Unsere heutige Gesellschaft ist von einem sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel geprägt. Dieser bringt eine ethnische Vielfalt mit, die die Gesellschaft zunehmend heterogener werden lässt. In Deutschland sind bereits mehr als zehn Millionen Menschen zweisprachig. Rund ein Fünftel der Schüler haben Deutsch als Zweitsprache und damit eine nichtdeutsche Muttersprache. Oft treten sie in den Kindergarten oder die Schule ein, ohne vorher mit der deutschen Sprache konfrontiert worden zu sein. Sie lernen die Zweitsprache Deutsch unter erschwerten Bedingungen. Die Schwierigkeiten dieser Schüler im Zweitspracherwerb werden oft zu spät erkannt, wenn die Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen nicht altersgemäß beherrscht werden. Das Thema Zweisprachigkeit wird daher auch in der Sprachbehindertenpädagogik immer aktueller. Oftmals werden die Schwierigkeiten dieser Kinder in ihrer Zweitsprache fälschlicherweise auf eine Sprachbehinderung zurückgeführt.
Diese Arbeit bezieht sich vor allem auf die Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund. Der Titel deutet bereits darauf hin, dass Zweisprachigkeit nicht als Belastung, sondern als eine pädagogische Herausforderung gesehen werden muss, die es unter Beachtung beider Sprachen zu meistern gilt. Nur so ist es möglich, diesen Kindern gerecht zu werden. Es gilt, die Lebenswirklichkeit, Stärken und Schwächen zweisprachiger Kinder zu beachten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Wie Kinder sprechen lernen – Erstspracherwerb
2.1 Erklärungsversuche aus der Spracherwerbsforschung
2.1.1 Behaviorismus
2.1.2 Nativismus
2.1.3 Kognitivismus
2.1.4 Interaktionismus
2.2 Bedingungen für einen erfolgreichen Erstspracherwerb
2.2.1 Sensomotorische Entwicklung
2.2.1.1 Hörvermögen
2.2.1.2 Sehvermögen
2.2.1.3 Tastsinn
2.2.1.4 Sprechwerkzeuge
2.2.2 Hirnreifung
2.2.3 Motivation
2.2.4 Familiäre Lebensbedingungen
2.3 Entwicklungsphasen des Erstspracherwerbs
3 Zweisprachigkeit und Zweitspracherwerb
3.1 Definitionen
3.1.1 Erstsprache
3.1.2 Muttersprache
3.1.3 Zweisprachigkeit
3.1.4 Mehrsprachigkeit
3.2 Gruppen von Menschen mit fremder Muttersprache
3.2.1 Aussiedler
3.2.2 Gastarbeiter
3.2.3 Asylbewerber
3.3 Rahmenbedingungen des Zweitspracherwerbs
3.3.1 Das Kind als Person
3.3.2 Die Situation in der Familie
3.3.3 Die Spracherziehungsmethoden
3.3.3.1 Eine Person - eine Sprache
3.3.3.2 Umgebungssprache – Familiensprache
3.3.3.3 Schulsprache - Familiensprache/Umgebungssprache
3.3.3.4 Situationsabhängige Sprachtrennung
3.3.4 Das soziale Umfeld
3.3.5 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
3.4 Konzepte des Zweitspracherwerbs
3.4.1 Gesteuerter und ungesteuerter Zweitspracherwerb
3.4.2 Simultaner und sukzessiver Zweitspracherwerb
3.4.3 Additiver und subtraktiver Zweitspracherwerb
3.4.4 Doppelte Halbsprachigkeit/Semilingualismus
3.5 Theorien zum Erwerb von Zweisprachigkeit
3.5.1 Die Kontrastivhypothese
3.5.2 Die Identitätshypothese
3.5.3 Die Interlanguage-Hypothese
3.5.4 Die Schwellen- und die Interdependenz-Hypothese
4 Chancen und Gefahren bei zweisprachiger Erziehung
4.1 Zweisprachigkeit als Abweichung
4.2 Probleme der Stigmatisierung
4.3 Bedeutung der Zweisprachigkeit für die Identitätsentwicklung
4.4 Problematik und Möglichkeiten der Sprachstandsdiagnose
4.5 Probleme und Chancen in der Sprache
4.5.1 Metasprachliche Fähigkeiten
4.5.2 Sprachwechsel
4.5.3 Sprachmischungen
4.5.4 Interferenzen
4.5.5 Mischsprache
4.5.6 Fossilierungen und Backsliding
4.5.7 Sprachverweigerung
4.5.8 Stottern
4.5.9 Verzögerte Sprachentwicklung
4.5.10 Stammeln
4.5.11 Lese-Rechtschreib-Schwäche
4.5.12 Schriftspracherwerb
4.6 Probleme und Möglichkeiten in der Bildungspolitik
4.6.1 Segregation
4.6.2 Sprachschutzprogramm
4.6.3 Submersion
4.6.4 Immersion
4.6.5 Two-way-Modelle
4.6.6 Deutsch als Zweitsprache
4.6.7 Vorbereitungsklassen
4.6.8 Muttersprachlicher Unterricht
4.6.9 Fremdsprachlicher Fachunterricht
4.6.10 Samstagsschulen
4.6.11 Fremdsprachenunterricht
4.6.12 Internationale Schulen
4.6.13 Europäische Schulen
4.6.14 Europaschulen und Schulversuche an staatlichen Schulen
5 Einzeldarstellung eines Mädchens mit russischer Muttersprache
5.1 Anamnese
5.2 Rahmenbedingungen
5.2.1 Situation in der Familie und im sozialen Umfeld
5.2.2 Situation in der Schule
5.3 Die Betrachtung des Kindes
5.3.1 Sozial-emotionaler Bereich
5.3.2 Sensumotorischer Bereich
5.3.3 Kognitiver Bereich
5.3.4 Sprachlich-kommunikativer Bereich
5.3.4.1 Aussprache
5.3.4.2 Wortschatz
5.3.4.3 Redefluss
5.3.4.4 Auditive Wahrnehmung
5.3.4.5 Sprachbewusstsein/phonologische Bewusstheit
5.3.4.6 Sprachverständnis
5.3.4.7 Sprachgedächtnis
5.3.4.8 Grammatik
5.3.4.9 Lesefähigkeit
5.3.4.10 Fähigkeiten in der Schriftsprache
5.4 Überlegungen zur möglichen Genese der sprachlichen Beeinträchtigung
5.5 Fördermaßnahmen
5.5.1 Bisherige Fördermaßnahmen
5.5.2 Darstellung der Fördermaßnahmen
5.5.2.1 Fördereinheit: Wir machen Obstsalat
5.5.2.2 Fördereinheit: Sprechreim zum Thema „Mein Körper“
5.5.3 Vorschläge für die weitere pädagogische Arbeit
6 Schlussbetrachtung
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Unsere heutige Gesellschaft ist von einem sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel geprägt. Dieser bringt eine ethnische Vielfalt mit, die die Gesellschaft zunehmend heterogener werden lässt.
