenen Agonie (Yalta-Komplex). Für Frankreichs nordafrikanisches Interessengebiet war zweifelsfrei die UdSSR die größere Bedrohung:
„Dieses Land (die Sowjetunion) erhebt jetzt den Anspruch auf eine Art Vormachtstellung als Vorstufe der völligen Beherrschung jener Völker Asiens und Afrikas, denen der Westen die Freiheit gegeben hat“[100]
Bis zur Einleitung der einer vorsichtigen Verständigungspolitik gegenüber dem Osten[101] war die CDU/CSU-Regierungspolitik kategorisch. Für Adenauer, für den „Asien an der Elbe begann“, gab es schon 1947 nur noch zwei Fronten: „eine christlich-abendländische und eine asiatische“[102]. Es erscheint in diesem Zusammenhang folgende Beobachtung interessant: Während de Gaulle für die bedrohte abendländische Kultur einen großen Bogen spannen konnte von Karl dem Großen über die französischen Revolutionen bis in seine eigene Zeit und dort seine Mission sah, bestand für Adenauer, so W. Leonhardt[103], die Berufung Deutschlands in einem gottverfügten Bollwerk gegen den Kommunismus.
[...]
[1] Kaelble (1991, S.191) streicht den starken Konsens innerhalb der bürgerlichen intellektuellen Elite für die elitären Institutionen (vor allem der grandes écoles) und ihrer staatlich-republikanischen Tradition heraus. Auch die KPF (PCF) rekrutierte stets ihre hohen Funktionäre auch diesen Institutionen.
[2] Dies gilt mit Sicherheit für die Vichy-Aufarbeitung in den frühen 90er Jahren, die von Chirac mutig vorangetrieben wurde, und zum Teil auch noch für die Sklaverei-Dedatte des Jahres 2001.
[3] Die „Loi Taubira“, die die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit festschreibt, wurde am 10.5.2001 verabschiedet. Vgl . Libération vom 10.5.06.
[4] In dessen §4 sollte den Geschichtslehrern vorgeschrieben werden, die Epoche der Kolonialzeit „positiv“ zu unterrichten. Zurückgezogen im Februar 2006.
[5] Der „contrat première embauche“ (Erstanstellungsvertrag), zurückgezogen am 10.4.06, hatte flexiblere Kündigungsregelungen vorgesehen.
[6] Ausdruck des Historikers Pascal Blanchard: „Non à la guerre des mémoires“. In: Le Nouvel Observateur n° 2144 (dossier) vom 8.12.05.
[7] Vgl. Cécile Wajsbrot, in: Libération vom 19.4.06. Dort erinnert sie an den Aufruf Victor Hugos von 1871, Frankreich möge sich auf eine Revanche gegen Deutschland einschwören. Vgl. auch Kapitel 4.2.3.
[8] Schon 1961, also in einer Zeit, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht, befand J. Roche (S.21): „(...); notre pays, attaché à la démocratie sociale et politique, a un faible pour les individualités brillantes; ses habitants, pourtant laborieux, paraissent frivoles; sa tradition de révolutions fait des Francais un peuple conservateur, contrairement à ce qu’ils croient et à ce qu’on pourra croire.“ („Unser der sozialen und politischen Demokratie verpflichtetes Land hat eine Schwäche für herausragende Persönlichkeiten. Seine Bewohner, wenngleich arbeitssam, scheinen glücksritterhaft. Seine Tradition der Revolution macht aus den Franzosen ein konservatives Volk – anders, als man meinen sollte und anders, als sie selbst glauben“).
[9] die Kaelble (1991, S.236) im Kontrast zu „Ambivalenzen im Selbstverständnis der Bundesrepublik“ identifiziert.
[10] „L'affaire Clearstream n'est pas seulement un scandale d'Etat, elle sert aussi de révélateur implacable des dérives de la Ve République, de son opacité, de son cynisme, de son mépris des lois ordinaires de la démocratie (…). … la Ve République tourne à la République consulaire, ce qui constitue une régression insensée de la démocratie et un anachronisme absolu au début du XXIe siècle. Ce régime devient ainsi une République autiste.” In: Libération v. 3.5.2006. („Die Clearstream-Affäre ist nicht nur ein Staats-Skandal, sie enthüllt auch schonungslos das Abdriften der V. Republik, ihre nebulösen Praktiken, ihren Zynismus und die Mißachtung der selbstverständlichsten demokratischen Regeln. Sie wird zur Republik der Konsuln, was einen unsinnigen Rückschritt der Demokratie darstellt und einen absoluten Anachronismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts“).
