Die Vorstellungen über ‘Geschlechtlichkeit’ bzw. über die Geschlechtszugehörigkeit werden durch ein Konglomerat von alltagstheoretischen Grundannahmen bestimmt. Seitdem jedoch das Geschlecht selbst Gegenstand zahlrei¬cher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist, sind diese alltagstheoretischen Definitionen von Geschlecht zur Disposition gestellt. Ausgehend von dieser Kritik, wird im ersten Kapitel der feministische, sozio¬logische und philosophische Diskurs über die Kategorie Geschlecht verkürzt dargestellt.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der konkreten Ausgestaltung der männlichen Ge-schlechtsidentität. Existiert eine einheitliche Definition von ‘Männlichkeit’ oder der männlichen Identität? Kann man von einer statischen männlichen Rolle ausgehen, oder muss man von ‘Männlichkeiten’ sprechen?
Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die Grundzüge männlicher Soziali¬sation dargestellt.
Im vierten Kapitel wird der Bezug zur koedukativen Realität hergestellt. Koedukation ist durch die zweite Frauenbewegung, insbesondere durch die feministische Schulforschung, wieder zu einem umstrittenen Konzept geworden. Erst in den letzten Jahren widmete sich eine Reihe von Autoren explizit der Situation von Jungen (Schnack-Neutzling 1990, Ottemeier-Glücks 1994, Böhnisch/Winter 1993, Möller 1997, Zimmermann 1998), dabei beschäftigten sie sich hauptsächlich mit der bisher vernachlässigten Seite der Jungen¬sozialisation. Daher wird in diesem Kapitel die Situation von Jungen in der ko¬edukativen Praxis auf zwei Ebenen darge¬stellt. Auf der einen Seite werden Ergebnisse der feministischen Schulforschung dis-kutiert. Demgegenüber wird verdeutlicht, daß die Be¬dürfnisse und die Lebensrealitäten der Jungen in der Grundschule strukturell nicht aus¬reichend berücksichtigt werden (S. Richter) und daß das Verhalten von Jungen in der Schule einer Neubewertung bedarf.
Im fünften Kapitel werden die bisherigen Ergebnisse zu den Möglichkeiten und Formen einer engagierten Arbeit mit Jungen zusammengefasst. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, welche Veränderungen im Bereich der Schulstruktur die Basis für die ge-schlechterreflektierende Arbeit bilden. Grundlegend für die Konzeption von Jungen¬arbeit ist jedoch die Rückbeziehung auf die Mädchenarbeit, bzw. auf die koedukative Praxis.
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht
2.1 Das Sex / Gender Modell
2.2 Die moderne Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit
2.3 Das Dispositiv der Geschlechter
2.4 Resümee
3 Die Konstruktion von Männlichkeiten
3.1 Die Modernisierung von ‘Männlichkeit’
3.2 ‘Männlichkeit’ und die ‚Geschlechtsrolle‘
3.3 Schwulenbewegung und das Verständnis von ‘Männlichkeit’
3.4 ‘Der Mann’ existiert nicht
3.5 Das Modell der hegemonialen ‘Männlichkeit’
3.6 Resümee
4 Grundstruktur männlicher Sozialisation
4.1 Der Sozialisationsrahmen
4.2 Begriffsbestimmung Sozialisation
4.3 Das Fehlen der Männer oder die Feminisierung der frühkindlichen Sozialisation
4.4 Strukturmerkmale von ‘Männlichkeit’
4.4.1 Externalisierung
4.4.2 Keine Gefühle zulassen
4.4.3 Körperferne
4.5 Resümee
5 Darstellung der aktuellen Koedukationsdebatte
5.1 Sechs Jungen und der Rest Mädchen - Der ‘heimliche Lehrplan’
5.1.1 Interaktionsmuster im Bildungswesen
5.1.2 Geschlechtertypisierungen in Schulbücher
5.1.3 Geschlechterhierarchie im LehrerInnenzimmer
5.1.4 Gewaltverhalten in der Schule
5.2 Die andere Seite der Medaille
5.3 Zusammenfassung des bisher dargestellten oder warum Koedukation nicht stattfindet
6 Geschlechtsbezogenes Arbeiten im schulischen Kontext
6.1 Veränderungsoptionen
6.1.1 Veränderungen im Bereich der Schulstruktur
6.1.2 Die Rolle des Pädagogen
6.1.3 Die Lehrpläne - der Unterricht
6.2 Spezielle, pädagogische Angebote
6.2.1 Methodisch-Didaktische Überlegungen
6.2.2 Themenschwerpunkte für die Jungenarbeit
6.2.3 Homophobie
6.2.4 Selbstwahrnehmung – Wahrnehmung anderer
6.2.5 Körperarbeit
6.3 Schlußbemerkung
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
“Wir erhoffen uns eine realitätsnahe Soziologie der Männlichkeit, die sich mehr auf konkrete soziale Praxis stützt, als Phrasen und Einstellungen zu diskutieren. Und wir erhoffen uns eine realitätsnahe, weder übertrieben optimistische noch defätistische Politik der Männlichkeit. Ein solches Unterfangen betrachten wir als Teil eines radikalen Ansatzes einer allgemeinen Theorie der Geschlechterverhältnisse, der möglich wurde durch Konvergenzen zwischen Feminismus, Schwulenbewegung, zeitgenössischem Sozialismus, Psychoanalyse und der Geschichte und Soziologie der Praxis.”[1]
Der Diskussion über Jungenarbeit im schulischen Kontext ging eine breite wissenschaftliche aber auch gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Geschlechterungleichheiten in Bildungsinstitutionen voraus. Galt die Koedukation bei ihrer Einführung in den siebziger Jahren noch als das ‘Label’ für die Demokratisierung der Schule, geriet sie schon Anfang der achtziger Jahre durch die Aktivitäten und Analysen der feministischen Wissenschaft wieder in die Kritik. Die sogenannte Koedukationsdebatte kulminierte aber erst zu Beginn der neunziger Jahre mit der Einführung monoedukativer Elemente in den koedukativen Kontext. Die Stichworte ‘Reflexive Koedukation’ und geschlechtergetrennter Unterricht fanden Einzug in die bildungspolitischen Programme einzelner Länder.[2] Während Konzepte für die Mädchenarbeit im schulischen Kontext bereits in den achtziger Jahren entwickelt und umgesetzt wurden, befindet sich die Diskussion über Jungenarbeit im schulischen Kontext noch in den Anfängen.
