„Der Wurm muß dem Fisch schmecken und nicht dem Angler!”
Diese Aussage des ehemaligen RTL-Geschäftsführers Dr. Helmut Thoma fasst dessen Verständnis von Privatfernsehen zusammen und kann symptomatisch für die ganze Riege der privaten Fernsehsender in Deutschland gelten. Denn die privaten Fernsehsender sind abhängig von Werbeeinnahmen und die können wiederum nur durch den Verkauf von möglichst quotenstarker Werbezeit erzielt werden. Es wird also vor allem das gesendet, wovon vermutet wird, dass es bestimmte Zielgruppen mit bestimmbaren Konsumgewohnheiten zu bestimmten Zeiten sehen wollen.
Offiziell geben die Sender selbst jedoch andere Motive für die Ausstrahlung bestimmter Formate an. Laut RTL.de ist das Ziel der Sendung „Die Super Nanny“, um die es in dieser Arbeit geht, eine fundierte Analyse von Erziehungssituationen, eine Besprechung der konkreten Erziehungssituation und eine individuelle pädagogische Beratung für die Eltern zu leisten. Denn RTL will nach eigener Aussage „mit diesem Format einerseits den betroffenen Familien eine Hilfestellung bieten, andererseits aber auch dem Zuschauer anhand von unterschiedlichen Fällen Lösungsansätze für Probleme in der eigenen Familie aufzeigen.“
Von diesem Selbstanspruch der Sendung ist der Titel dieser Arbeit abgeleitet. „Reality-TV als Lebenshilfe?“ ist die Frage, der hier nachgegangen werden soll. Wenn hier stellvertretend für das „Reality-TV“ die „Super Nanny“ auf eine mögliche Funktion als „Lebenshilfe“ untersucht wird, dann wird danach gefragt, ob eine mediale Vermittlung von Lösungsansätzen für bestimmte alltägliche Problemsituationen geleistet wird. Vor diesem Hintergrund interessiert es nicht so sehr, wie genau die „Super Nanny“ bei der Therapie der Familien vorgeht und wie oder ob sie deren Lebenssituation langfristig verbessert. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, ob der Rezipient von dem Format eine „Lebenshilfe“ erhalten kann. Also ob eine Beratung über das Medium Fernsehen stattfindet und wie diese konkret aussieht.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Allgemeine Vorüberlegungen
1. Aufbau und Vorgehensweise
2. Die Geschichte der Darbietung des privaten Lebens im Fernsehen
2.1 Die Lebensweltliche Orientierung des Fernsehens
III. Theoretische Vorüberlegungen
1. „Reality-TV“
1.1 Exkurs – zum Begriff Realität
1.2 „Reality TV“ - Begriffsklärung
1.3 Die Entwicklung des „Reality-TV“
1.4 Hybridisierung
2. Die Dokusoap
IV. Eine Einführung in die „Super Nanny“
1. Rahmenbedingungen
2. Typischer Ablauf der Sendung
V. Analyse der theatralen Eigenschaften
1. Zum Begriff der Theatralität
2. Die Inszenierung
2.1 Die Dramaturgie
2.2 Die Montage
2.3 Die Emotionalisierung
2.4 Die Stereotypisierung
2.4.1 Katharina Saalfrank – die strenge Erzieherin
2.4.2 Soziale Milieus
2.4.3 ... Geschlechterrollen
3. Performance
4. Korporalität
5. Zwischenfazit
VI. Das Erziehungsprogramm und dessen mediale Umsetzung
1. Das Erziehungskonzept der „Super Nanny“
1.1 Triple P – Positiv Parenting Program
1.2 Die Ziele von „Triple P“
1.3 Grundlagen und Prinzipien
2. Triple P im „Reality TV“ – die mediale Umsetzung
2.1 Die „stille Treppe“
2.2 Die „Familienregeln“
VII. Schlussbetrachtung
VIII. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
„Der Wurm muß dem Fisch schmecken und nicht dem Angler!”
(Zit. nach Radler 1995, 32)
Diese Aussage des ehemaligen RTL-Geschäftsführers Dr. Helmut Thoma fasst dessen Verständnis von Privatfernsehen zusammen und kann symptomatisch für die ganze Riege der privaten Fernsehsender in Deutschland gelten. Denn die privaten Fernsehsender sind abhängig von Werbeeinnahmen und die können wiederum nur durch den Verkauf von möglichst quotenstarker Werbezeit erzielt werden. Es wird also vor allem das gesendet, wovon vermutet wird, dass es bestimmte Zielgruppen mit bestimmbaren Konsumgewohnheiten zu bestimmten Zeiten sehen wollen.
Offiziell geben die Sender selbst jedoch andere Motive für die Ausstrahlung bestimmter Formate an. Laut RTL.de ist das Ziel der Sendung „Die Super Nanny“, um die es in dieser Arbeit geht, eine fundierte Analyse von Erziehungssituationen, eine Besprechung der konkreten Erziehungssituation und eine individuelle pädagogische Beratung für die Eltern zu leisten.
(vgl. http://www.rtl.de/ratgeber/familie_874467.php Stand 14.11.2006) Denn RTL will nach eigener Aussage „mit diesem Format einerseits den betroffenen Familien eine Hilfestellung bieten, andererseits aber auch dem Zuschauer anhand von unterschiedlichen Fällen Lösungsansätze für Probleme in der eigenen Familie aufzeigen.“ (vgl. Ebd.)
Von diesem Selbstanspruch der Sendung ist der Titel dieser Arbeit abgeleitet. „Reality-TV als Lebenshilfe?“ ist die Frage, der hier nachgegangen werden soll. Dabei ließe sich die Analyse auch auf die gesamte Gattung des „Reality-TV“ ausdehnen, denn die „Super Nanny“ ist nicht die einzige Serie, die sich den Anspruch Lebenshilfe zu leisten selbst auferlegt.