[11] Éric Loret: „La France, plus à droite que jamais“. (Rezension von: Mehdi Belhaj Kacem, La Psychose francaise). In: Libération, 18.05.06.
[12] Cécile Wajsbrot: „Nous sommes un pays perdu“, in: Libération vom 19.04.06. „Soweit ist es also gekommen - das Aus für die europäische Verfassung durch das Nein der Franzosen beim Referendums ist nur die Spitze eines Eisbergs, die an der Wasseroberfläche aufgetaucht ist, die Spitze eines viel älteren Neins.“
[13] „La France meurt de ne compter plus assez de patriotes, c’est-à-dire de citoyens capables de reconnaître ce qu’il y a de grand en elle, dont on doit être fier“ (2006, S.41). „Frankreich stirbt aus Mangel an Patrioten, das heißt an Staatsbürgern, die fähig sein anzuerkennen, was groß ist, auf was man stolz sein muss.“
[14] Chabel: „La crise des banlieues est une crise de la modernité“, in: Le Figaro vom 4.1.2006.
[15] „Wir müssen also die Geschichte neu aufrollen um uns besser kennenzulernen und die aktuelle französische Gesellschft zu verstehen. Was von der Kolonialzeit bleibt, sind die Vorurteile, die “idée très élitiste“, nach der jedermann Proben zu bestehen hat, um in das Licht der Zivilisation zu treten und die unglaubliche Unwissenheit über diese gemeinsame Geschichte der Kolonisatoren und der Kolonisierten, der zurückgekehrten Pieds-noirs (Algerienfranzosen, eig. Anm.), der Harkis (Algerier, die auf französischer Seite kämpften, eig. Anm.). Wir sind heute in einer Situation, in der man versucht, „Geschichten“ und Gedächtnisse einzelner Gruppen zu verbannen.“ Pascal Blanchard: „Non à la guerre des mémoires“. In: Le Nouvel Observateur n° 2144 (dossier) v. 8.12.05. Vgl. hierzu auch Hüser, 2005, S.46-48. Für ihn beginnen bereits die „mémoires patriotiques“, die „Geschichte als Kollektivsingular“ in einen „Plural von Geschichten zu zerfallen“.
[16] Ausgangspunkt ist der de Gaulle-Rooseveltsche „Kleinkrieg im Weltkrieg“ (vgl.Hüser, 1996, S. 92-96), vorläufiger Endpunkt das Ausscheren Frankreichs aus der „Koalition der Willigen“ im Zweiten Golfkrieg 2003. Zur Aberkennung des Großmachtstatus seitens der USA nach 1940 und dem Konkurrenzkampf zweier Nationen in einer „universalistischen Mission“ vgl. auch Durandin, 1994, S.61ff und Buchrücken.
[17] siehe hierzu auch Kapitel 4.3.2.
[18] vgl Blanchard „Non à la guerre des mémoires“. In: Le Nouvel Observateur n° 2144 (dossier) vom 8.12.05.
[19] Vgl. The New Republic, 28.11.05.
[20] Vgl. etwa das umstrittene Buch von Volker Koop des Jahres 2005; Besetzt – Französische Besatzungspolitik in Deutschland. Siehe Kapitel 3.2.
[21] siehe etwa Die Zeit vom 28.4.05: „Der NS-Staat als Antwort auf den American way of life“.
[22] Siehe hierzu die Besprechung Reinhard Höhns „Frankreichs demokratische Mission in Europa und ihr Ende“ von 1942 im Kapitel 4.2.1.
[23] Hildebrand (1984, S.224) nennt Adenauer, F-J. Strauß und Gerstenmaier als prominenteste „Gaullisten“, dazu den kleineren Teil der CDU und, „nahezu geschlossen“, die bayerische CSU.
[24] Vgl. Kettle, 1993, S. XIV: „On the muslim side, 120.000 FLN troops were said to have been killed by the french; while a further 400.000 Muslims had been killed in part by the FLN, and in part by the French Armay.“ An anderer Stelle weist Kettle (S.IX) auf „this massacre of their own people by the FLN“ hin. Dieser „fanatical enemy“ „was killing eight or ten times as many of their own people as there were French colons.“
[25] vgl. Scheffler, 1995, S.84.