Seit Beginn der neunziger Jahre finden sich auf dem deutschen Büchermarkt vermehrt Publikationen, die sich mit den bisher vernachlässigten Themen der Jungensozialisation -sexualität, -gewalt und -überforderung auseinandersetzen. Für die universitäre Sozialisationsforschung und Schulforschung sind die Erfahrungen und Bedürfnisse männlicher Kinder und Jugendlicher bisher kaum von Bedeutung und finden dementsprechend auch in der universitären Lehre nicht ihre Entsprechung. Bereits ein oberflächlicher Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten offenbart die mangelnde Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex. So merkt z.B. Peter Zimmermann kritisch an: „ Wenn es um das für Erziehungswissenschaftler besonders interessante, weil ungeklärte, Thema ‘Jungen in der Schule’ geht, stellt sich aber schnell heraus, daß das Wissen über Jungen relativ gering ist. Häufig werden dann schlichte Alltagstheorien herangezogen, denn Forschungen über Jungen gibt es so gut wie gar nicht. Am ehesten wird man bei der Suche nach erfahrungswissenschaftlichen Arbeiten zur Jungensozialisation noch in der feministischen Schulforschung fündig.“[3]
Genau an diesem Punkt muß eine kritische Männerschulforschung ansetzen, in dem Fragen aufgegriffen werden, die sich explizit mit Ängsten und Bedürfnissen von Jungen bzw. Männern auseinandersetzen, ohne dabei aber gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse zu vernachlässigen. Voraussetzung dafür ist es, sich von der Verallgemeinerung Mann = Mensch zu lösen und Männer bzw. ‘Männlichkeiten’ als historisch, kulturell und sozial konstruierte Phänomene zu betrachten.
Für die Pädagogik gilt es, Jungen und Männer darin zu unterstützen, sich nicht mehr an der Unterdrückung von Frauen bzw. Mädchen und den als weiblich klassifizierten Attributen bei sich selbst und anderen Jungen zu beteiligen.
Aufgrund der dargestellten Forschungslage erscheint es mir notwendig, für den Entwurf eines Konzeptes von Jungenarbeit, theoretische Zusammenhänge dezidiert darzustellen. Auf der Grundlage der dargestellten Theorien werde ich versuchen, die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Schulen zu analysieren und Möglichkeiten der Verbesserung in Beziehung auf die Chancengleichheit von Mädchen und Jungen in der Schule zu erörtern. Um zu verhindern, daß Jungenarbeit im Rahmen schulischer Erziehung, analog zu anderen progressiven pädagogischen Disziplinen, institutionalisiert wird und letztendlich zu einem reinen Organisationsprinzip verkommt, wird aufgezeigt, daß geschlechterreflektierende Arbeit mit Jungen im schulischen Kontext auf folgenden Prämissen aufbauen muß:
- Jungenarbeit richtet sich an Jungen. Die Adressaten werden dementsprechend als Geschlechtswesen wahr- und ernst genommen.
- Jungenarbeit hat die Aufgabe, konkrete Hilfestellungen und Alternativen, gerade auch in Problembereichen der Geschlechtsidentität, anzubieten.
- Jungenarbeit muß über die individuellen Problembezüge hinaus gesellschaftliche Machtbeziehungen in die Arbeit mit integrieren.
- Der geschlechterdifferente Blickwinkel muß als zentrale Wahrnehmungs- und Analysekategorie im koedukativen Kontext soziale Probleme erkennen und benennen.
1.2 Aufbau der Arbeit
Die Vorstellungen über ‘Geschlechtlichkeit’ bzw. über die Geschlechtszugehörigkeit werden durch ein Konglomerat von alltagstheoretischen Grundannahmen bestimmt. Seitdem jedoch das Geschlecht selbst Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist, sind diese alltagstheoretischen Definitionen von Geschlecht zur Disposition gestellt. Ausgehend von dieser Kritik, wird im ersten Kapitel der feministische, soziologische und philosophische Diskurs über die Kategorie Geschlecht verkürzt dargestellt. Einerseits wird der These nachgegangen, inwieweit die Existenz von nur zwei Geschlechtern biologische Tatsache ist, derzufolge die Ausbildung der Geschlechtsidentität in biologisch determinierten Bahnen stattfindet. Demgegenüber wird andererseits die These diskutiert, inwieweit die Kategorie Geschlecht ein sozial und interaktiv hergestelltes Konstrukt darstellt.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der konkreten Ausgestaltung der männlichen Geschlechtsidentität. Existiert eine einheitliche Definition von ‘Männlichkeit’ oder der männlichen Identität? Kann man von einer statischen männlichen Rolle ausgehen, oder muß man von ‘Männlichkeiten’ sprechen? Diese Fragen werden anhand des Konzepts der ‘hegemonialen Männlichkeit’ des Soziologen Robert W. Connell erörtert.
Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die Grundzüge männlicher Sozialisation dargestellt. Der differenzierte Blick auf die männliche Geschlechtsidentität und Sozialisationsgeschichte, also das Wissen um den Sozialisationsrahmen, in dem sich Männlichkeit konstituiert, bilden die Grundlagen für eine engagierte Jungenarbeit.