In unserer Umwelt sind wir von Mehrsprachigkeit umgeben. So ist die deutsche Sprache von Anglizismen, z.B. im Bereich der Kleidung, geprägt. Die Begriffe „Jeans“, „Sneakers“ und „Trenchcoat“ sind jedermann geläufig. In der Gastronomie gehören Pizza, Döner, Gyros und Sushi zum Alltag. Aber auch die vielfältigen deutschen Dialekte lassen uns Zweisprachigkeit erleben. Ein Kind, in dessen Nachbarschaft türkische Muttersprachler leben, wird ebenso mit Zweisprachigkeit konfrontiert wie die Menschen, die in Grenzregionen oder Ländern wie Luxemburg, in denen Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit als selbstverständlich angesehen wird, leben. In Deutschland sind bereits mehr als zehn Millionen Menschen zweisprachig (vgl. Reich/Roth, 2002, 7 und 16). Oft kommt es zur Zwei- oder Mehrsprachigkeit, ohne dass man sich bewusst dafür entscheidet. Sie ist, beispielsweise für Migranten, vielmehr eine Notwen-digkeit, um mit den Menschen in Interaktion bzw. Kommunikation zu treten und seine Bedürfnisse und Wünsche zu äußern.
Bereits im Kindergarten, aber vor allem in der Schule, treffen Kinder deutscher Muttersprache auf solche unterschiedlicher nationaler Herkunft und Muttersprache. Rund ein Fünftel der Schüler haben Deutsch als Zweitsprache und damit eine nichtdeutsche Muttersprache (vgl. Schader, 2004, 9). Oft treten sie in den Kindergarten oder die Schule ein, ohne vorher mit der deutschen Sprache konfrontiert worden zu sein, da in ihrer Umgebung ihre Muttersprache gesprochen wurde oder sie erst kurz zuvor aus ihrem Herkunftsland nach Deutschland auswanderten. Sie lernen die Zweitsprache Deutsch unter erschwerten Bedingungen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang von der Bildungsbenachteiligung ausländischer Schüler gesprochen. Sie besuchen häufiger als deutsche Schüler eine Förderschule oder eine Hauptschule. Die Schwierigkeiten dieser Schüler im Zweitspracherwerb werden oft zu spät erkannt, wenn sie die Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen nicht altersgemäß beherrschen. Das Thema Zweisprachigkeit wird daher auch in der Sprachbehindertenpädagogik immer aktueller. Oftmals werden die Schwierigkeiten dieser Kinder in ihrer Zweitsprache auf eine Sprachbehin-derung zurückgeführt, die häufig gar keine ist.
Im September 2005 absolvierte ich mein zweites Fachpraktikum in der ersten Klasse einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Sprache. Dort lernte ich zwei Schülerinnen kennen, die beide zweisprachig erzogen werden. Ein Mädchen mit albanischer Muttersprache, das in Deutschland geboren wurde, hatte in der deutschen Sprache Schwierigkeiten im Bereich der Grammatik und der Aussprache und neigte dazu, zu schnell zu sprechen. Das zweite Mädchen, zu dem ich auch im Rahmen meiner Examensarbeit Bezug nehme, kam erst im Alter von vier Jahren nach Deutschland und zeigte vor allem Auffälligkeiten im Sprachverständnis und im Bereich des Wortschatzes. Die Erfahrungen, die ich während meines Praktikums mit zweisprachigen Schülerinnen sammeln konnte, bewegten mich dazu, meine Examensarbeit über das Thema „Kinder fremder Muttersprache - eine pädagogische Herausforderung“ zu schreiben. Der Titel meiner Arbeit deutet bereits darauf hin, dass Zweisprachigkeit als eine pädagogische Herausforderung gesehen werden muss. Es gilt, die Lebenswirklichkeit, Stärken und Schwächen zweisprachiger Kinder zu beachten.