[26] Moersch (1984, S.274) spricht von einer „germanozentrischen Betrachtung der Ost-West-Politik“.
[27] Genau genommen reicht die Erfahrung einer angeblichen „Bestialität dieser Afrikaner auf den Schlachtfeldern“ bis zum Krieg von 1870/71 zurück. Vgl. Menzel, Wolfgang: Geschichte des französischen Krieges von 1870-71. Bd. 1. (S.89). Stuttgart: 1871.
[28] „Und wieder die ‚schwarze Schmach’? Zu einer generellen ‚Schwärzung’ des Bildes französischen Truppenverhaltens trug die Anwesenheit von Kolonialsoldaten beträchtlich bei. Während die farbigen Amerikaner bald zu ‚Lieblingen’ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft avancierten, blieben die Nord- und Westafrikaner in Reihen der Franzosen Kristallisationspunkte deutscher Ängste und Traumata“. Hüser, 1996, S.565.
[29] Vgl. hierzu Hildebrand, 1984, S.222.
[30] Vgl. Ziebura, 1975, S.463, 464. Uterwedde, 1998, 10ff. Möller,1984, S.170. Für Hildebrand (1984, S.222) „durchkreuzten sich amerikanische und französische Strategie im deutsch-französischen Vertrag und seiner Präambel.“
[31] In der MLF-Debatte (Multi-Lateral-Force) ging es um die etwaige Beteiligung der Bundeswehr an nuklearen amerikanischen NATO – Einheiten. Vgl. hierzu etwa Woyke, Wichard: Opposition und Verteidigungspolitik im gaullistischen Frankreich (1958-1973). Opladen: Leske & Budrich, 1975, S.79ff.
[32] So etwa Bush’s Kampf gegen die „Achse des Bösen“ im Irak aus der Sicht seiner Kritiker.
[33] Vgl. etwa Darstellungen in Lexika oder Wörterbüchern wie dem Petit Robert.
[34] Begriff bei Ziebura, 1970, S.12.
[35] siehe Kapitel 4.2.1.
[36] siehe Kapitel 4.2.1.
[37] In der offiziellen Terminologie ist Frankreich natürlich keine Kolonialmacht. Für Mitterand sind 1954 Frankreich und Algerien wie beide Seiten der Seine. Ähnlich äußert sich Mendes-France im November 1954 sowie de Gaulle: „L’Algerie doit démontrer qu’elle est une terre francaise pour aujourd’hui et pour toujours, en algerie il n’y a que des francais à part entière avec les mêmes droits et mêmes devoirs”. Ziteirt nach Buhsinsi, 2000, S.44,45. („Algerien muss zeigen, dass es französischer Boden ist, heute und für immer. In Algerien gibt es nur Franzosen „jenseits“, mit gleichen Rechten und Pflichten“).
[38] Französische Besatzungszone.
[39] Vgl. Werner, 1984, S.40-44. Zu Napoleonverehrung und Napoleonhass vgl. auch Kautz, 1957, S.40ff. Vgl. auch Kapitel 4.2.2.
[40] Vgl. Durandin, 1994, S.61ff
[41] Der Erfolg erscheint nur dann klein, legt man die Maximalforderungen zugrunde: Ein durch eine Machtbalance von Frankreich und Russland (de Gaulle rechnete nicht mit einer langen Lebensdauer der UdSSR) geführtes Europa. Hüser, 1996, S.226ff weist aber auf das strategische Moment der Maximalpositionen hin: „versteckter Realismus“ in „utopischer Rhetorik“.
[42] „In Wirklichkeit ist das Schicksal Deutschlands das zentrale Problem des Universums. Für Frankreich ist es gleichzeitig eine Frage auf Leben und Tod“ (de Gaulle am 25.10.44). Charles de Gaulle: Discours et messages – Pendant la guerre 1940-1946. Paris: 1970. S.512. Zitiert nach Dankert, 1991, S. 211, 212.
[43] Eine solche konnte jedoch nicht aufwiegen, „was bisweilen rabiates Auftreten keineswegs nur mental verwüstet hatte.“ Herbert Elzer: „Rabiates Auftreten. Frankreichs Besatzungspolitik in Deutschland 1945-49“, in: FAZ vom 29.11.05.