Im vierten Kapitel wird der Bezug zur koedukativen Realität hergestellt. Koedukation ist durch die zweite Frauenbewegung, insbesondere durch die feministische Schulforschung, wieder zu einem umstrittenen Konzept geworden. Feministische Schulforscherinnen widmeten sich weitgehend der Situation von Frauen und Mädchen in Bildungsinstitutionen. Da die Geschlechterforschung in der Schulforschung fast ausschließlich von Frauen betrieben wurde und auch noch wird, existieren empirische Studien und Forschungen, die die Erfahrungen und Lernbedürfnisse männlicher Kinder und Jugendlicher betreffen, nur marginal. Erst in den letzten Jahren widmete sich eine Reihe von Autoren explizit der Situation von Jungen (Schnack-Neutzling 1990, Ottemeier-Glücks 1994, Böhnisch/Winter 1993, Möller 1997, Zimmermann 1998), dabei beschäftigten sie sich hauptsächlich mit der bisher vernachlässigten Seite der Jungensozialisation. In erster Linie beziehen sich diese Autoren in ihren Schlußfolgerungen zur Jungenarbeit auf die offene Jugendarbeit. Die Erforschung der Situation von Jungen in der Schule steckt wissenschaftlich noch in den Kinderschuhen. “Es wurde bisher einiges an Bestandsaufnahmen, Befunden, Beobachtungen und möglichen Theorien zusammengetragen, eine erfahrungswissenschaftliche Basis hat all das aber nicht.”[4] Daher wird in diesem Kapitel die Situation von Jungen in der koedukativen Praxis auf zwei Ebenen dargestellt. Auf der einen Seite werden Ergebnisse der feministischen Schulforschung diskutiert. Demgegenüber wird verdeutlicht, daß die Bedürfnisse und die Lebensrealitäten der Jungen in der Grundschule strukturell nicht ausreichend berücksichtigt werden (S. Richter) und daß das Verhalten von Jungen in der Schule einer Neubewertung bedarf.
Im fünften Kapitel werden die bisherigen Ergebnisse zu den Möglichkeiten und Formen einer engagierten Arbeit mit Jungen zusammengefaßt. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, welche Veränderungen im Bereich der Schulstruktur die Basis für die geschlechterreflektierende Arbeit bilden. Grundlegend für die Konzeption von Jungenarbeit ist jedoch die Rückbeziehung auf die Mädchenarbeit, bzw. auf die koedukative Praxis. Der Begriff der Koedukation wird mit den Möglichkeiten einer eigenständigen Geschlechterpädagogik in Form von Praxisansätzen kombiniert bzw. erweitert.
2 Die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht
Da sich aus den verschiedenen Konstruktionsprozessen von Geschlechtlichkeit unterschiedliche Konsequenzen für die bildungstheoretische bzw. schulpädagogische Diskussion ergeben, setzt sich das erste Kapitel mit der interaktiven und sozialen Konstruktion von Geschlecht auseinander. Zu Beginn dieses Kapitels wird das sex/gender-System, das lange Zeit die Grundlage vieler wissenschaftlicher Auseinandersetzungen bildete und heute z.T. immer noch bildet, erläutert und kritisch hinterfragt. Darauf aufbauend wird die diskursive Herstellung der Kategorie Geschlecht aus diskurstheoretischer Sicht evaluiert.
2.1 Das sex / gender Modell
In den westlichen Kulturen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Faktum betrachtet. Galten früher mystische bzw. religiöse Erklärungen für die Geschlechtlichkeit, geht man heute von der Naturhaftigkeit der Geschlechtsidentität aus. Diese als natürlich diagnostizierte Zweigeschlechtlichkeit durchdringt alle Ebenen der menschlichen Identität, sie normiert den alltäglichen wie auch den wissenschaftlich-theoretischen Blick auf die Geschlechter.
Grundlegend an dieser ‘Alltagstheorie’ ist nach Carol Hagemann-White, daß die Geschlechtszugehörigkeit ” als eindeutig, naturhaft und unveränderbar verstanden”[5] wird. ” Ohne jede bewußte Überlegung wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch entweder weiblich oder männlich sein müsse, was im Umgang erkennbar zu sein hat (Eindeutigkeit); dass die Geschlechtszugehörigkeit körperlich begründet sein müsse (Naturhaftigkeit); und dass sie angeboren ist und sich nicht ändern könne (Unveränderbarkeit).”[6]
Aus der Kritik an den ” androzentristischen Verkürzungen der ‘main /- male-stream’ Wissenschaft”[7] heraus formulierte Gayle Rubin Mitte der 70ger Jahre das sex/gender-Modell. Die elementare Grundlage dieses Modells manifestiert sich in der unterschiedlichen Definition von ‘sex’ und ‘gender’. Sie definiert ‘sex’ als rein biologisch determinierten Status (analog der Anatomie, Morphologie, Physiologie und der Hormone) und ‘gender’ als sozial und kulturell erworbenen Status (analog zur Sozialisation, eingebettet in gesamtgesellschaftliche, geschlechtliche Arbeitsteilung).
Die von Gayle Rubin vorgeschlagene Trennung zwischen dem biologischen (‘sex’) und dem sozialen Geschlecht (‘gender’) und das damit einhergehende Differenzpostulat
entwickelte sich in der Frauenforschung zum allgemein akzeptierten Analysekriterium.
Gildemeister und Wetterer betonen die historische Notwendigkeit dieses Modells, in dem Sinne, daß die ” Unterscheidung zwischen ‘sex’ und ‘gender’ ein ebenso praktisches wie plausibles begriffliches Instrumentarium” darstellte, in dem sie den ” im Alltagsbewußtsein immer noch fest verankerten ‘Natur der Frau’- Argumentationen ein entschiedenes und begründetes Nein entgegensetzen”[8] konnte.