„Lebenshilfe“-Formate sind im deutschen Fernsehen inzwischen solide Quotenbringer. >Das Fernsehen ist der Schnuller für die Augen<, sagt der Berliner Medienforscher Klaus Goldhammer. >Statt goldener Showtreppe bietet es heute Beistand bei Alltagsproblemen.<“
Heißt es in einem Artikel des Nachrichtenmagazins „Spiegel“. Gemeint sind neben der „Super Nanny“ Formate wie „Einsatz in vier Wänden“ (RTL), „Die Autoschrauber“ (RTL II) oder auch „Glück-Wunsch! Vera macht Träume wahr“ (RTL II)
Der Begriff der „Lebenshilfe“ ist heute in aller Munde, dabei ist er durchaus sehr vielschichtig. Meyers Lexikon definiert ihn wie folgt:
„[Bei Lebenshilfe handelt es sich um] im weitesten Sinn alle Hilfestellungen, die gegeben werden, um einen Mitmenschen zu befähigen sein Leben zu bewältigen (z.B. soziale Unterstützung, Bildungsangebote, psychologische Beratung wie Ehe- und Erziehungsberatung oder die umfassende Betreuung älterer Menschen)[…]“
Bei Erziehungsberatung handelt es sich, dieser Definition folgend, also um Lebenshilfe. Nun proklamiert RTL wie bereits angesprochen, dass die „Super Nanny“ eine Erziehungsberatung leiste, demzufolge also eine Lebenshilfe bietet. Aber wie genau muss eine solche Beratung aussehen um sich das Prädikat „Lebenshilfe“ zu verdienen? Welche Qualität muss diese haben?
Obwohl es in der Pädagogik einige hitzige und sehr interessante Debatten über die Erziehungsmethoden der „Super Nanny“ gab und immer noch gibt, an späterer Stelle wird darauf noch genauer eingegangen, unterliegt diese Arbeit im wesentlichen einer medienwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Vor diesem Hintergrund interessiert es nicht so sehr, wie genau die „Super Nanny“ bei der Therapie der Familien vorgeht und wie oder ob sie deren Lebenssituation langfristig verbessert. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, ob der Rezipient von dem Format eine „Lebenshilfe“ erhalten kann. Also ob eine Beratung über das Medium Fernsehen stattfindet und wie diese konkret aussieht.
Der Begriff der „Lebenshilfe“ wird hier bewusst sehr weit gefasst, da er den medialen Rahmenbedingungen gerecht werden muss. Natürlich kann an eine medial vermittelte Erziehungsberatung alleine schon auf Grund der Eigenschaften des Mediums nicht der gleiche Anspruch gestellt werden wie an eine persönliche Hilfe, wie diese beispielsweise durch Institutionen wie das Jugendamt oder auch verschiedene Erziehungsberatungsstellen erfolgen kann.
Wenn hier stellvertretend für das „Reality-TV“ die „Super Nanny“ auf eine mögliche Funktion als „Lebenshilfe“ untersucht wird, dann wird danach gefragt, ob eine mediale Vermittlung von Lösungsansätzen für bestimmte alltägliche Problemsituationen geleistet wird. Weiterhin muss geprüft werden, ob diese von den Rezipienten möglicherweise auf eigene Alltagsprobleme übertragen werden können. Dieser Ansatz legt die Betonung bewusst auf „können“, denn von „den Rezipienten“ kann zweifelsohne nicht als homogene Masse gesprochen werden. Die individuellen, persönlichen Motive die Sendung zu verfolgen, sind sicherlich sehr different und es muss davon ausgegangen werden, dass der Grund für die Rezeption nicht immer darin liegt, Rat für alltägliche Problemsituationen in der Erziehung zu suchen. Vielmehr wird also untersucht, ob die Sendung überhaupt das Potential aufweist, eine Hilfestellungen geben zu können.
II. Allgemeine Vorüberlegungen
1. Aufbau und Vorgehensweise
Im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit gilt es den theoretischen Rahmen aufzuzeigen, in dem über das „Reality-TV“ gesprochen werden kann. Dazu soll zunächst die Entwicklung des Fernsehens hin zum „Reality-TV“ nachgezeichnet werden, um dann genauer auf die Gattung einzugehen. Da in der Literatur Uneinigkeit darüber herrscht, was genau unter „Reality-TV“ zu verstehen ist, soll im Rahmen der näheren Beschäftigung mit der Gattung eine Arbeitsdefinition gefunden werden. Da es sich bei der „Super Nanny“ um ein „Subgenre“ des „Reality-TV“ handelt, soll zum Ende des dritten Kapitels genauer auf dieses Genre, die Dokusoap, eingegangen werden.
Im vierten Teil dieser Arbeit wird zunächst eine kurze Einführung in die Sendung vorgenommen. Dazu werden auch die Rahmenbedingungen seitens der Produktion, des Castings etc. beschrieben, da diese für die weitere Analyse nicht unerheblich sind. Nachdem der Leser einen allgemeinen Überblick über die Sendung gewinnen konnte, wird im folgenden Kapitel in die Analyse eingestiegen. Dazu werden zunächst die theatralen Eigenschaften der Serie herausgearbeitet. Ziel ist es aufzuzeigen, welcher theatralen Methoden sich die Produktion bedient, um im Ergebnis eine möglichst unterhaltsame Serie zu produzieren.
Nachdem diese Methoden herausgearbeitet wurden, gilt es im sechsten Teil dieser Arbeit genauer auf das Erziehungsmodell der Serie einzugehen. Einzelne pädagogische Methoden werden auf ihre mediale Umsetzung hin untersucht, um qualitativ beurteilen zu können, ob die Serie dem selbst auferlegten Anspruch, dem Zuschauer Lösungsansätze für seine eigene familiäre Situation zu bieten, gerecht wird.
Schließlich gilt es in einer Schlussbetrachtung auf die der Arbeit zu Grunde liegende Fragestellung einzugehen und zu diskutieren, ob im Rahmen der „Super Nanny“ tatsächlich von Lebenshilfe gesprochen werden kann.