[44] Charles de Gaulles: Mémoires de guerre. L’appel 1940-1942. Paris: Plon, 1954. S.7. Zitiert nach Kolboom/Stark, 1999, S.461.
[45] Kolboom/Stark, 1999, S.444.
[46] Mit diesem Ausruf de Gaulles während seiner Québec-Reise sorgte de Gaulle für einigen Wirbel. Vgl. hierzu auch Stercken, 1969, S.125ff.
[47] Kolboom/Stark, 1999, S.445.
[48] Zur Irrealität einer bundesdeutschen Teilhabe an französischen Nuklearwaffen, des „tabuisierten Kerns der Staatsräson der V. Republik“, vgl. Schütze, 1988, S.27, und auch Dankert, 1991, S.230. Weisenfeld, 1990, S. 81, erinnert daran, dass eine der ersten Amtshandlungen de Gaulles darin bestand, die Verbindungen der französischen Atomtechnik und –politik zur Bundesrepublik (und zu Israel) abzuschneiden.
[49] In: Libération vom 27.12.2005. („Eine Nation wird groß, indem sie die anderen kleinhält. Und man wird nicht ungestraft eine große Nation. Man braucht Willen und Entschlossenheit. (...) Täuschen, betrügen, massakrieren wenn nötig. (...) Antworten bereithalten für den Fall, dass irgendwelche Querulanten Vorwürfe machen. Das nehmen, was einem nicht gehört. Den Eigentümer am besten gleich mitverkaufen. Der Appetit kommt beim Essen. Jetzt heißt es in großem Stil zu handeln, auf einem industriellem – zivilisiertem – Niveau“).
[50] Erschienen 1944. Ein Gegenentwurf hierzu, die kulturelle Anklageschrift „Idéologie francaise“ von Bernard-Henri Lévy, erscheint 1981.
[51] Bruézière/Mauger, 1957, S.269: „Car, ce que les francais aiment à considérer comme leur vocation nationale, promouvoir et défendre l’universel (Hervorhebung im Original), l’écrivain le confirme par la variété même des talents et des esprits qui ont fait la grandeur de la France.“
[52] „Certains peuples ont pris place dans l’histoire parce qu’ils avaient engendré d’audacieux navigateurs; d’autres doivent leur renom à l’habilité de leurs négociants; d’autres encore se font admirer pour leur industrie dont les produits sont estimés et recherchés. Il en est qui s’enorgueillissent de leurs poètes, ou de leurs musiciens, ou de leurs philosophes. (...) On connaît des nations, même très nombreuses et fortement établies sur de vastes territoires, qui ne peuvent répondre à l’appel de l’histoire en citant le nom d’un seul de leurs citoyens. En revanche, de très petits pays peuvent se faire représenter au tribunal de l’humanité par une cohorte d’avocats. (…) On ne voit pas que la France ait fait défaut dans une quelconque des parties de l’activité humaine. Elle y est partout présente et partout elle excelle. (...) Toutes les provinces de la France ont montré, dans ce grand labeur, des vertus concurrentes ou complémentaires. Voltaire et Lavoisier sont Parisiens, Montesquieu est Gascon, Corneille est Normand Elle (la liste) montrerait à merveille que nul canton de la France n’est un médiocre terroir pour le talent et le génie.“
[53] Frankreich wäre nicht Frankreich ohne Europa, noch weniger wäre Europa Europa ohne Frankreich. Vgl. Bruézière/Mauger, 1957, S.6.