In meiner Examensarbeit gehe ich zunächst auf den Erstspracherwerb ein, d.h. darauf, wie alle Kinder in ihrer Muttersprache sprechen lernen. Dabei führe ich als Erstes unterschiedliche Erklärungsversuche aus der Spracherwerbs-forschung auf, die den kindlichen Erstspracherwerb aus ihrer Sicht erläutern: den Behaviorismus, den Nativismus, den Kognitivismus und den Interaktionismus. Anschließend folgt eine Darstellung der Bedingungen, die einen erfolgreichen Erstspracherwerb ermöglichen. Neben der senso-motorischen Entwicklung werde ich Bezug zur Hirnreifung, der Motivation und den familiären Lebensbedingungen nehmen. Im nächsten Punkt beschreibe ich die einzelnen Entwicklungsphasen des Erstspracherwerbs. Im dritten Kapitel nehme ich zur Zweisprachigkeit und dem Zweitspracherwerb Bezug. Zunächst werden die Begriffe „Erstsprache“, „Muttersprache“, „Zweisprach-igkeit“ und „Mehrsprachigkeit“ definiert. Darauf folgt eine Darstellung der drei Hauptgruppen von Menschen mit fremder Muttersprache: Aussiedler, Gastarbeiter und Asylbewerber. Anschließend werde ich die Rahmenbedingungen, die sich positiv oder negativ auf den Zweitspracherwerb auswirken, erläutern. Dabei wird zunächst das Kind als Person beschrieben, anschließend folgt eine Betrachtung der Situation in der Familie, der Spracherziehungsmethoden, des sozialen Umfelds und der bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Im darauf folgenden Punkt beschreibe ich vier Konzepte des Zweitspracherwerbs, den gesteuerten und ungesteuerten Zweitspracherwerb, den simultanen und sukzessiven Zweitspracherwerb, den additiven und subtraktiven Zweitspracherwerb und die doppelte Halbsprachigkeit bzw. den Semilingualismus. Das Kapitel schließt mit den Theorien zum Erwerb von Zweisprachigkeit, der Kontrastivhypothese, der Identitätshypothese, der Interlanguage-Hypothese und der Schwellen- und Interdependenz-Hypothese ab. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Chancen und Gefahren, die bei einer zweisprachigen Erziehung auftreten bzw. auftreten können. Hier gehe ich zunächst auf die Betrachtung der Zweisprachigkeit als Abweichung ein. Darauf folgen die Probleme der Stigmatisierung und die Bedeutung der Zweisprachigkeit für die Identitäts-entwicklung. Anschließend stelle ich die Problematik und die Möglichkeiten der Sprachstandsdiagnose, die Probleme und Chancen in der Sprache und in der Bildungspolitik dar. Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Einzeldarstellung eines Mädchens mit russischer Muttersprache, welches ich im Rahmen meiner Examensarbeit beobachten konnte. Am Ende dieser Arbeit werde ich in der Schlussbetrachtung kurz die wichtigsten Aspekte zusammen-fassend bewerten.
2 Wie Kinder sprechen lernen – Erstspracherwerb
2.1 Erklärungsversuche aus der Spracherwerbsforschung
Es existieren verschiedene Theorien zum Spracherwerb, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen zuzuordnen sind. Sie können Pädagogen als Hilfe dienen, die Phänomene im Alltag zu erklären und bieten eine Möglichkeit, über das eigene praktische Handeln nachzudenken (vgl. Günther/Günther, 2004, 46).
Im Folgenden werde ich auf vier Theorien näher eingehen und ihre Sichtweisen zur Sprachentwicklung darstellen.
2.1.1 Behaviorismus
Der Behaviorismus stellt einen lerntheoretischen Ansatz dar. Der Grundgedanke ist, dass das Kind die menschliche Sprache auf die gleiche Weise wie alle anderen Verhaltensweisen lernt. Folglich sieht der Behaviorismus die Sprache „... als eine besondere Form des menschlichen Verhaltens ...“ (Günther/Günther, 2004, 47) an. Skinner weist darauf hin, dass die Sprache und das Sprechen der Erwachsenen von den Kindern imitiert werden, wenn die Sprache erfolgreich ist und sie eine positive Reaktion erhalten. Er vertritt die These, dass das Kind die Sprache passiv über die Außenwelt erwirbt, indem es zum Sprechen gebracht wird, es entwickelt lediglich Verhaltensgewohnheiten. Grammatikregeln bzw. Strategien existieren nach Skinner nicht. Aus der Sicht des Behaviorismus besteht für Eltern und Pädagogen die Möglichkeit, das Kind bei der Entwicklung der Sprache zu unterstützen und zu fördern (vgl. Günther/Günther, 2004, 47f.).
2.1.2 Nativismus
Der Nativismus sieht Sprache als eine humanspezifische Fähigkeit an, die angeboren und damit genetisch größtenteils bestimmt ist. Nach Chomsky (1959) findet der Spracherwerb als Reifungsprozess und nicht durch Lernen statt. Das Hauptaugenmerk des nativistischen Ansatzes liegt auf der Sprachstruktur. Er betont, dass „… Sprache eine hierarchische Struktur besitzt, … eine Oberflächen- und Tiefenstruktur aufweist und eine eigene Dynamik und Kreativität in sich trägt“ (Günther/Günther, 2004, 48). Chomsky weist in Bezug auf die Kreativität darauf hin, dass „… jedes sprechende Individuum fähig ist, eine unendliche Anzahl von Sätzen zu produzieren und zu verstehen“ (Günther/Günther, 2004, 48). Er schenkt der sprechenden Umwelt des Kindes wenig Aufmerksamkeit. Seiner Meinung nach wäre es nicht dazu in der Lage, sprachliche Kompetenzen zu entwickeln, wenn es „… ausschließlich auf die unvollständigen und fehlerhaften Äußerungen seiner direkten und indirekten Bezugspersonen angewiesen …“ (Günther/Günther, 2004, 48) wäre. Dem Kind, das als ein spezialisiertes Wesen gesehen wird, wird aus der Sicht der Nativisten ein Sprachprogramm vorgegeben, das die Sprache verarbeitet und annimmt (vgl. Günther/Günther, 2004, 48).
2.1.3 Kognitivismus
Der Kognitivismus sieht das Kind als „… ein konstruktiv vorgehendes, intelligentes Wesen“ (Günther/Günther, 2004, 49). Der Kerngedanke dieses Ansatzes, der unter anderem von Piaget vertreten wird, besagt, dass die Sprache das Denken und das Denken die Sprache strukturiert. Die Entwicklung der Sprache ist in die kognitive Entwicklung eingebunden. Indem sich das Kind mit seiner Umwelt auseinandersetzt, erwirbt es die Sprache. Es wird angenommen, dass sich „… die kognitive Entwicklung des Kindes … im Spracherwerbsprozess niederschlägt, ja sogar widerspiegelt“ (Günther/ Günther, 2004, 49). Piaget weist auf die gegenseitige Beeinflussung von Sprache und Denken hin. Die Sprache steuert die Handlungen des Kindes, gleichzeitig werden mit dem Spracherwerb kognitive Strukturen auf- bzw. ausgebaut. Die sensomotorische Entwicklung, die sich auf die Wahrnehmung und Bewegung bezieht, dient als Basis und hat die Sprache zur Folge. Aufgabe der Pädagogen ist es daher, die sensomotorische Entwicklung mittels eines „Lernens mit allen Sinnen“ zu fördern (vgl. Günther/Günther, 2004, 49f.).