Da sich der Aufbau der einzelnen Sendungen der Serie sehr ähnelt und auch im Wesentlichen die gleichen pädagogischen Methoden eingesetzt werden, wird sich neben einer allgemeinen Analyse immer wieder zur Verdeutlichung exemplarisch auf eine Folge bezogen. Die Wahl fiel dabei auf die Folge „Der kleine Vulkan: Florian (5)“. Es handelt sich dabei um die zweite Folge der ersten Staffel. Auswahlkriterien waren lediglich die einfache Verfügbarkeit (die Folge ist auf der DVD zur Sendung erhältlich) und die Tatsache, dass hier viele Elemente enthalten sind, die als typisch gelten können.
Es ist anzumerken, dass in dieser Arbeit lediglich die erste Staffel der Serie berücksichtigt wird. Dies hat vor allem den Grund, dass sich die „Super Nanny“ über die mittlerweile drei ausgestrahlten Staffeln hinweg, ständig verändert hat. Die größten Veränderungen sind die vorübergehende Einführung einer zweiten „Super Nanny“, Nadja Lydssan, in der zweiten Staffel, die sich allerdings nicht etablieren konnte und die Behandlung von zwei Fällen innerhalb einer Folge der Serie seit der dritten Staffel. Neben einer Vielzahl weiterer Neuerungen sind es vor allem diese beiden Entwicklungen, die hier ausgeklammert werden, da ansonsten keine einheitliche Analyse, insbesondere der Theatralität, vorgenommen werden könnte.
2. Die Geschichte der Darbietung des privaten Lebens im Fernsehen
„Normale Menschen“ im (Unterhaltungs-) Fernsehen sind keineswegs ein Phänomen, das erst mit dem „Reality-TV“ im ausklingenden 20. Jahrhundert aufkam. Im Gegenteil: es handelt sich vielmehr um eine lange Tradition und vor allem um einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess, der letztlich zu dem Boom an „-reality“ Formaten geführt hat, der in der heutigen Fernsehlandschaft zu beobachten ist. In diesem Kapitel soll zunächst dieser Entwicklungsprozess seit dem deutschen Nachkriegsfernsehen bis hin zu dessen vorläufigen Höhepunkt, dem Fernsehereignis „Big Brother“ kurz nachgezeichnet werden.
Unterhaltung war von Beginn an Teil des Fernsehprogramms. Vor allem die großen Sportereignisse, wie die Übertragung der Fußballweltmeisterschaft im Sommer 1954 waren es, die zu einer Zeit, in der es längst noch nicht die Regel war ein eigenes Fernsehgerät zu besitzen, dazu führten, dass die Teilnehmerzahlen ständig anwuchsen. Solche Großereignisse führten immer wieder dazu, dass ein vielleicht schon länger bestehender Wunsch nach einem eigenen Empfangsgerät realisiert wurde. (vgl. Hickethier 1998: 88)
Daneben spielten in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem die musikalischen Unterhaltungsabende eine große Rolle bei der Entwicklung des Fernsehens zur Unterhaltungsinstanz. Jede Anstalt der ARD hatte Ende der fünfziger Jahre einen „großen Unterhaltungsabend“ im Programm. Ein anderes Unterhaltungsgenre, das sich immer größerer Beliebtheit erfreute, war in den fünfziger Jahren die Quizspiele oder Quizshows. Als Ausdruck einer neuen, westlichen Unterhaltungswelt spielten sie eine immer bedeutendere Rolle. (vgl. Ebd.: 142)
Der Sendestart des ZDF am vierten April 1963 und die sich damit neu ergebende Konkurrenzsituation für die ARD – die Strategie des ZDF war insbesondere auf eine Programmkonkurrenz zur ARD ausgelegt – führte dazu, dass dieses Genre weiter ausgebaut wurde. Grund dafür war die durch die Konkurrenzsituation wachsende Bedeutung der Zuschauerforschung. Die Showunterhaltung war beim Publikum eben sehr beliebt.(vgl. Ebd.: 215) Ab 1965 wurde in der ARD „Spiel ohne Grenzen“ ausgestrahlt. In der unter anderem von Frank Elstner und später auch Heribert Fassbender moderierten Show mussten sieben Nationen durch verschiedene Spiele um Punkte und Trophäen kämpfen. Die jeweils punkthöchsten Mannschaften eines Landes konnten an einem jährlichen Finale teilnehmen. Die Mannschaften setzten sich dabei aus „ganz normalen Leuten“ zusammen: Die erste verhaltens- und leistungsorientierte Spielshow im deutschen Fernsehen war damit geboren. (vgl. Mikos 2000, 162) Sie sollte auch nicht die Letzte bleiben, denn mit ihrem großen Erfolg löste sie einen Trend in der Fernsehunterhaltung aus, der sich mit Shows wie „Einer wird gewinnen“, „Der goldene Schuss“ oder auch „Wünsch dir was“ bis in die 80er Jahre fortsetzte. In allen diesen Shows konnten die Kandidaten, die „ganz normale Menschen“ waren, durch ihre persönliche Leistung (im weitesten Sinne) den Sieg erreichen und dieser stand auch im Vordergrund des Sendungskonzeptes.