[54] Allerdings, so André Maurois (ebenda, S.105), irrten die Engländer und Amerikaner, wenn sie glaubten, die Franzosen wären immerzu logisch-rational. Zeitweise seien die Franzosen so sehr von einer Idee besessen und leidenschaftlich, dass sie alle Rationalität vergäßen. So etwa in der Dreyfus-Affäre, einer „douloureuse affaire de trahison de la fin du XIXe siècle.“ („Eine schmerzliche Affäre des Verrats am Ende des 19. Jahrhunderts“). Fast möchte man fragen, ob die Judenverfolgung im unbesetzten Frankreich oder die systematischen Folterungen algerischer Freiheitskämpfer dann auch nur Ausdruck von „Leidenschaft“ war. Auch Bruézière/Mauger, (1957, S.89) folgen der Sichtweise Maurois’, wenn sie feststellen, dass „der Franzose“ sich häufig im Widerspruch zu seiner eigentlichen Veranlagung, seinem „esprit de logique“ bewegt. Dies mache ihn sogar zum „le plus paradoxal des êtres.“
[55] Ebenda, S.110: „Ses idées, il veut les échanger, les confronter avec celles du voisin, et, loin de redouter la critique, il la recherche, moins peut-être dans l’espoir d’éclairer sa lanterne que par le moyen de la discussion, un contact humain. Aussi, le misanthrope, le solitaire, l’ermite sont-ils des types d’hommes peu répandus dans notre pays.“
[56] Die Einsicht, keine Großmacht mehr zu sein wird kompensiert durch die Selbstdefinition als „mittlere Weltmacht“, als „besonderer Akteur“, dessen Besonderheit auch in der Strahlkraft französischer Kultur („Rayonnement“) liegt. Die Verteidigung der französichen Sprache und Kultur (z.B. als „exception culturelle“ in den GATT-Verhandlungen 1993) ist ein Zeichen für „Frankreichs Weltpolitik“, die im französischen Diskurs immer auch „Frankreich in der Welt“ bedeutet. Vgl. Kolboom/Stark, 1999; Kolboom/Stark, 2005; Grosser, 1986, S.400ff.
[57] Vgl Bruézière/Mauger, 1957, S.91 (Auszug aus Siegfried, André: L’Âme des peuples. Hachette: Paris, 1950.). André Siegfried war im übrigen Ausbilder für die Führungskräfte der französischen Besatzungsmacht und vermittelte in dieser Eigenschaft seine „rassegeographischen Deutungsmuster“ des Deutschen (vgl. Hüser, 1996, S. 568ff). Man muss sich allerdings fragen, ob die nationale Beanspruchung eines Universalismus nicht letztlich nur eine Form „kultureller Hegemonialpolitik“ verschleiert, wenn dieser Universalismus seine Idee genauso gefährlich verabsolutiert wie jede andere Doktrin. Selbst die Kritik am französischen Universalismus ließe sich mühelos positiv in diesen integrieren – möchte doch ein „guter“ Universalismus auch ein streitbarer sein. Selbst ein zerrissener, um Ausgleich im Algerienkrieg bemühter Camus spricht auch immer wieder von einem „nouvel impérialisme arabe“ (Vgl. Camus, 1958, S.203). In der Tat muss jedes universelles Prinzip, von anderen in Anspruch genommen, (und auch die Unabhängigkeit ist ein solches) im französischen Universalismus-Konzept wie Imperialismus erscheinen.
[58] Vgl Bruézière/Mauger, 1957, S.107, 108. Marcel-Edmond Naegelen war auch französischer Generalgouverneure von Algerien vom 11.2.45 bis 9.3.51. In seine Amtszeit fallen die Massaker von Sétif und Guelma. Vgl. Kapitel 4.3.2.
[59] „Nous ne serons plus une grande puissance militaire. Nous serons une grande force intellectuelle et morale et par conséquent politique.“
[60] Bruézière/Mauger, 1957, S.194f.
[61] Bruézière/Mauger, 1957, S.195.
[62] Ebenda, S.90, S.105.
[63] Vgl. hierzu Schreiner, 1985, S.148.
[64] Hüser, 1996, S.459.
[65] Altwegg, 1989, S.77.
[66] Hausenstein, 1961, S.131.
[67] Begriff bei Costigliola, 1992, S.79.
[68] Charles de Gaulles: Discours et messages – Pour l’effort 1962-1965. Paris: 1970. S.354. Zitiert nach Dankert, 1991, S.229.
[69] Vgl. Kusch, 1989, S. 5 – 27.
[70] Kusch, 1989, S.18.
[71] Vor allem zutreffend für Koenigs Generalverwalter, dem Sozialisten Emile Lafon, dessen „politique de l’humanité“ auch schon durch die bekannte Ambivalenz der de Gaullschen Devisen abgesichert war. Kusch (1989, S.19) erinnert in diesem Zusammenhang auch die Rücktrittsdrohungen im Mai 1948des Gouverneurs von Rheinland-Pfalz, Hettier de Boislambert, angesichts der harten Requisitionsforderungen der Militärs. Auch Bouhsini (2000, S.140) erinnert daran, dass es neben den Befürwortern eines „ Vergeltungsfriedens “ stets auch Befürworter einer kooperativen Deutschland und Europapolitik gab. Doch auch letztere wollten jegliches Aufleben der deutschen Gefahr unmöglich machen.