2.1.4 Interaktionismus
Dieser Ansatz vertritt den Grundgedanken, dass die Sprache „… über Interaktionen und Wechselbeziehungen erworben“ (Günther/Günther, 2004, 49) wird. Der Interaktionismus nimmt einerseits an, dass es sprachliche Strukturen, Regeln und Strategien gibt. Auf der anderen Seite geht er davon aus, dass zwischen dem Kind und seinem Umfeld eine enge und dynamisch-aktive Wechselbeziehung vorhanden ist, durch die der Spracherwerb zustande kommt. Der Interaktionist Bruner vertritt die Ansicht, dass der Spracherwerb bereits einsetzt, wenn der Säugling vorsprachlich durch Schreien, Lautäußerungen, Mimik und Gestik mit seiner Mutter, die sich ihm zuwendet, kommuniziert. Die Mutter gibt ihm dabei sprachliche Äußerungen vor und nimmt so die Rolle einer Sprachlehrerin ein. Das Kind lernt auf diese Weise „… über seine primären Bezugspersonen, sprachliche Äußerungen unter Einbeziehung ihres situativen und sozialen Kontextes zu produzieren und zu verstehen“ (Günther/Günther, 2004, 49). Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Sprachentwicklung und der Kommunikation, die von dem Kind und den primären Bezugspersonen, meist Mutter und Vater, emotional motiviert und intentional gesteuert wird. Diese stimmen die sprachlichen Äußerungen auf die Bedürfnisse und Fertigkeiten des Kindes ab, damit es die Sprache leichter versteht und sie sich aneignet. Studien haben erwiesen, dass die Sprache und die Begriffsbedeutungen zwischen den am Spracherwerb Beteiligten ausgehandelt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass Kinder eine vereinfachte Sprache oder Kleinkinder die Sprache der Mutter bevorzugen. Der Sprache kommt außerdem die Aufgabe zu, soziale Beziehungen zwischen den Beteiligten herzustellen. Aus dieser Sichtweise ist eine Förderung des Spracherwerbs dann effektiv, wenn die Pädagogen den Kindern Sprech-Handlungs-Situationen ermöglichen, die in ein breit gefächertes und vielseitiges Interaktionsfeld eingebettet sind (vgl. Günther/Günther, 2004, 49f.).
Betrachtet man die hier vorgestellten Erklärungsversuche des Erstspracherwerbs, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass keiner der vier Ansätze allein eine zufrieden stellende Erklärung abgibt, da sie nur auf einzelne Aspekte Bezug nehmen. Sprache setzt sich jedoch aus mehreren Faktoren und Bereichen zusammen, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Daher ist es wichtig, die verschiedenen Erklärungsversuche bei der Betrachtung des Spracherwerbs integrativ zu sehen.
2.2 Bedingungen für einen erfolgreichen Erstspracherwerb
Der Spracherwerb ist von verschiedenen Bedingungen, die sich auf das Kind selbst, aber auch auf die Einflüsse der Umwelt beziehen, abhängig (vgl. Günther/Günther, 2004, 50). Ich möchte in den folgenden Abschnitten auf die einzelnen Bedingungsfaktoren, die für eine erfolgreiche Entwicklung der menschlichen Sprache notwendig sind, Bezug nehmen und sie näher beschreiben.
2.2.1 Sensomotorische Entwicklung
2.2.1.1 Hörvermögen
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Spracherwerb ist ein intaktes Hörvermögen, welches bereits im Mutterleib ausgebildet wird.
Es wird zwischen dem peripheren und dem zentralen Hören unterschieden.
Das periphere Hören, auch äußeres Hören genannt, bezieht sich auf das äußere Hörorgan, das menschliche Ohr. Ihm kommt die Aufgabe zu, die gehörten Signale aufzunehmen und weiterzuleiten. Ab dem siebten Lebensmonat nimmt das Hören eine besonders wichtige Rolle ein, da die Lautwahrnehmung Anregungen für die weitere Sprachentwicklung liefert.
Unter zentralem Hören, synonym für inneres Hören, versteht man die auditive Wahrnehmung von Sprachlauten, d.h. die gehörten Signale werden im Gehirn gespeichert, verarbeitet, identifiziert und interpretiert. Dem zentralen Hören werden vier Funktionen zugeschrieben: die Lautdiskrimination, d.h. die Unterscheidung von Lauten, die Lautsequenz, d.h. die Reihenfolge der Laute, die Lautanalyse, d.h. das Heraushören eines Lautes und die Lautsynthese, d.h. das Zusammensetzen von Lauten und Silben zu Wörtern (vgl. Günther/Günther, 2004, 50 und Wendlandt, 1998, 10).
2.2.1.2 Sehvermögen
Die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit stellt eine grundlegende Voraussetzung für einen erfolgreichen Spracherwerb dar. Die Kinder beobachten und entdecken ihre Umgebung und schauen sich bei den Erwachsenen die Mundbilder bzw. Lippenstellung ab. Wendlandt erwähnt, dass viele blinde Kinder aufgrund ihrer eingeschränkten visuellen Wahrnehmung Verzögerungen in ihrer Sprachentwicklung und einen eingeschränkten Wortschatz aufweisen (vgl. Wendlandt, 1998, 11).
2.2.1.3 Tastsinn
Neben der visuellen und auditiven Wahrnehmung spielt auch der Tastsinn, d.h. die Wahrnehmung über die Haut, eine Rolle bei der Sprachentwicklung. Über ihn kann das Kind, vor allem mit Hilfe der Lippen, beispielsweise unterscheiden, ob es ein [p] oder ein [b] spricht. Der Tastsinn ermöglicht uns unter anderem das Empfinden von Bewegungen. Er stellt einen wesentlichen Wahrnehmungskanal für das Sprachenlernen dar, da auf seiner Grundlage die Bewegungsrichtung und Lage bestimmter Körperteile wahrgenommen und verändert werden können (vgl. Wendlandt, 1998, 11f.).