Mit der Einführung des dualen Rundfunksystems und der sich wiederum neu ergebenden Konkurrenz durch die privat-kommerziellen Sender, ergab sich jedoch eine Umorientierung bei den Spielshows. Sendungen wie „Tutti-Frutti“, „Alles oder nichts“ oder auch „ 4 gegen Willi“, in der letztlich ein Hamster über Sieg oder Niederlage entschied, setzten weniger auf Leistung, sondern folgten vielmehr einem verhaltensorientierten Spiel. In ihnen kam es nicht mehr auf den Sieg an - in verhaltensorienterten Spielshows geht es vielmehr darum, dass „[...] die Kandidaten – teils mit, teils ohne ihr Wissen – in Situationen gebracht werden, in denen von ihnen bestimmte Verhaltensweisen verlangt werden.” (vgl. Hallenberger 1990: 126f.) Den Kandidaten selber, ihrer Persönlichkeit, kommt also eine wesentlich höhere Bedeutung zu als dies zuvor der Fall war. Dieses neue, am Verhalten der Kandidaten orientierte Prinzip, setzte sich durch und spätestens für die 1990er Jahre lässt sich mit Mikos feststellen: „Auch wenn in einigen Shows noch Gewinnspiele im Zentrum der Spielidee stehen, geht es doch auch in ihnen immer mehr um die Präsentation der Kandidaten als einfache, authentische Menschen.“ (vgl. Mikos 2000: 163) Aber nicht nur Spielshows folgten diesem Trend, sondern vor allem auch Beziehungsshows, Bekenntnisshows und nicht zuletzt die täglichen Talkshows eroberten als verhaltensorientierte Shows die Bildschirme.
Das neue gemeinsame Prinzip besteht darin, dass sich die Kandidaten oder Teilnehmer, in den durch die Shows vorgegebenen sozialen Settings, vor allem selbst inszenieren müssen. Dabei werden die Kandidaten in Situationen gebracht, die zur Ausstrahlung im Medium inszeniert werden und die in Settings stattfinden, die nach medialen Gesichtspunkten von den Produzenten ausgesucht wurden. In diesem hoch artifiziellen Rahmen müssen die Kandidaten mit anderen Kandidaten, den Moderatoren oder auch dem Publikum agieren, wobei sie dadurch zwangsläufig einen Teil ihres Alltags und ihrer Alltagsrealität in die Sendungen mit einbringen. Gleichzeitig wirken sich die Shows auch umgekehrt wieder auf ihren Alltag aus, denn in ihnen wird unter anderem geheiratet, um Verzeihung gebeten oder es werden schwerwiegende Geständnisse gemacht. Die sozialen Handlungen innerhalb des Fernsehauftritts können also als solche schon das alltägliche, soziale Leben der Kandidaten verändern. Aber auch indirekte Folgen können sich ergeben. Der Gewinn eines größeren Geldbetrags in einer Fernsehshow beispielsweise bedeutet ebenso eine Veränderung der Alltagswirklichkeit der Kandidaten.
Die Soziologin Angela Keppler spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Fernsehen die Zuschauer mit alltäglichen Begebenheiten unterhält, denen es jedoch einen außeralltäglichen Rahmen verleiht. (vgl. Keppler 1994: 8) Keppler betont, dass dabei die Differenz zwischen der Fernsehwirklichkeit und der Alltagswirklichkeit der Kandidaten jedoch zu keinem Zeitpunkt aufgehoben wird. Der Fernsehauftritt selber ist keine alltägliche Begebenheit, vielmehr führen die Kandidaten ihren Alltag im Rahmen der Fernsehsendung sozusagen auf. „Die Kandidaten handeln zwar wie im Alltag, doch tun sie dies im Rahmen des Fernsehens, der Besonderes und Außergewöhnliches suggeriert.“ Eben diese Besonderheit macht die Auftritte in Fernsehshows aus Sicht der Kandidaten so reizvoll.
Weiterhin stellt Keppler 1994 im Hinblick auf eine dokumentarische Beobachtung einer Familie in den USA fest, dass die Kandidaten ihren Alltag nicht permanent und über einen längeren Zeitraum aufführen können. Sie gesteht ihnen bei Shows, die über mehr als 60 oder 120 Min andauern lediglich zu, dass diese ihren Alltag „vollziehen“ können. Plakativ kann gesagt werden, sie können sich über einen solch langen Zeitraum nicht „verstellen“. Doch wie Mikos 2000 feststellt, „muss diese Einschätzung angesichts von >Big Brother< noch einmal überdacht werden“. (vgl. Mikos 2000: 164)
Das Fernsehereignis „Big Brother“, welches 2000 zum ersten Mal in Deutschland im Fernsehen zu sehen war, sorgte schon vor der Erstausstrahlung für eine hitzig geführte öffentliche Debatte über Ethik, Moral und gesellschaftliche Werte, in die sich auch die Politik einmischte. So forderte beispielsweise der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, einen „Verhaltenskodex der Anbieter“ , nachdem er das Format als „ein Experiment wie mit Ratten“ beschrieben hatte. (vgl. Schicha 2000: 81)
In der Sendung wurden 10 Kandidaten für einen Zeitraum von 100 Tagen in eine Containerwelt eingeschlossen. Sie hatten keinerlei Kontakt zur Außenwelt und wurden permanent von fest installierten Kameras beobachtet. Dabei hatten sie neben allerlei kleineren Aufgaben, die ihnen gestellt wurden nichts zu tun, außer ihren Alltag zu „leben“. Einmal wöchentlich gab es auf dem privat-kommerziellen Sender RTL II eine Zusammenfassung der Ereignisse der Woche zu sehen und alle zwei Wochen wurde ein Kandidat von den Zuschauern per Televoting aus der WG gewählt. Ziel des Spiels war es, am Ende als letzter verbleibender Kandidat 100.000 DM zu gewinnen. RTL II propagierte die Sendung damals als authentisches Format, in welchem reale Menschen einen echten Alltag leben. Unterstützt wurde dieses Motto auch vom Titelsong „Leb, so wie du dich fühlst“ der 3. Generation.