[72] Rothenberger, Karl-Heinz: Die Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Ernährung und Landwirtschaft in Rheinland-Pfalz 1945-1950. Boppard: 1980, vgl. Kusch, 1989. Vgl. Hüser, 1996, S.406.
[73] Hüser, 1996, S.427.
[74] Vgl. Becker, 1987, 32ff. „Der erste Chef der frz. Besatzung, Marschall de Lattre, erweist sich als harter Vergeltungspolitiker und wird bereits nach wenigen Wochen ‚hinwegbefördert’ durch den General Koenig, der ... in der Reparationsfrage nicht weniger unerbittlich ...(ist).“
[75] Hüser (1996, 538ff, 566) dokumentiert die unzähligen technischen Pannen und die chaotische Transport- und Verladepraxis, die oft zu Unbrauchbarkeit des Materials wegen verrosteter oder fehlender Einzelteile führte. .
[76] Ebenda, S.560.
[77] So führt beispielsweise Lieutnant-Colonel Beaufre in seinem Saar-Rapport vom 15.7.45 aus: „ … les Américains préparent notre arrivée par une propagande francophobe: l’armée francaise comprenait soit des noirs, soit des terroristes, et l’usage était de laisser piller et violer pendant trois jours pleins …“. Zitiert nach Hüser, 1996, S.562.
[78] Vgl. hierzu Hüser, 1996. S. 563. „Dem deutschen Beobachter erschien es, als wenn „la Grande Armée hardly existed“, fuhren doch deren Soldaten amerikanische Lastwagen, rauchten Lucky Strikes und trugen britische Uniformen.“
[79] Hüser, 1996, S.569.
[80] Kaelble, Hartmut: Europäer über Europa – die Entstehung eines europäischen Selbstverständnisses. Frankfurt/M., New York: Campus Verlag, 2001. S. 25ff.
[81] Ebd. S.26. Zur „Künstlichkeit“ des Begriffs der Nation und der Entstehung eines Gemeinschaftsglaubens durch „Solidaritätsgefühl“, „Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft“ und einer „Wesensähnlichkeit (unbestimmten Inhalts)“ in der Theorie von Max Weber vgl. auch Bock, 2000, S.20.
[82] Dieser Dreiklang, der durch die Ausklammerung (Algerienkrieg) oder Uminterpretation (in Bezug auf Vichy: in den guerre de 30 ans, „den 30jährigen Krieg“, bei de Gaulle; in die letzte große „Konterrevolution“ der Gegner von 1789 bei Teilen der Linken) höchst dissensualer Epochen, also durch Vermeidung von Brüchen, harmonisch bleiben konnte, manifestiert sich vor allem nach außen, während Frankreich nach innen durch eine Vielzahl sozialer, politisch-historischer, kulturell-geographischer und ethnischer Konfliktlinien und Spaltungen gekennzeichnet ist: In diesem Kontext ist beispielsweise die kommunistisch-gaullistische Ablehnung des EVG-Vertrages, die höchst konsensuale Außenpolitik auch in Zeiten der cohabitation einleuchtend.
[83] Kaelble, 2001, S.27-31.
[84] Schmidt, R.E.: Einige allgemeine Eindrücke und Betrachtungen, in: Rassow, B. (Hrsg.), Amerikanische Reiseskizzen. Leipzig: 1913. S.23. Zitiert nach: Kaelble, 2001, S.112.
[85] Weber, Max: Wissenschaft als Beruf (1917/19), Neudruck Stuttgart: 1995. S.35. Zitiert nach Kaelble, 2001, S.41.
[86] Kaelble (S.43) zitiert für seine Argumentation u.a. Simone de Beauvoir.
[87] Vgl. etwa Grosser, 1986, S.180; Dankert, 1991, S.211.
[88] Aus de Gaulles Ansprache vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses, am 25.4.60, zitiert nach Stercken, 1969, S.48, 49. Die Wahl dieses Zitats begründet sich auch in seiner semantischen Dichte bei gleichzeitiger, für de Gaulle typischer, Vagheit: a) der implizite Zivilisationsvorsprung Europas und der USA vor den Völkern Afrikas; b) die Beschönigung der blutigen Unabhängigkeitskriege in Afrika; c) der dezente Hinweis an die USA, erst später und dann nur gemeinsam in Afrika Politik zu machen.