2.2.1.4 Sprechwerkzeuge
Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache stellen die Sprechwerkzeuge dar. Zunächst einmal sind sie lebensnotwendig, da sie das Saugen, Kauen und Schlucken ermöglichen. Sie dienen jedoch auch der Atmung, Stimmgebung und Lautbildung. Die Organe, die für die Lautbildung zuständig sind, setzen sich aus beweglichen und unbeweglichen Teilen zusammen. Ein Beispiel hierfür wären die Lippen als beweglicher und die Zähne als unbeweglicher Teil. Zu den für das Sprechen eigentlichen Sprechorganen zählen die Lippen, der Unterkiefer, der harte und der weiche Gaumen und die Zunge. Weisen Sprechwerkzeuge einen organischen Defekt, beispielsweise einen Überbiss, auf, so können Schwierigkeiten bei der Bildung bestimmter Laute, z.B. der Zischlaute wie [z] in „Suse“, auftreten (vgl. Günther/Günther, 2004, 51).
2.2.2 Hirnreifung
Das menschliche Gehirn ist die Grundlage jeglicher, vom Menschen erbrachter Leistungen und steht in wechselseitiger Beziehung zu sprachlichen Funktionen. Wird es nach seinen Funktionen gegliedert, unterscheidet man zwischen der Ur- oder Stammhirnregion, deren Zuständigkeitsbereich die menschlichen Instinkte betrifft, dem Mittel- oder Zwischenhirn, welches spontane Gefühle, z.B. Ärger, hervorruft und dem Großhirn, bestehend aus den zwei Hirnhälften, das sich auf spezielle Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten wie beispielsweise das Lesen, Sprechen, Hören und Schreiben bezieht. Die beiden Hirnhälften sind jeweils für die gegenüberliegende Körperhälfte zuständig, so dass die Koordination und Steuerung der linken Körperhälfte über die rechte Hirnhälfte geschieht. Bezüglich der beiden Hirnhälften ist anzumerken, dass eine Lateralisierung stattfindet, d.h. sie spezialisieren sich während der menschlichen Entwicklung funktional. Bestimmte Bereiche im Großhirn entwickeln sich in Bezug auf Qualität und Quantität weiter und nehmen zum Schluss nur noch ganz bestimmte Reize wahr, die sie speichern und verarbeiten.
Die Entwicklung der Erstsprache verläuft parallel zur Hirnreifung. Der Spracherwerb liefert dabei einen wichtigen Beitrag zur Veränderung des Gehirns, die sich bis zum Alter von etwa vier Jahren vollzieht. Im Laufe der kindlichen Entwicklung stellt sich die linke Hirnhälfte ab dem dritten bzw. vierten Lebensjahr als die dominantere heraus. „Bei allen Rechtshändern ist die linke Hirnhälfte im Wesentlichen für die Produktion und das Verstehen von Sprache, für das Lesen und Schreiben zuständig“ (Günther/Günther, 2004, 55). Interessanterweise kann bei Linkshändern keine eindeutige Hirndominanz festgestellt werden.
Das Gehirn bietet dem Menschen die Möglichkeit, mehrere Sprachen zu lernen. Wird eine Zweitsprache erlernt, stellt sich die rechte Hirnhälfte, die für das Verarbeiten von Melodien und das Erkennen und Interpretieren von Gefühlen zuständig ist, als die dominantere heraus. Je später der Mensch eine Fremdsprache erwirbt, umso ausgeprägter ist die Dominanz der rechten Hirnhälfte bei der Verarbeitung. Je mehr Kompetenzen jedoch in der Fremdsprache erworben werden, desto mehr geht die Dominanz der rechten Hirnhälfte auf die linke über.
Ergänzend kann gesagt werden, dass die Sprachverarbeitung im Gehirn von weiteren Bedingungen wie beispielsweise der individuellen Lernsituation abhängig ist (vgl. Günther/Günther, 2004, 51ff.).
2.2.3 Motivation
Von Geburt an ist bei Kindern das Interesse an Sprache vorhanden. Indem die Erwachsenen viel Zeit mit ihnen verbringen, sich ihnen zuwenden und sich mit ihnen beschäftigen, erleben die Kinder Sprache als etwas Persönliches und Emotionales, das ihnen die Teilnahme an der Welt ermöglicht. Je nach der Art der zwischenmenschlichen bzw. sprachlichen Interaktion, entwickelt das Kind eine negative oder positive Grundhaltung gegenüber seinen Mitmenschen und erkennt, ob diese es ablehnen oder annehmen. Kinder, die von ihren Eltern den fantasievollen und kreativen Umgang mit Sprache gelernt haben, eignen sich Sprache spielerisch und von alleine an. Wichtig ist, dass es ihnen Spaß macht, mit ihren Mitmenschen zu sprechen. Günther/Günther betonen in ihrem Buch „Erstsprache und Zweitsprache“ darauf hin, dass bei Kindern, die sprachauffällig sind, nicht zu früh und zu intensiv auf die Probleme in der Sprache hingewiesen werden soll. Dies könnte sonst Sprachhemmungen und Sprechängste zur Folge haben, die ein Zurückziehen aus Gesprächen und schließlich eine Sprachverweigerung nach sich ziehen (vgl. Günther/Günther, 2004, 55f. und Wendlandt, 1998, 12f.).
2.2.4 Familiäre Lebensbedingungen
Unterschiedliche Umwelteinflüsse wirken sich auf die kindliche Entwicklung und die Entwicklung des Gehirns aus. Beispiele für Umwelteinflüsse, die eine positive Wirkung nach sich ziehen, sind eine „… geordnete Familienstruktur, Zeit für das Kind, ausreichend Schlaf, die richtige Ernährung, der wohl dosierte Medienkonsum und vielfältige soziale Anregungen in der Gruppe“ (Günther/Günther, 2004, 56). Auch die Sprachentwicklung sowie die Entwicklung einer eigenen Identität werden von Faktoren wie dem unmittelbaren Lebensraum des Kindes, dem sozialen Umfeld, der Gesellschaft und der Kultur der Sprachgemeinschaft beeinflusst. Die Entwicklung der Kinder verläuft positiv, wenn ihnen Sprachräume geboten werden, in denen sie sich wohl fühlen und in denen sie verstanden werden. Das Kind lernt dann gut sprechen, wenn ihm das Sprechen Spaß macht und ihm seine Umgebung kommunikativ entgegentritt. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur die Lautsprache, sondern auch die Körpersprache, unter anderem Mimik und Gestik, eine Rolle spielen (vgl. Günther/Günther, 2004, 56f.).