Seitdem explizit im amerikanisch-englischen Forschungsbereich, aber zunehmend auch in der deutschsprachigen Forschung, das biologische Geschlecht (‘sex’) selbst Gegenstand der Auseinandersetzungen geworden ist, offenbart das sex/gender-Modell einige Aporien. Eine erste Aporie erklärt sich aus der Beibehaltung der ‘natürlichen’ binären Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Körper. ” Gleichzeitig wurde mit dem Insistieren auf dieser Trennung jedoch nicht nur die Annahme, unsere geschlechtlichen Körper seien etwas Natürliches, ursprünglich Gegebenes, quasi feministisch ‘festgeklopft’, sondern auch die Behauptung, es handle sich dabei um zwei biologisch eindeutig verifizierbare unterschiedliche geschlechtliche Körper.”[9] Der Rekurs der Sozialwissenschaften und der Alltagstheorie auf biologische Grundlagen der Geschlechtsunterschiede erweist sich bei differenzierter Betrachtung als illegitime Bezugnahme. Gildemeister und Wetterer resümieren: ” Biologie und Physiologie erweisen sich dabei überraschenderweise eher als schlechte Ratgeber. Sie treffen eine weitaus weniger trennscharfe und weniger weitreichende Klassifizierung als manche Sozialwissenschaft (und das Alltagsbewußtsein) und entwerfen ein sehr viel differenzierteres Bild des scheinbar so wohlumrissenen binären biologischen Geschlechts.”[10] In Bezugnahme auf Lorber / Farell (1991) und Hagemann-White (1984) verweisen sie auf fünf verschiedene Möglichkeiten der somatischen Geschlechterbestimmungen: das Chromosomengeschlecht, das Keimdrüsengeschlecht, das morphologische Geschlecht, das Hormongeschlecht und letztendlich die Bestimmung des Geschlechts durch geschlechtstypische Besonderheiten im Gehirn. In den Alltagstheorien und in den Sozialwissenschaften dominiert die Bezugnahme auf das morphologische Geschlecht. Die binäre Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Geschlecht unter Bezugnahme auf rein biologische Faktoren erweist sich demnach als diffizil, da, bezogen auf eine Person, die einzelnen Faktoren keineswegs aneinander gekoppelt sein müssen, so daß in letzter Konsequenz vielmehr von einem geschlechtlichen Kontinuum ausgegangen werden kann. Bestimmungen der Geschlechtsidentität mit dem Hinweis auf die Naturgebundenheit werden demnach von biologischen Definitionen nicht unterstützt: ” Es gibt keine zufriedenstellende humanbiologische Definition der Geschlechtszugehörigkeit, die die Postulate der Alltagstheorien einlösen würde.”[11]
Eine zweite gewichtige Aporie der sex/gender Trennung offenbart sich in den philosophisch-diskurstheoretischen Analysen von Judith Butler[12]. Ausgehend von der Annahme, daß das kulturelle Geschlecht (‘gender’) nicht mehr zwangsläufig dem sog. biologischen Geschlecht (‘sex’) folgt, treibt sie die Trennung von anatomischem Geschlecht bzw. der Geschlechtsidentität bis an ihre logische Grenze[13]. Aus folgenden Überlegungen Butlers ergeben sich ausschlaggebende Konsequenzen für das sex/gender-Modell: ” Setzen wir für einen Augenblick die Stabilität der sexuellen Binarität (binary sex) voraus, so folgt daraus weder, daß das Konstrukt ‘Männer’ ausschließlich dem männlichen Körper zukommt, noch daß die Kategorie ‘Frauen’ nur weibliche Körper meint. Ferner: Selbst wenn die anatomischen Geschlechter (sexes) in ihrer Morphologie und biologischen Konstitution unproblematisch als binär erscheinen (was noch die Frage sein wird), gibt es keinen Grund für die Annahme, daß es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten bleiben muß.”[14] Sie weist auf die stillschweigende Parallelisierung von biologischem und sozialem Geschlecht hin, mit der Konsequenz eines entgegen der ursprünglichen Intention des Modells verlagerten Biologismus. Hieraus resultiert die Aufrechterhaltung der traditionellen binären Geschlechtsstruktur, da von der Annahme ausgegangen wird, ” daß zwischen Natur und Kultur also zumindest in Hinblick auf die zweigeschlechtliche Strukturierung ein mimetisches Verhältnis besteht.”[15]
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Irene Sgier. Sie stellt ebenso fest, daß es nicht ausreiche, Geschlecht als soziale Konstruktion zu betrachten, ” ohne das zugrunde liegende Prinzip der Zweiteilung selbst zu thematisieren.”[16] Wie bereits dargestellt beruht die binäre Struktur der Geschlechter auf einer Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit, die sich aus der biologischen Beschaffenheit nicht direkt ableiten läßt. Im Falle, daß sich Theorien das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit zur Grundlage machen, erklären sie ” somit eine vortheoretische Annahme zum theoretischen Ausgangspunkt, was zur Reifizierung zentraler Bereiche der Geschlechterverhältnisse führen kann.”[17]
Anthropologische und ethnologische Studien unterstützen die Kritik an der Universalisierung des Prinzips der Zweigeschlechtlichkeit. Insbesondere in den Arbeiten von Margaret Mead (1961), Ortner / Whithead (1981) und Bennhold -Thomsen (1989) wird deutlich, daß zum einen die Anzahl der Geschlechter und zum anderen die Attribute der Geschlechter je nach kulturellem Kontext differieren und variieren können. So existieren z.B. Gesellschaften mit einem Drei-Geschlechter-Modell, in denen homosexuelle Männer eine ‘eigene’ geschlechtliche Kategorie bilden. Ebenso wurden Kulturen gefunden, in denen ein Geschlechtswechsel[18] möglich ist (auch temporär) ohne dies mit einem Irrtum bei der anfänglichen Zuordnung begründen zu müssen.[19] ” Selbst wenn die meisten bekannten Gesellschaften kulturell zweigeschlechtlich verfaßt sind, gilt also zumindest die Koppelung von ‘sex’ und ‘gender’ als keineswegs so sicher und selbstverständlich, daß sie einfach als ‘naturwüchsig’ gegeben, vorausgesetzt werden kann, wie dies unsere ‘aufgeklärte’ Parallelisierung unterstellt.”[20]
2.2 Die moderne Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit
Ein wesentlicher historischer Aspekt in der Geschlechterkonstruktion war die veränderte Sichtweise auf die geschlechtlichen Körper. Herrschte bis zum 18. Jahrhundert das ‘Ein-Geschlecht-Modell’ vor[21], in dem der männliche und weibliche Körper mit seinen Geschlechtsmerkmalen als prinzipiell gleichförmig betrachtet wurde, identifizieren die modernen HumanwissenschaftlerInnen die Geschlechter als qualitativ verschieden.[22] Im früheren Verständnis war der weibliche Körper eine weniger entwickelte Variante des Mannes, bei der die männlichen Genitalien lediglich nach innen gestülpt waren. Im Zuge der Aufklärung wurden Frauen- und Männerkörper als zwei grundsätzlich verschiedene und gegenteilige Geschlechtskörper definiert.