[89] Kaelble, 2001, S.36.
[90] Ebenda.
[91] Rundfunkansprache de Gaulles am 31.5.1960. Zitiert nach Stercken, 1969, S.199.
[92] Pressekonferenz de Gaulles am 5.9.1969. Zitiert nach Stercken, 1969, S.200.
[93] Aus de Gaulles Ansprache vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses, am 25.4.60, zitiert nach Stercken, 1969, S.48, 49.
[94] Es ist in der Tat unwahrscheinlich anzunehmen, de Gaulle hätte von seiner Grundüberzeugung, nach der „in Wirklichkeit das Schicksal Deutschlands das zentrale Problem des Universums“ sei, welches „für Frankreich gleichzeitig eine Frage auf Leben und Tod“ sei, Abstand genommen (de Gaulle, 1970, 512). Bis in die Mitte der 50er Jahre warnte de Gaulle vor einer politischen und militärischen Hegemonie des „Reichs“ über die EVG und vor der eventuellen Hinwendung Gesamtdeutschlands zur Sowjetunion. Vgl. hierzu Dankert, 1991, S. 211ff. Ein Misstrauen, dass Adenauer in bestimmten Punkten sogar teilte. Vgl. Möller, 1984, 171.
[95] Bis in die 60er Jahre sind de Gaulles Reden geprägt von Kriegserinnerungen; so auch die Tischrede zu Ehren Adenauers (3.7.62), in der er von „der wütenden Leidenschaft, die ein verbrecherisches Regime während des letzten Weltkrieges benutzte, um das deutsche Volk mitzureißen“, spricht: „(...) Bedeutet das nun, dass Franzosen und Deutsche, weil sie heute solidarisch sind, alle vollbrachten Anstrengungen, alle auf beiden Seiten während einer harten Geschichte, in der sie so oft gegeneinander standen, gebrachten Opfer verleugnen sollen?“ Zitiert nach Stercken, 1969, S.54.
[96] Zitiert nach Christadler, 1999, S.289.
[97] So der deutsche Psychologe und Fachhochschuldozent Richard Müller-Freienfels im Jahr 1927. Zitiert nach Kaelble, 2001, S.33.
[98] J. Huret: En Amérique, Bd.1. Paris: 1907, S.107. Zitiert nach Kaelble, 2001, S.32.
[99] Über das „unerbittliche Joch“, unter dem die Menschen im sowjetischen Einflussbereich litten, machte sich de Gaulle keine Illusionen. Als er im Dezember 1944 Moskau verließ, sagte er: „Das ist ein unmenschliches Regime; wir haben diese Leute für hundert Jahre auf dem Buckel.“. Bei: Weisenfeld, 1990, S.59. Trotz der französisch-amerikanischen Anfeindungen war klar, auf welcher Seite Frankreich im Ernstfall stand und das eine Politik, die systematisch auf Moskau setzte, zur Isolierung oder zur Unterwerfung unter die UdSSR führen würde. Vgl. Hüser, 1996, S.102. An anderer Stelle weist Hüser darauf hin, dass von einem „déchirement du choix entre Moscou et Washington“ (einem Zerreißen in der Wahl zwischen Moskau und Washington) nie wirklich die Rede sein konnte (S.108).
[100] Ansprache de Gaulles in Nizza am 34.10.1960. Zitiert nach Stercken, 1969, S.118, 119.
[101] Vor allem seit dem 1961er Wahlkampf durch die SPD und einer FDP, die sich gegenüber der CDU/CSU profilieren musste. Vgl. Moersch, 1984, S.270ff.
[102] Zitiert nach Möller, 1984, S.172.
[103] Leonhardt zitiert einen der „Glaubenssätze dieses Staates“ bei Adenauer: „Ich glaube, daß Gott dem deutschen Volk eine besondere Aufgabe gegeben hat, Hüter sein für den Westen gegen jene mächtigen Einflüsse, die von Osten her auf uns einwirken“ (1961, S.433).
- Arbeit zitieren
- Bernhard Nitschke (Autor:in), 2007, Europäischer Führungsanspruch und Mission Civilisatrice - Die politische und öffentliche Wahrnehmung Frankreichs in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Algerienkrieges, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74169
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