2.3 Entwicklungsphasen des Erstspracherwerbs
Der Spracherwerb vollzieht sich in mehreren ineinander übergehenden Phasen. Die Kinder sind umso offener für Sprachen, je mehr Erfahrungen sie machen konnten (vgl. Montanari, 2003, 65). Dies geschieht, indem sie sich mit ihrer sozialen und dinglichen Umwelt auseinandersetzen (vgl. Gogolin, 1987, 26). Im Folgenden werde ich die groben Entwicklungsschritte, in denen sich der Spracherwerb vollzieht, darlegen.
Der Erwerb der Sprache beginnt nicht erst mit den ersten produktiven Wortäußerungen (vgl. Grimm/Weinert, 2002, 521). Bereits im Mutterleib gebraucht der Säugling Lippen, Zunge und Gaumen. Auch das Gehör wird vorgeburtlich entwickelt, indem das Kind auf den Herzschlag der Mutter und auf Geräusche außerhalb des Mutterleibs hört (vgl. Günther/Günther, 2004, 57).
Unmittelbar nach der Geburt können Babys die menschliche Sprache erkennen und sie von anderen Lauten unterscheiden (vgl. Grimm/Weinert, 2002, 521). Das Kind äußert sich zu diesem Zeitpunkt durch Schreien als erste Form der Sprache, um seine Bedürfnisse auszudrücken. Schon jetzt findet eine erste Entwicklung statt, da sich aus einem groben Schreien immer mehr ein differenziertes Schreien herausbildet. Es werden fortwährend mehr Informationen über den Schrei vermittelt. Das Baby schreit in unterschiedlichen Tonlagen und drückt so seine Gefühle und Wünsche aus, die meistens nur die engsten Bezugspersonen wie die Mutter oder der Vater verstehen. Diese Schreiphase vollzieht sich im ersten Lebensmonat des Kindes (vgl. Günther/Günther, 2004, 57f.).
Im Alter von zwei und drei Monaten schließt sich die so genannte Lallphase an, in der sich die ersten kommunikativen Absichten zeigen. Das Kind beginnt, die Stimmbänder und die Zunge zu trainieren und produziert die ersten Laute, die von ihm immer wieder durch Experimentieren mit der Zunge wiederholt werden. Das Lallen ist für die Sprachentwicklung wichtig. Auf diese Weise werden Lautverbindungen eingeübt und die Freude an der einsetzenden Sprache gefördert. Hört ein Kind abrupt auf zu lallen, sollte das Gehör überprüft werden, da bei einer bestehenden Hörbeeinträchtigung die Sprachentwicklung behindert ist. Günther/Günther weisen zudem daraufhin, dass das Kind in dieser Phase gerne quietscht und lacht (vgl. Montanari, 2003, 65f. und Günther/Günther, 2004, 58).
Ab dem vierten bis zum siebten Lebensmonat kommt eine Echophase hinzu. Das Kind wiederholt immer wieder die eigenen Lautproduktionen und versucht, die Wörter und Sätze der Mutter, auf die es jetzt bewusst achtet, zu reproduzieren (vgl. Günther/Günther, 2004, 58). Diesbezüglich ist es meiner Meinung nach interessant zu erwähnen, dass Kinder, die sich im Spracherwerb befinden, bereits zwischen dem sechsten und dem zwölften Monat die Laute in ihrer Umgebungssprache unterscheiden können und daher weniger auf Laute anderer Sprachen reagieren (vgl. Montanari, 2003, 66).
In einem nächsten Entwicklungsschritt, der sich vom achten bis zum zwölften Lebensmonat vollzieht, wird dem Kind mehr und mehr klar, dass Wörter Bezeichnungen für Gegenstände und Handlungen sind. Es erkennt den Sinn, der hinter den Worten steckt. Dabei spielen auch Mimik, Gestik und Tonfall der Person, die mit ihm spricht, eine Rolle. Das Kind kann bereits jetzt mittels Gesten mit den Eltern kommunizieren. So schaut es beispielsweise abwechselnd einen Gegenstand und die Mutter an, um zu verdeutlichen, dass die Mutter ihm diesen Gegenstand bringen soll. Wichtig ist, dass dem Kind von Seiten der Eltern „… vielseitige und komplexe sprachliche Muster …“ (Günther/Günther, 2004, 58) so oft und so früh wie möglich in einer gemeinsamen Interaktion angeboten werden. Bestimmte Dinge oder Handlungen entwickeln für es Signalcharakter und werden von ihm gedeutet und verstanden. Sagt die Mutter für einen bestimmten Gegenstand, z.B. den Ball, das entsprechende Wort „Ball“, stellt „Ball“ für das Kind mit der Zeit ein Signal dar. Es beginnt, gezielt auf den Gegenstand, in diesem Fall den Ball, zu zeigen und verdeutlicht der Mutter so, dass es sie verstanden hat.
Im Alter von etwa einem Jahr ist das Kind in der Lage, bestimmten Gegenständen und Personen Lautkombinationen bzw. Wörter zuzuordnen. Es erkennt, dass jedem Gegenstand ein Name entspricht und entwickelt ein Symbolbewusstsein, welches eng mit dem Sprachverstehen zusammenhängt (vgl. Günther/Günther, 2004, 58f. und Grimm/Weinert, 2002, 536).
Im Alter von etwa einem Jahr sind die Kinder in der Lage, sprachlichen Äußerungen zuzuhören und mehrere Wörter zu verstehen. Sie können ihre Lippen und ihre Zunge zunehmend besser bewegen und ihren Mund schließen, so dass ihnen mehr und mehr Lautvariationen möglich sind. Das Kind bildet die ersten eigenen Worte, die als Einwortsätze gedeutet werden können. So kann das Wort „Mama“ unterschiedliche Gefühle oder Bedürfnisse des Kindes ausdrücken, es kann z.B. bedeuten „Mama, komm her zu mir “ oder „Mama, ich habe Hunger“. Die Bedeutung dieser Einwortsätze wird den Bezugspersonen durch den Stimmklang, die Situation und die Gestik des Kindes klar.