Wie Mikos jedoch feststellt, lebten die Kandidaten keinen authentischen Alltag, sondern im Gegenteil einen, für einen Zeitraum von 100 Tagen inszenierten Alltag. Ein normaler Alltag ist unter den Rahmenbedingungen des Spiels kaum möglich, da die Kandidaten schon mit Betreten des Containers einen großen Teil ihrer Handlungsautonomie verlieren. (vgl. dazu ausführlich Schicha 2000) Für Mikos liegt der Reiz des Formates für den Zuschauer darin, dass er sich aufgrund des Authentizitätsversprechens auf eine Inszenierung einlassen kann, in welcher er zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen wechseln kann. Mit Wirklichkeitsdimensionen ist zum einen die mediale Wirklichkeit gemeint, denn der Alltag in „Big Brother“ findet in einem Showrahmen statt. Dabei führt die besondere Situation im Container dazu, dass sich die Kandidaten der Showsituation immer bewusst sind, auch wenn diese für sich oft reklamierten, sie würden die Kameras und damit diese besondere Situtation nicht wahrnehmen. Zum anderen entsteht eine zweite Wirklichkeitsdimension dann, wenn die Zuschauer davon ausgehen, dass die Kandidaten die besondere Showsituation für sich als soziale Wirklichkeit wahrnehmen und folglich als ihren Handlungsrahmen definieren. Diese eigentlich paradoxe Situation erzeugt beim Zuschauer Spannung und einen Unterhaltungswert, da er sich fortlaufend fragen muss, ob die Handlungen der Kandidaten in den konkreten sozialen Situation für die Fernsehzuschauer aufgeführt werden, um sich so im Sinne des Spiels Vorteile zu verschaffen oder ob sie im Rahmen, der als sozialer Wirklichkeit wahrgenommen Situation, authentisch stattfinden.
Natürlich ist dies nicht der einzige Unterhaltungsfaktor der Sendung. Eine Reihe medienwissenschaftlicher Publikationen hat sich mit dem Phänomen „Big Brother“ und dessen Reiz beschäftigt. Oft wird zum Beispiel auch Voyeurismus als Motivation der Zuschauer zum Einschalten vermutet. (vgl. Westerbarkey 2000: 70f.)
In jedem Fall kann „Big Brother“ als der vorläufige Höhepunkt der Darbietung des privaten Lebens im Fernsehen betrachtet werden. Gleichzeitig ist es Teil einer Entwicklung im Fernsehen, die eine Veränderung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit widerspiegelt und die im Ergebnis zu einer stärkeren Orientierung an der Lebenswelt des Zuschauers führt.
2.1 Die Lebensweltliche Orientierung des Fernsehens
Mit dem Vordringen des Fernsehens in die Privatsphäre der Menschen aber auch umgekehrt mit der Zurschaustellung von Privatheit im Fernsehen und der damit verbundenen Veröffentlichung des Privaten, verschwimmen die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zusehends. Die Ursache dieser Verschmelzung und der Orientierung an der Lebenswelt der Zuschauer liegt im gesellschaftlichen Wandel begründet.
So lange die Gesellschaft und die Individuen, die Teil von ihr sind, einer für alle verbindlichen Sinnorientierung folgten, war das Leben jedes einzelnen klar strukturiert. Klare Sinnorientierungen boten vor allem die Kirche und der Staat. In „hochmobilen und nach Rollen differenzierten westlichen Gesellschaften“ (vgl. Fromm 1999: 46) jedoch existieren keine klaren Handlungsorientierungen mehr oder diese sind zumindest nicht mehr verbindlich. Durch Modernisierungsprozesse wie die Urbanisierung, den Bevölkerungswachstum und die Massenmedien, ist seit dem 19. Jahrhundert ein „kategorialer Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ (vgl. Berger / Luckmann 1969) zu beobachten. Individualisierung setzt sich als "neuer Modus der Vergesellschaftung" durch, wodurch das Individuum als eigene soziale Einheit konstituiert wird (vgl. Beck 1986).
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine „Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten“ (vgl. Fromm 1999: 47), die auch als Pluralisierung der Lebensstile bezeichnet wird. In einer konsum- und erlebnisorientierten Gesellschaft, in der es vor allem um Selbstverwirklichung geht, haben die Menschen die Freiheit, aber gleichzeitig auch den Zwang, ihren Lebensstil individuell zu finden. Das Fernsehen stellt unverbindlich verschiedene Identitäten und Lebensstile aus, die der Zuschauer kennenlernen kann, um sie dann zu bewerten oder mit sich selbst zu vergleichen. Damit übernimmt das Fernsehen eine Orientierungsfunktion, für die, mit Blick auf die Einschaltquoten, in der Gesellschaft offensichtlich ein Bedarf besteht. Da lebensweltlich orientierte Formate wie Talk-Shows oder auch „Reality-TV“ nicht nur gut beim Publikum ankommen, sondern zumeist auch verhältnismäßig billig zu produzieren sind, kann heute im Fernsehen insgesamt von einem Trend hin zur nicht fiktionalen Unerhaltung gesprochen werden. (vgl. Hickethier 1998)
Diese lebensweltliche Orientierung lässt sich jedoch nicht nur in unterhaltenden Sendungen im weitesten Sinne wiederfinden – „neuartig sind hingegen Tendenzen, die auf eine stärkere Emotionalisierung der politischen Berichterstattung hin zu mehr Human-Touch, Aktivismus und Sensationalität hinweisen und die mit dem Begriff ‚Infotainment’ zusammenfassend beschrieben werden“ (vgl. Bruns 1998: 28) Auch in den Bereichen politischer Berichterstattung oder Nachrichten ist demnach diese stärkere lebensweltliche Orientierung zu beobachten. Die Bedeutung der (politischen) Themen, die subjektive Lebenserfahrungen aufgreifen wird immer größer, wohingegen Themen, die diese nicht tangieren, an Bedeutung verlieren. Als beispielhaft für diese Entwicklung führt Eberle das Attentat auf die Tennisspielerin Monica Seles an. Über dieses wurde in der Tagesschau der ARD berichtet, indem zunächst der Zusammenbruch der Spielerin und danach ihr unter Schmerzen verzerrtes Gesicht gezeigt wurden. Noch wenige Jahre zuvor, so Eberle, wäre zusätzlich zu einer Wortmeldung lediglich ein Porträt von Monica Seles gezeigt worden.