Die Unterscheidung zwischen Mann und Frau existierte auch vor der modernen Sicht auf die Geschlechter. Während jedoch in früheren Jahren z.B. das göttliche Gesetz als verantwortlich für diese Differenzierung galt, fungierten nun die verschieden gestalteten Körper als Begründung und wurden auch als solche wahrgenommen. Bemerkenswert an der Ablösung des ‘Ein-Geschlecht-Modells’ und der Etablierung einer Geschlechterdifferenz ist die zeitliche Übereinstimmung mit dem aufkommenden bürgerlichen Postulat der Gleichheit aller Menschen. Ein Insistieren auf einer fundamentalen Differenz der Geschlechter ermöglichte es weiterhin, Frauen aus Menschen- und BürgerInnenrechtsforderungen auszuschließen. Basierend auf ein neuentstandenes Verständnis des Körpers als Wissensquelle über physiologische, geistige und soziale Aspekte des Menschen, wurden Frauen Besonderheiten zugesprochen bzw. abgesprochen, die ein Recht auf den Bürgerinnenstatus legitimiert hätten. Durch die Typisierung des Körpers, später auch der Seele, wurde den Frauen eine weibliche Identität, die als natürlich und universell konstruiert wurde, zwingend zugeschrieben.
2.3 Das Dispositiv der Geschlechter
Innerhalb der Logik der ‘kulturellen Zweigeschlechtlichkeit’ wird jeder Mensch zu Beginn seines Lebens anhand von körperlichen Merkmalen als männlich oder weiblich klassifiziert. Dieses Klassifikationssystem fungiert ” als System sozialer Unterscheidung und basiert auf der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern”(...)” und der Körper dient hierbei als Gedächtnisstütze”[23]. Das Geschlecht, insbesondere die ‘Selbsttypisierung’ stellt in diesem Zusammenhang eine zentrale Kategorie dar, die für die Identität einer Person entscheidenden Anteil an der Persönlichkeitsentwicklung einnimmt. Nach Hagemann-White strukturiert die symbolische Ordnung[24] der Kategorie Geschlecht die gesellschaftliche Wirklichkeit. Demnach ” müssen Kinder sich selbst in diesem System orten, um überhaupt eine soziale Identität zu entwickeln.”[25]
In direkter Anlehnung an Foucault formuliert Irene Sgier ihre Kritik an dem von Carol Hagemann-White geprägten Begriff des ‘Systems der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit’. Der Begriff System suggeriere, so Sgier, zum einen eine Geschlossenheit bzw. eine abgeschlossene Definierbarkeit und zum anderen würden gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse vernachlässigt.[26] Sie schlägt statt dessen vor, von einem Dispositiv der Zweigeschlechtlichkeit zu sprechen.
” Ein Dispositiv der Zweigeschlechtlichkeit ist demnach ein historisch entstandenes Ensemble aus heterogenen Elementen wie wissenschaftlichen, religiösen, juristischen, alltagstheoretischen Diskursen über Geschlecht, räumlichen Arrangements zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Praktiken der Kindererziehung, Regeln des alltäglichen Zusammenlebens zwischen Personen unterschiedlicher Altersgruppen, Regelungen der Arbeitsteilung usw. Es geht nicht darum, das, was sich heute als Geschlecht präsentiert, auf einen dieser Faktoren zurückzuführen, sondern darum, das Netz aufzuspüren, das aus den unterschiedlichen Verbindungen dieser Elemente das in seiner Gesamtheit relativ dauerhafte Dispositiv der Geschlechter produziert.”[27]
Um dieses ‘Netz’ aufspüren zu können, schlägt sie vor, das Dispositiv der Zweigeschlechtlichkeit unter verschiedenen Aspekten zu betrachten: das generative Prinzip, den Wissenshorizont und die gesellschaftlichen Praktiken.