Im Alter von ungefähr 18 Monaten hat es sich einen aktiven Wortschatz von etwa 50, hauptsächlich sozialen und spezifischen, kontextgebundenen Wörtern angeeignet. Hat ein Kind im Alter von 24 Monaten noch keine 50 Wörter erlernt, besteht die Gefahr, dass die Sprachentwicklung und als Folge die kognitive und psychosoziale Entwicklung gestört sind (vgl. Montanari, 2000, 59f.; Günther/Günther, 2004, 59; Grimm/Weinert, 2002, 525 und Montanari, 2003, 67). Grimm/Weinert weisen darauf hin, dass der Wortschatzerwerb ab der so genannten „50-Wörter-Marke“ sehr viel schneller voranschreitet als bisher, so dass der aktive Wortschatz bereits wenige Monate später um die 200 Wörter beinhaltet. Von nun an werden hauptsächlich die Wörter gelernt, die die von den Kindern gesehenen Objekte bezeichnen. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass es in diesem Zeitraum stellenweise zu einer ungenaueren Aussprache einiger Wörter kommt, was jedoch als Fortschritt zu deuten wäre. Die Kinder versuchen so, diese nicht wie zuvor einzeln auszusprechen, sondern sie „… in ein phonologisches System [zu, Hinzufügung der Verfasserin] integrieren, mit dessen Induktion sie auf der Basis ihres erweiterten Wortschatzes begonnen haben“ (Grimm/Weinert, 2002, 525). Grimm/Weinert geben als einen weiteren Grund die kindliche, begrenzte Aufmerksamkeitsspanne an. Diese führt dazu, dass grammatische Regeln zu Beginn nur beachtet werden können, wenn sie auf Kosten der phonologischen Details gehen. Als Folge können daher Aussprachefehler auftreten, die jedoch bis zum Ende der Vorschulzeit wieder verschwinden. Die Autoren nennen diesbezüglich das Wiederholen von Silben, z.B. „Baba“ statt „Baby“, das Auslassen unbetonter Silben, beispielsweise „Aff“ statt „Affe“, die Reduzierung der Konsonantencluster, z.B. „Bunnen“ statt „Brunnen“ und eine vor- bzw. rückwärts gerichtete Assimilation, beispielsweise „pop“ statt „pot“ bzw. „top“ (vgl. Grimm/Weinert, 2002, 525f.).
In der folgenden Entwicklungsphase, die sich zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr vollzieht, zeigt sich bei dem Kind die Absicht bzw. der Wille zur Kommunikation. Es bildet seine ersten unvollständigen Mehrwortsätze bestehend aus zwei bis drei Wörtern. Dabei lässt es bestimmte Satzelemente, in der Regel Artikel, Hilfsverben, Ableitungs- und Flexionsmorpheme und Funktionswörter, z.B. Konjunktionen und Präpositionen, aus. Grimm/Weinert weisen in ihrem Aufsatz „Sprachentwicklung“ darauf hin, dass sich das Kind schon jetzt sprachlich auf Vergangenes beziehen kann. Wie bei den vorangegangenen Einwortsätzen können seine sprachlichen Äußerungen mehrere Bedeutungen haben. Auch hier müssen in Abhängigkeit zum Kontext Mimik, Gestik, Blickkontakt, Stimmklang, Tonhöhe und Lautstärke beachtet werden, um die Bedeutung der kindlichen Äußerung herauszuhören. Mit Eintritt in den Kindergarten, d.h. mit Erreichen des dritten Lebensjahres, sollten die Kinder laut Günther/Günther fähig sein, Bilder zu benennen und sich in Mehrwortsätzen auszudrücken. Sie sind bis zu diesem Zeitpunkt in der Lage, sich selbst mit dem Wort „ich“ zu bezeichnen. Die Kinder lernen zunehmend mehr Grammatikstrukturen und Wörter. Mit etwa drei Jahren haben sie sich einen Wortschatz aus 800 bis 1000 Wörtern aufgebaut (vgl. Montanari, 2000, 60.; Grimm/Weinert, 2002, 532; Günther/Günther, 2004, 59 und Montanari, 2003, 67).
In einem Alter von drei bis vier Jahren bildet sich die Kommunikationsfähigkeit bzw. die Fähigkeit, Dialoge zu führen, heraus. Dies geschieht durch Spiele wie beispielsweise das Rollenspiel und den Umgang mit Erwachsenen. Die Kinder sind in der Lage, ihre Gespräche an das Alter und den Status ihres Gegenübers anzupassen. Außerdem gewinnen die Dialoge zunehmend mehr soziale Qualität, insofern darin z.B. Formen des Zusammenspiels geklärt werden. Das Kind erkennt immer mehr grammatische Strukturen und erweitert seinen Wortschatz. Es ist in der Lage, zunehmend mehr Sätze grammatikalisch korrekt zu bilden und seine Eindrücke und Erlebnisse darin mitzuteilen. Günther/Günther machen darauf aufmerksam, dass die Erzählungen der Kinder „… wiederholt und immer weiter sprachlich ausgeformt“ (Günther/Günther, 2004, 60) werden. Indem der Zuhörer dem Kind zeigt, dass er an dessen Äußerungen interessiert ist, kommt es zu einer Zunahme seiner Erzählausdauer (vgl. Günther/Günther, 2004, 59f. und Grimm/Weinert, 2002, 536). Am Ende dieser Entwicklungsphase, wenn das Kind also etwa vier Jahre alt ist, beherrscht es die hauptsächlichen Satzkonstruktionen seiner Muttersprache (vgl. Grimm/Weinert, 2002, 533).