Auch im Bereich der Dokumentationen ist die zunehmende Orientierung an der Alltagswelt der Zuschauer zu beobachten:
„Es werden vorzugsweise Themen von breitem Interesse oder hohem Innovationswert behandelt. Dokumentationen aus der Alltagswelt, Human-Interest-Stories, Einblicke in für die Zuschauer sonst nicht zugänglichen Institutionen und Skandaljournalismus sollen Einschaltquoten sichern. Originalaufnahmen vermitteln dabei den Eindruck der besonders authentischen Vermittlung von Zeitgeschichte.“ (vgl. Bleichert et. al. 1993: 46)
Diese starke Orientierung des deutschen Fernsehens an der Lebenswelt der Zuschauer und der damit verbundene Boom an „Realität“ im Fernsehen, der mit Big Brother im Jahr 2000 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, begann jedoch schon Anfang der neunziger Jahre mit dem „Reality-TV“. Nachdem die allgemeinen Entwicklungsprozesse, die zu diesem Boom führten, aufgezeigt wurden, soll nun auf das „Reality-TV“ im speziellen eingegangen werden.
III. Theoretische Vorüberlegungen
1. „Reality-TV“
1.1 Exkurs – zum Begriff Realität
Wörtlich übersetzen lässt sich „Reality-TV“ mit „Realitätsfernsehen“. Bevor näher auf das „Reality-TV“ eingegangen wird, soll daher zunächst reflektiert werden, was unter dem Begriff „Realität“ zu verstehen ist.
In der Wissenschaft und da insbesondere in der Philosophie, existiert eine Reihe unterschiedlicher Ansätze die versuchen, sich einer Begriffsdefinition von „Realität“ zu nähern. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Realität hat eine lange Tradition und reicht zurück bis zu Platons berühmtem Höhlengleichnis. Nach diesem sind alle Gegenstände, die wir für die Wirklichkeit, also die Realität halten, nur Schatten ihrer Eigentlichkeit. Realität ist demnach weitestgehend kognitiv konstruiert. Auch im radikalen Konstruktivismus wird diesem Ansatz gefolgt. Ihm zufolge sind alle Sinneseindrücke ein reines Konstrukt des Gehirns, welches die elektrischen Impulse, also Nervenreaktionen, bzw. Wahrnehmungen, den bisherigen Erfahrungen anpasst. So entsteht im Individuum eine subjektive Erfahrungswelt, welche allerdings keinerlei Rückschluss auf tatsächliche Realität ermöglicht. Das einzige, was sich über die Realität demzufolge im radikalen Konstruktivismus sagen lässt ist, dass sie existiert.
In der Wissenssoziologie lässt sich die Konstruktion von “Realität” nach Wegener anhand dreier Wechselwirkungsprozesse darstellen: (vgl. Wegener 1994: 33f.)
1. Die objektive soziale Realität ist die Realität, die außerhalb des Individuums zunächst einmal ganz objektiv existiert und mit der es konfrontiert wird.
2. Die symbolische soziale Realität ist eine symbolische Umsetzung der objektiven sozialen Realität in Kunst, Literatur und in den Medien.
3. Die subjektive soziale Realität ist die Realität, in der persönliche Erfahrungen und Vorstellungen mit einfließen, die das Individuum der symbolischen und der objektiven sozialen Realität entnimmt.
Weitere vier Differenzierungsmöglichkeiten für Realität formuliert Wegener in Anlehnung an Schneider: (vgl. Ebd.)
1. Die Realität der jeweiligen biologischen Art. So haben beispielsweise Menschen und Hunde eine unterschiedliche Weltsicht.
2. Die subjektive Realität eines Kulturkreises, die durch die Erziehung und Tradition geprägt sind.
3. Die subjektive Realität einer sozialen Gruppe
4. Die vorgetäuschte Realität, die von Menschen geschaffen wird, um anderen Menschen durch die Vermittlung eine fiktive Wirklichkeit vorzutäuschen. Solche Realitäten werden beispielsweise von Werbeagenturen geschaffen, die ein Interesse daran haben, Produkte zu verkaufen.
Was dieser kurze Exkurs durch einige verschiedene philosophische Ansätze vor allem deutlich macht ist, dass es kaum möglich ist, eine einheitliche Definition für einen solch komplexen Begriff wie „Realität“ zu finden. Es stellt sich demzufolge die Frage, wie mit dem Begriff des „Realitätsfernsehen“ gearbeitet werden kann, wenn noch nicht einmal Klarheit darüber besteht, was unter Realität genau zu verstehen ist.
Und so überrascht es auch nicht, dass über den Begriff „Reality-TV“ seitens der Produzenten und auch der Fachliteratur Uneinigkeit besteht. (Vgl. Schwäbe 2004: 239ff) Die Folge dieser unklaren Begrifflichkeit ist, dass im Zuge des großen Erfolgs der Formate des „Reality-TV“ kaum noch ein neues Format im Fernsehen ohne den Zusatz „–reality“ auskommt. Um zumindest für diese Arbeit Klarheit in diese Undurchsichtigkeit zu bringen, soll im Folgenden zunächst eine Arbeitsdefinition gefunden werden.
1.2 „Reality TV“ - Begriffsklärung
In der Literatur existieren einige Versuche, „Reality-TV“ genau zu definieren, bzw. zu charakterisieren. Sehr häufig wird sich dabei auf den Ansatz von Claudia Wegener bezogen. Diese widmet sich in ihrem Buch „Reality TV – Fernsehen zwischen Emotion und Information“ 1994 erstmals sehr ausführlich den Charakteristika des „Reality-TV“, um einen Beitrag zur Begriffsklärung zu leisten. (Wegener 1994, 11) Wegener sieht die Basis der verschiedenen „Reality-TV“ Formate darin, dass „[…] tatsächliche Ereignisse nachgestellt oder durch Videoaufnahmen von sogenannten Augenzeugen dokumentiert werden. Bei den Ereignissen handelt es sich zu einem ganz erheblichen Teil um Katastrophen, Unfälle oder Verbrechen. Es ist die Darstellung von Grenzsituationen, die das Genre u.a. kennzeichnet.“ Sie konkretisiert die Charakteristika weiter und beschreibt vier Merkmale, die für „Reality-TV-Sendungen“ konstitutiv seien:
Zunächst werden Realereignisse entweder wirklichkeitsgetreu nachgestellt oder durch originales Filmmaterial dokumentiert. Ein weiteres Merkmal ist, dass sich diese Ereignisse nicht unmittelbar auf aktuelle, gesellschaftlich-relevante Themen beziehen. Drittens ist für sie ausschlaggebend, dass diese Ereignisse primär Personen zeigen, die entweder psychische oder physische Gewalt ausgeübt oder erlitten haben. Zuletzt sind die verschiedenen Beiträge, aus denen sich eine einzelne „Reality-TV-Sendung“ zusammensetzt, ein Merkmal.[1] (Wegener 1994, 17)
Wegeners Ansatz beschreibt sehr treffend die Formate, die Anfang der 90er Jahre den Beginn des „Reality-TV“ einläuteten, wie „Augenzeugenvideo“ oder „Notruf“. Neuere Hybridformate, wie zum Beispiel auch die „Super Nanny“ können so jedoch nicht mehr gefasst werden.