Das generative Prinzip repräsentiert innerhalb des Dispositivs eine Maxime, die die Individuen zur ‘Vergeschlechtlichung’ zwingt. Demnach müssen alle Personen im alltäglichen Interaktionsprozeß nach dieser dichotomen Klassifikation (Zuschreibungspraxis) eingeordnet und bewertet werden. Ähnlich verhält es sich mit der ‘Selbstklassifkation’, die individuelle Selbstinszenierung ist immer an die Kategorie Geschlecht gekoppelt. Tyrell spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend vom ” zweigeschlechtlichen Erkennungsdienst”.[28]
Am Beispiel der Transsexualität[29] läßt sich dieses ” generative Muster der Herstellung sozialer Ordnung”[30] noch einmal verdeutlichen. Die Erfahrungen von Transsexuellen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da sie sich in Beziehung auf ihre Außenwirkung sehr viel bewußter verhalten müssen, um im Interaktionsprozeß als das Geschlecht eingestuft zu werden, für welches sie sich entschieden haben. Trotz des Bewußtseins über die eigene Geschlechtszugehörigkeit, können sie nicht davon ausgehen, daß es für andere ebenso eindeutig ist. Transsexuelle müssen sich daher in der Logik der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit sehr viel bewußter und stereotyper verhalten als ‘normale’ Menschen, obwohl sie eigentlich das gleiche machen, ” was Nicht-Transsexuelle tun, nur explizit und reflexiv”.[31]
Der Wissenshorizont des Dispositivs der Zweigeschlechtlichkeit basiert auf den Erfahrungen der Individuen aus dem generativen Prinzip. Dieser Wissenshorizont manifestiert sich zum einen in den alltäglichen ” Aussagen über Eigenschaften der Geschlechter, zum anderen aber auch (in) Diskursen, die in den gesellschaftlichen Institutionen produziert werden.”[32] Zu diesen Institutionen zählen sowohl Wissenschaft als auch Schule, Kirche, Parlament, Militär, Gerichte etc., die jeweils die ihnen innewohnenden Logik ‘Wissen’ über die Zweigeschlechtlichkeit bestätigen und immer wieder neu produzieren.
Unter dem Prinzip gesellschaftliche Praktiken versteht Sgier die ” Inszenierungsweisen von Geschlecht”[33], das ‘doing gender’. Dabei fungieren die Geschlechtsidentitäten als ein sich ausschließendes Kategorienpaar. In der alltäglichen Wahrnehmung spielt die ‘gender’-Zugehörigkeit der InteraktionspartnerInnen und ihre eindeutige Zuordnung eine entscheidende Rolle. Die leibliche Erscheinung insbesondere die Gestalt, die Bewegung, die Gestik und Mimik, die Frisur, die Kleidung und der Schmuck usw. sind Charakteristika, die sich im Laufe der Sozialisation als Bedeutungsmatrix festigen. ” Das erstaunliche ist der Perfektionismus, mit dem alle fünf Sinne (auch der Geruchssinn) für die differenzielle Wahrnehmung (gerade) von ‘männlich’ versus ‘weiblich’ geschärft sind”[34]. Nicht nur bei der Wahrnehmung anderer, sondern gerade die Selbstinszenierung der eigenen Geschlechtlichkeit, verdeutlicht die Kraftanstrengung, um nach dem zweigeschlechtlichen Code klassifizierbar zu sein. Darüber hinaus ist die Institutionalisierung der heterosexuellen Ehe und ebenso Repressalien für ‘geschlechtsuntypische’ Verhaltensweisen, z.B. für Aussehen oder Berufswahl, in die Kategorie der gesellschaftlichen Praktiken zu fassen.
Die dargestellten Prinzipien des Dispositivs realisieren sich in unzähligen alltäglichen Praktiken, die dadurch immer wieder neu produziert bzw. reproduziert werden. Das heißt aber nicht, daß die jeweiligen Prinzipien individuell und gesellschaftlich transparent sind, sondern sie entfalten ihre eigentliche Dynamik erst aus der Internalisierung bzw. Habitualisierung. Bourdieu vergleicht die Habitualisierung des dichotomen Geschlechterverhältnisses mit einem ” Boxer, der einem Schlag ausweicht”[35] oder einem Pianisten, der improvisiert. Aus diesem Beispiel wird deutlich, daß die zugrunde liegenden Prinzipien, insbesondere der Wissenshorizont und das generative Prinzip, in ihrer Alltäglichkeit selten problematisiert werden. Daraus ist zu folgern, daß dieses Wissen zum einen keinen einheitlichen monolithischen Block darstellt, sondern sich aus mehreren heterogenen Wissensrevieren im Rahmen der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit konstituiert. Zum anderen ist es ein Beleg für die Institutionalisierung von Wissen.
Grundlegend stellt sich allerdings die Frage, warum sich die Basiskonstellation der Zweigeschlechtlichkeit als so beständig erweist, ” trotz ihres inzwischen vielfach aufgedeckten ideologischen Charakters.”[36] Gildemeister / Wetterer gehen dieser Frage mit einem Verweis auf die Arbeiten von Mary Douglas nach, die sich mit der Entstehung von gesellschaftlichen Wissenssystemen beschäftigt.[37] Nach Douglas geschieht die Institutionalisierung von Konventionen und Auffassungen auf zwei Ebenen:
Die erste Ebene bezieht sich auf eine Kreisargumentation, in der sich die einzelnen Institutionen mit einem Verweis auf sich selber erklären, ” derzufolge etwa Reziprozitätsmuster wie Verwandtschaft und Heirat Institutionen sind, die aus der Interaktion entstehen, die gleichzeitig aber eben diese Argumentation erklären sollen.”[38] Die zweite Ebene zielt auf die Naturalisierung der Konventionen. ” Das entscheidende stabilisierende Prinzip liegt damit in der Naturalisierung sozialer Klassifikation (...). Natur ist aber immer kulturell definiert (...). Durch die Naturalisierung sozialer Klassifikationen werden zerbrechliche Konventionen Bestandteil der natürlichen Weltordnung und stehen dann als solche als Argumentationsgrundlage zur Verfügung - sofern sich nicht durch die ‘Naturalisierung’ der sozialen Klassifikation jede Argumentation erübrigt zu haben scheint (...).”[39]
Bourdieu formuliert in diesem Zusammenhang sehr treffend: ” Die fortschreitende Somatisierung der fundamentalen, für die soziale Ordnung konstituiven Beziehungen führt schließlich zur Institution von zwei unterschiedlichen ‘Naturen’, d.h. von zwei Systemen naturalisierter sozialer Unterschiede.”[40]
Darüber hinaus sollte deutlich geworden sein, daß Geschlecht nicht etwas ist, was Frauen und Männer ‘haben’, sondern was interaktiv immer wieder aufs neue hergestellt bzw. ” in Interaktionsprozessen intersubjektiv bestätigt”[41] werden muß.
Für den Alltag bedeutet dies, daß Menschen nicht dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen werden, wenn sie die dazugehörigen Eigenschaften und Verhaltensweisen unter Beweis gestellt haben, sondern ihnen werden aufgrund des biologischen Status Eigenschaften und Verhaltensweisen abverlangt[42]. Das Verhalten von Menschen wird nach Maßgabe ihrer Geschlechtszugehörigkeit bewertet. Obwohl im Einzelfall vielfältige Abweichungen existieren, sind die geschlechtlichen Eigenschaftszuweisungen dennoch individuell wirksam.
Die Einteilung der sozialen Welt aufgrund unterstellter biologischer Unterschiede in zwei sich gegenseitig ausschließenden Geschlechtskategorien fungiert als System einer sozialen Ordnung. ” Ordnung einführen heißt Unterscheidung einführen und nur was unterschieden ist, kann in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt werden.”[43] Auf der Grundlage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erscheint dieses System als eine Art Sicherungsmechanismus für die Festschreibung männlicher Vorherrschaft.
2.4 Resümee
Aus dem bisher dargestellten ergeben sich folgende Konsequenzen für die Arbeit in der Schule: Wenn die Zweigeschlechtlichkeit zu den fundamentalsten Ordnungsprinzipien unserer Gesellschaft zählt, darf sie in der pädagogische Praxis nicht unterschätzt werden. Sie muß als Ursache von Handlungsmustern gesehen und akzeptiert werden. Aufgrund der dargestellten gesellschaftlichen Strukturvorgaben sind die Kinder quasi darauf angewiesen sich selbst, um andere und von anderen in eine der beiden ‘gender’-Kategorien eingeordnet zu werden. Dieser Wunsch nach eindeutiger Selbstverortung als ‘Mann’ oder ‘Frau’, noch dringlicher während der Adoleszenz, unterstützt die Aneignung geschlechtstypischen Verhaltens.
Von daher stellt sich für die Pädagogik, insbesondere für die ‘geschlechtsbezogene Pädagogik’, die Aufgabe, gerade diese Zweigeschlechtlichkeit selbst zum Thema zu machen. Dabei darf es perspektivisch nicht um eine Vereinheitlichung der Geschlechter gehen oder wie Sgier formuliert: ” Ziel dieses Vorgehens ist auch hier weder die Beseitigung der Geschlechtlichkeit noch irgendeine Form von Unisexismus oder androgyner Synthese, sondern die Überwindung der Binarität durch Pluralisierung.”[44]
Der Widerspruch, daß im wissenschaftlichen Diskurs die universelle Kategorie Geschlecht perspektivisch aufgelöst werden kann, während sich Jungenarbeit an eine Gruppe von Kindern richtet, die aufgrund ihres Geschlechts (‘sex’) kategorisiert werden, muß in der Auseinandersetzung stets präsent bleiben.
3 Die Konstruktion von Männlichkeiten
Die Emanzipationsbewegungen von Frauen/Lesben und Schwulen initiierten in den letzten zwanzig Jahren einen Umschwung in der Geschlechterpolitik. Die zementierte und unhinterfragte Grundlage der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit, insbesondere die Reduzierung der Individuen auf ein normiertes Konzept von ‘Männlichkeit’ und ‘Weiblichkeit’ innerhalb der gesellschaftlichen Zwangsheterosexualität, wurde in Frage gestellt. Veränderungen, die insbesondere von der ersten bzw. zweiten Frauenbewegung und der daraus entstandenen feministischen Wissenschaft erreicht wurden, zogen auch einen Wandel im Verständnis von ‘Männlichkeit’ nach sich. Dabei leisteten gerade Homosexuelle eine kritische Darstellung der vielfältigen Normierungsprozesse, die das heterosexuelle Begehren ” zum selbstverständlichen Fundament patriachaler Liebes- und Lebensverhältnisse machen (und) entlarvten sie als kulturelle Konstruktion, was sich stets als natürlicher Maßstab des Menschlichen gesetzt hatte: das weiße, bürgerliche, männlich-heterosexuelle Subjekt”[45]. Es ist jedoch, parallel zur Frauenforschung, kein einheitliches Forschungsfeld ‘Männlichkeitskritik’ entstanden, da diese Forschungen innerhalb verschiedener sozialer und politischer Milieus betrieben wurden. Die Bandbreite reicht von heterosexuellen und lesbischen Feministinnen, über Schwule, bis hin zu heterosexuellen Forschern, die sich z.T. auch auf die Traditionen schwul-lesbischer Theorien beziehen. Resultierend aus dieser Vielzahl von Positionen entstanden eine Reihe von divergenten Ansätzen zur interdisziplinären ‘Männlichkeitskritk’ mit verschiedenen Schwerpunkten: u.a. ‘Women`s’ bzw. ‘gender’ und ‘Queer’-Studies, psychoanalytische Geschlechterforschung oder postmarxistische Gesellschaftsanalysen.
Auf der Männerseite lassen sich diese Denkansätze grob in drei wesentliche Richtungen unterteilen:
- Die Maskulisten-Bewegung versucht, unter Bezugnahme auf die von C.G. Jung entwickelten Archetypen (Animus / Anima), durch Rituale ‘Männlichkeit’ zu zelebrieren. Dies geschieht unter dem Motto: Suche und entdecke den wilden Mann in dir!