1997 greifen Bettina Fromm und Gary Bente den Ansatz von Wegener auf und entwickeln daraus den Begriff, bzw. das Genre, des „Affektfernsehens“. Als charakteristische Merkmale des „Affektfernsehens“ arbeiten sie die Emotionalisierung, die Personalisierung, die Intimisierung und die Authentizität heraus. Das „Reality TV“, als Unterform des „Affektfernsehens“ sei jedoch „ eher randständig im Sinne der Definition“ (vgl. Bente / Fromm 1993: 21) Auch wenn es einige Gemeinsamkeiten mit dem „Affektfernsehen“ aufweise. Dies sei deshalb der Fall, da eines der von Wegener herausgearbeiteten Charakteristika, nämlich die Darstellung von Gewalt, beim „Reality-TV“ zentral sei, jedoch auf andere Sendungen des „Affektfernsehens“ nicht zutreffe. Diese Argumentation ist jedoch aus heutiger Sicht nicht mehr tragbar, da es zum einen bei den verschiedenen Ausprägungen des „Reality-TV“ keineswegs immer zentral um die Darstellung von Gewalt geht und zum anderen müssten mit dieser Argumentation auch andere Formate aus der Definition von „Affektfernsehen“ herausfallen. Lücke und Klaus weisen darauf hin, dass unter anderem Spielshows mit dieser Argumentation ausgeschlossen werden müssten, da diese im Gegensatz zu den anderen Formaten des „Affektfernsehens“ aus Game-Show Elementen bestehen. ( vgl. Klaus / Lücke 2003: 197)
1999 subsumiert Fromm in einer erneuten Studie die verschiedenen Formate des „Affektfernsehens“ unter den Begriff der „intimen Formate“. Das „Reality-TV“ betrachtet sie in dieser nicht mehr als „randständig im Sinne der Definition“, sondern als direkten Vorläufer der intimen Formate. (vgl. Fromm 1999: 19) Eine genauere Charakterisierung des „Reality-TV“ nimmt sie in dieser Arbeit jedoch nicht vor.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt eine Untersuchung des Instituts für Medienanalyse Essen 1992. In dieser werden bestimmte Darstellungsformen dem Begriff „Reality-TV“ zugeordnet. Diese sind Filmdokumente, Dokumentationsdramen, Reality-Shows und Suchsendungen. (vgl. Eberle 2000: 211) Eberle greift 2000 diese Zuordnung erneut auf, ersetzt jedoch Suchsendungen durch Problemlösesendungen (vgl. Eberle 2000: 212) und führt die einzelnen Punkte weiter aus:
Filmdokumente seien Echtaufnahmen, welche zufällig oder vorgeplant ungewöhnliche Ereignisse dokumentieren. In Dokumentationsdramen werden Realereignisse mit dem Anspruch der Wirklichkeitstreue nachgespielt. Bei Reality-Shows handelt es sich nach Eberle um Talk-, Psychodrama- und Aktions-Shows, in welchen Realkonflikte dargestellt und teilweise gelöst werden. Bei Problemlösesendungen handele es sich um Programmformen, bei denen die Fernsehtechnik zur Lösung eines Sozialproblems eingesetzt werde oder bei denen sich das Fernsehen für die Rechte der Zuschauer einsetze.
Eberles Ausführungen machen das große Problem deutlich, mit welchem alle Ansätze, die versuchen „Reality-TV“ zu definieren oder zu charakterisieren, konfrontiert werden. Selbst wenn die Ansätze eher wage sind, wie Eberle dies bei seinem eigenen eingesteht, (vgl. Ebd.) werden sie dem ungeheuren Tempo, mit dem sich das „Reality-TV“ entwickelt, nicht gerecht. Kaum ist ein wissenschaftlicher Ansatz entwickelt, der die Charakteristika beschreibt, werden neue Sub-Genres des „Reality-TV“ produziert, die sich den aufgestellten Kriterien entziehen. So ist beispielsweise Eberles Ansatz schon vor Erscheinen seines Buches im Jahr 2000 nicht mehr aktuell, da sich ein Format wie Big Brother mit ihm nicht mehr eindeutig fassen lässt. Offensichtlich handelt es sich bei Big Brother um „Reality-TV“, es lässt sich jedoch im Sinne Eberles weder als Filmdokument charakterisieren, da keine ungewöhnlichen Ereignisse, sondern explizit der Alltag der Bewohner dokumentiert wird. Auch als Dokumentationsdrama lässt es sich nicht einordnen, da die Ereignisse nicht nachgespielt werden. Unter die Definition der Reality-Show und auch der Problemlösesendung im Sinne Eberles lässt sich „Big Brother“ auch nicht subsumieren.
Komplexe, abgeschlossene Definitionsversuche sind angesichts der Tatsache, dass von den Fernsehsendern selbst meist einfach jene Formate als „Reality-TV“ bezeichnet werden, in denen keine Schauspieler sondern „Menschen wie du und ich“ mitwirken und der schier nicht enden wollenden Innovationskraft des Genres, früher oder später zum Scheitern verurteilt. Es muss daher einem offeneren Ansatz gefolgt werden, der Spielraum für weitere Entwicklungen lässt.
Einen solchen Ansatz leisten Elisabeth Klaus und Stephanie Lücke 2003. Sie beziehen sich zunächst auf Angela Keppler, erweitern diesen Ansatz jedoch.
Angela Keppler legt 1994 eine erweiterte Definition des „Reality-TV“ vor. Sie unterscheidet dabei zwischen dem „performativen Realitätsfernsehen“ und dem „narrativen Realitätsfernsehen“. Beim „narrativen Realitätsfernsehen“, bekommen die Zuschauer die authentische oder nachgestellte Wiedergabe von tatsächlichen Katastrophen zu sehen. Das „performative Realitätsfernsehen“ hingegen „[...] unterhält seine Zuschauer mit alltäglichen Begebenheiten, denen es einen außeralltäglichen Rahmen verteilt.“ (vgl. Keppler 1994: 8) Keppler betont, dass dabei die Differenz zwischen der Fernsehwirklichkeit und der Alltagswirklichkeit der Kandidaten zu keinem Zeitpunkt aufgehoben wird. Klaus und Lücke greifen diese Unterscheidung auf und definierten in Anlehnung daran „narratives Reality-TV“ und „performatives Reality-TV“ wie folgt:
„Narratives Reality-TV umfasst jene Sendungen, die ihre ZuschauerInnen mit der authentischen oder nachgestellten Wiedergabe realer oder realitätsnaher außergewöhnlicher Ereignisse nicht-prominenter Darsteller unterhalten.
Performatives Reality-TV umfasst jene Sendungen, die eine Bühne für nicht-alltägliche Inszenierungen sind, jedoch zugleich direkt in die Alltagswirklichkeit nicht-prominenter Menschen eingreifen“ (vgl. Klaus / Lücke 2003: 199)
Der Begriff „Reality-TV“ wird von ihnen als Begriff verstanden, der Fernsehangebote systematisiert und bezeichnet. In Anlehnung an Gehrau sprechen sie daher vom „Reality-TV“ als „Gattung“. (vgl. Ebd.: 196) Unter die Gattung lassen sich als Dachbegriff verschiedene Genres subsumieren, da Genres „>am Inhalt orientierte Untergruppen< der Gattung sind“. (vgl Ebd.) Dabei ist diese Aufteilung in verschiedene Genres beliebig erweiterbar.
Im Folgenden soll diesem Ansatz gefolgt werden. Es wird daher von der Dokusoap als Genre und dem „Reality-TV“ als Gattung gesprochen.
1.3 Die Entwicklung des „Reality-TV“
Der Begriff „Reality-TV“ stammt ursprünglich aus den USA. Dort erlebte die Gattung 1988 einen Boom – nur die drei großen amerikanischen Networks füllten in diesem Jahr 13 Stunden ihres Programms mit Sendungen, die dem „Reality-TV“ zugeordnet werden können. (vgl. Wegener 1994: 18)
Dabei waren es vor allem Formate, die dem von Lücke und Klaus als „gewaltzentriertes Reality-TV“ beschriebenem Genre zuzuordnen sind, die die Gattung begründeten. Sendungen wie „Rescue 911“, das direkte Vorbild des deutschen Formats „Notruf“, oder auch „Top Cops“ hatten einen enormen Zuspruch beim Publikum. Der Erfolg dieser Sendung ist jedoch nicht nur auf gute Einschaltquoten zurückzuführen. Entscheidend war auch, dass diese Sendungen verhältnismäßig billig zu produzieren waren. Grund hierfür war der riesige Materialfundus, den die Produzenten in den USA zur Verfügung hatten– anders als in Deutschland existiert dort eine Fülle an kleinen, lokalen Networks, die auch bei „kleineren Katastrophen“ vor Ort sind. Dieses Material konnte dann von den großen Networks aufgekauft werden, um es für eigene Sendungen einzusetzen. In den USA etablierte sich das Genre daher sehr schnell. In Deutschland hingegen verlief dieser Prozess um einige Jahre zeitversetzt.
Zwar existierte in Deutschland mit „Aktenzeichen XY... ungelöst“ schon 1967 eine Sendung, die durchaus dem Genre des „gewaltzentrierten Reality TV“ zugeordnet werden kann. Der Boom dieser Sendungen ließ jedoch noch bis 1992/93 auf sich warten. In diesen Jahren gingen mit „Polizeireport Deutschland“ (Tele 5, 1992), „Notruf“ (RTL, 1992), „Auf Leben und Tod“ (RTL, 1992), „Augenzeugen-Video“ (RTL, 1992), „Retter“ (Sat1,1992), „Bitte melde Dich“ (Sat1,1992), „K – Verbrechen im Fadenkreuz“ (Sat1, 1992), „SK 15“ (Sat1, 1993) und „Spurlos“ (RTL, 1993) gleich 9 Vertreter des Genres auf Sendung. Was gleich augenfällig wird ist, dass es vor allem die privaten Fernsehsender waren, die das Genre von Anfang an in ihrem Programm implementierten.
Der Boom des Genres wurde in Deutschland von einer erbittert geführten öffentlichen Diskussion begleitet. Nicht nur Medienkritiker und Politiker verurteilten einheitlich die neuen Formate. So schrieb beispielsweise die Programmzeitschrift „TV Movie“ im März 1993
[...]
[1] Wegener bezieht sich auf die ersten Sendungen des Reality-TV, wie z.B. „Augenzeugenvideo“. In diesen wurden ähnlich wie in Magazinen verschiedene Beiträge gezeigt, die durch An- und Abmoderationen des Moderators unterbrochen waren.
- Arbeit zitieren
- Marius Rausch (Autor:in), 2007, „Familienprobleme? Die Super Nanny hilft!“ Reality-TV als Lebenshilfe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73281
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