- Die sogenannte Betroffenheitsliteratur[46], die überwiegend männliche Lebenswelten und die individuellen Leidensbedingungen von Männern thematisiert. Diese Arbeiten stellen das Leiden an der eigenen männlichen Rolle, sowie die daraus erwachsenden Gefühle, Schmerzen und Verunsicherungen in den Mittelpunkt ihrer Forschung.
- Ansonsten existieren (in weit geringerer Anzahl) Ansätze, die versuchen, über die individuelle Betroffenheit hinaus zu gehen, und die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt ihrer Forschung zu stellen. Das Konzept der ‘hegemonialen Männlichkeit’ sowie ein Bewußtsein über die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit (Vgl. Kap.1) stellen die Ausgangsbasis für diese Analysen dar.
3.1 Die Modernisierung von ‘Männlichkeit’
Aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen wurden verschiedene Schlußfolgerungen gezogen. Einer der Hauptvertreter der sogenannten Maskulisten-Bewegung ist Robert Bly, Initiator der ‘Wildmen’ Bewegung[47]. Die Wiederherstellung von männlicher Identität ist ein zentrales Konzept der ‘Wildmen’. In mehrfacher Hinsicht werden dabei Männer als Opfer gesehen. Für die Vertreter dieses Konzepts existieren keine Vorbilder reifer Vaterschaft mehr. Die eigene Biographie wird zentral unter dem Aspekt des schwachen Vaters ohne Profil, Durchsetzungsvermögen und Initiative gedeutet. Sie definieren Männer als Opfer des zu stark und zu radikal gewordenem Feminismus, was für sie zur Folge habe, daß Männer ‚verweiblichen‘ oder zu energielosen ‚Softies‘ mutieren. Den Prototyp des neuen Mannes sehen sie ” als jemanden, der unabhängig von Frauen, ihren Forderungen, aber auch ihren Zuwendungen lebt, zurück zu seinen Wurzeln findet und in diesem Sinne vor allem zu seinen Urgefühlen von Aggression und Lust steht und diese auslebt.”[48]
[...]
[1] Carrigan et. al. 1996, S. 40
[2] So wurde z.B. 1989 in einer Revision des Berliner Schulgesetzes in § 1 die ‘Gleichberechtigung der
Geschlechter’ als Unterrichts- und Erziehungsziel explizit aufgenommen.
[3] Zimmermann, Peter 1998, S. 7
[4] Zimmermann, Peter 1998, S. 8
[5] Hagemann-White a, S. 228
[6] ebenda, S. 228
[7] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 201
[8] ebenda, S. 205
[9] Maihofer, Andrea 1994, S. 237
[10] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 209
[11] Hagemann-White a, S. 228
[12] Butler, Judith 1991
[13] ebenda, S. 23
[14] ebenda, S. 23
[15] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 208; mimetisch = nachahmend
[16] Sgier, Irene 1994, S. 26
[17] ebenda, S. 26
[18] Hagemann-White weist in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Genitalien hin: ” Was den
Geschlechtswechsel oder die ‘zusätzlichen Geschlechter’ betrifft, scheinen die Genitalien nie ganz
irrelevant zu werden; diese Gesellschaften unterscheiden im Alltag jedoch nach anderen Kriterien und
erlauben so in der Praxis den vollständigen Geschlechtswechsel oder den Wechsel in einen Sonderstatus,
ohne daß die Genitalien ein Hindernis wären.” (Hagemann-White a, S. 79)
[19] Vgl. Gildemeister / Wetterer 1992, S. 208
[20] ebenda, S. 209
[21] Vgl. Laqueur 1992, S. 171
[22] Vgl. Maihofer, Andrea 1994, S. 239
[23] Engler, Steffanie 1997, S. 311
[24] Die symbolische Ordnung repräsentiert ein System innerhalb einer Kultur, welches die Sprache und die
symbolische Bedeutung von Handlungen und Gegenständen prägt. Die Aneignung dieses symbolischen
Systems stellt nach Hagemann-White die entscheidende Sozialisationsinstanz dar, die für die
Entwicklung der Geschlechtsidentität verantwortlich ist.
[25] Hagemann-White, Carol a, S. 52
[26] Vgl. Sgier, Irene 1994, S. 49
[27] ebenda, S. 51
[28] Tyrell, Hartmann 1986, S. 463; zitiert nach Sgier S. 51
[29] Im folgendem beziehe ich mich auf die Fallstudie ‘Agnes’ von Harold Garfinkel (1967), die sich explizit
mit den gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen an Transsexuelle beschäftigt, um so etwas über die
Konstruktionsweise von Normalität zu erfahren zitiert nach Gildemeister, Wetterer, 1995, S. 230 1995
[30] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 230
[31] ebenda, S. 231
[32] Sgier, Irene 1994, S. 52
[33] ebenda, S. 52
[34] Tyrell, Hatrmann 1986, S. 463
[35] Bourdieu, Pierre 1997; in Dölling / Krais, S. 166
[36] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 237
[37] Mary Douglas: How Institutions Think, London 1987, zitiert nach Gildemeister/Wetterer S. 240
[38] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 238
[39] ebenda, S. 241
[40] Bourdieu, Pierre 1997; in Dölling/Krais
[41] Gildemeister / Wetterer 1992, S. 212
[42] Vgl. Hagemann-White, Carol b, S. 81
[43] Engeler, Stefanie 1997, S. 310
[44] Sgier, Irene 1994, S. 123
[45] Tillner, Georg und Kaltenecker, Siegfried 1995, S. 11
[46] Die Thematisierung männlichen Leidensdrucks stellt einerseits einen wichtigen Schritt dar, um die
männliche Geschlechtsidentität zu konterkarieren, andererseits besteht die Gefahr einer Überbetonung
und Ausblendung gesellschaftlicher Zusammenhänge.
[47] Bekannt geworden ist Robert Bly mit seinem Buch Eisenhans. R. Bly: Eisenhans, München 1990
[48] Glücks, Elisabeth 1996, S. 38
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