Der darauf folgende Entwicklungsschritt findet im Alter von etwa fünf Jahren statt. Das Kind spricht nun alle Laute und ist in der Lage, sich mit seinen Mitmenschen zu unterhalten. Zusätzlich wird es in der Formulierung seiner Aussagen durch den Kontakt zu Gleichaltrigen und Erwachsenen immer sicherer. Günther/Günther betonen die Wichtigkeit, dem Kind Fehler zuzugestehen und den „… Drang zur sprachlichen Perfektionierung nicht zu intensiv und dominant …“ (Günther/Günther, 2004, 60) werden zu lassen. So sollten Erzieher z.B. ein Wort, das vom Kind falsch ausgesprochen wurde, nicht ständig in der Hoffnung wiederholen lassen, dass der Fehler behoben wird. Nach dem fünften Lebensjahr erwirbt das Kind die metalinguistische Fähigkeit, die ihm erlaubt, über Sprache als Gegenstand bewusst nachzudenken (vgl. Grimm/Weinert, 2002, 534 und Günther/Günther, 2004, 60).
Im Alter von sechs bis sieben Jahren bildet sich bei dem Kind ein eigener, individueller Sprachstil und ein eigener Sprachcode heraus. Dies kann sich darin bemerkbar machen, dass es „… reinen Dialekt, eine Dialekt gefärbte Umgangssprache oder die standardisierte und angestrebte Zielsprache …“ (Günther/Günther, 2004, 60) spricht. Es orientiert sich hinsichtlich der Entwicklung seines Sprachstils an konkreten Situationen und Personen oder an einer „… eher kognitiven, intellektuellen und abstrakten Ebene …“ (Günther/Günther, 2004, 60). Anhand des Sprachcodes kann festgestellt werden, auf welche Art und Weise das Kind die Sprache gebraucht. Bernstein (1971) unterscheidet zwischen einem elaborierten Code, den er der Mittel- und Oberschicht zuordnet, und einem restringierten Code, der für die Mitglieder der Unterschicht charakteristisch und dem elaborierten Code unterlegen ist. Der elaborierte Code ist gekennzeichnet durch einen individuellen, differenzierten Sprachgebrauch, während der restringierte Code eine gemeinschaftliche Symbolik widerspiegelt, wobei die sprachlichen Möglichkeiten reduziert sind (vgl. Günther/Günther, 2004, 60; Belke, 2003, 27 und Mertens, 1996, 16). Die Art und Weise, wie das Kind Sprache gebraucht, steht im engen Zusammenhang mit seiner kognitiven Entwicklung. Indem der individuelle Sprachstil genauer betrachtet wird, erfährt man etwas über das Weltwissen der Kinder. Günther/Günther machen darauf aufmerksam, dass sich das Sprechen als Teil einer sozialen Rollenübernahme in Familie und Vorschule entwickelt und das Kind so die Rolle eines individuellen Sprechers und Hörers einnimmt. In dieser letzten, grundlegenden Entwicklungsphase der Sprache ist es nun in der Lage, den sprachlichen Äußerungen seines Gesprächspartners zuzuhören, mit ihm in Blickkontakt zu treten, bei Verstehensproblemen nachzufragen und sich ihm gegenüber höflich auszudrücken (vgl. Günther/Günther, 2004, 60f.).
Die in diesem Kapitel beschriebenen Sprachentwicklungsphasen lassen sich bei jedem Kind in der hier angegebenen Reihenfolge beobachten. Es ist meiner Meinung nach jedoch wichtig zu erwähnen, dass sich die Kinder Sprache in unterschiedlichen Zeitrahmen aneignen, mit anderen Worten: Manche Kinder sprechen die ersten Worte früher als andere. Als Vergleich nennt Montanari die unterschiedlichen Interessen, die Kinder mit sich bringen. Beispielsweise interessieren sich manche eher für das Laufen als für das Sprechen, mit dem sie sich mehr Zeit lassen. Eltern, Erzieher oder Pädagogen sollten daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die Abweichungen in der sprachlichen Entwicklung bedeuten nicht, dass das Kind weniger intelligent oder sprachbegabt ist (vgl. Montanari, 2003, 68).
Weiterhin ist zu beachten, dass die Entwicklung der Sprache nicht mit den hier beschriebenen Phasen abgeschlossen ist. Sie stellen lediglich die wichtigsten und grundlegenden Schritte des Spracherwerbs dar, der sich bis zum Schuleintritt, also bis zu einem Alter von sechs bzw. sieben Jahren, vollzieht. Im Laufe des gesamten Lebens eines Menschen wird der Wortschatz immer wieder erweitert und Satzkonstruktionen werden differenziert (vgl. Günther/Günther, 2004, 61).
3 Zweisprachigkeit und Zweitspracherwerb
3.1 Definitionen
In den folgenden Abschnitten möchte ich einige grundlegende Begriffe, die in dieser Arbeit immer wieder erwähnt werden, erklären.
3.1.1 Erstsprache
Als Erstsprache wird die Sprache bezeichnet, die sich ein Mensch bei seinem ersten Spracherwerb im Kleinkindalter aneignet. Menschen, die mehrere Sprachen gleichzeitig während ihres ersten Spracherwerbs erlernen, nehmen eine Sonderrolle ein, da sie folglich mehrere Erstsprachen besitzen können (vgl. Montanari, 2000, 17 und Günther/Günther, 2004, 32).
3.1.2 Muttersprache
Mertens setzt den Begriff Muttersprache synonym für die Erstsprache ein (vgl. Mertens, 1996, 8). Günther/Günther weisen jedoch ausdrücklich darauf hin, dass diese Gleichsetzung falsch ist. Sie definieren Muttersprache als eine Sprache, die innerhalb des primären Spracherwerbs erlernt wird und so von frühester Kindheit an gesprochen wird. Weiterhin erklären sie, dass die Muttersprache die Sprache ist, die von der Mutter gesprochen und vom Kind auf natürliche Art gelernt wird. Um den Unterschied zwischen Erst- und Muttersprache zu verdeutlichen, verweisen die Autoren auf Mütter, die ihr Kind in der Zweitsprache erziehen (vgl. Günther/Günther, 2004, 32f.). Wenn eine deutsche Mutter beispielsweise ihr Kind in der Zweitsprache Englisch erzieht, so ist Deutsch die Erstsprache des Kindes, Englisch jedoch die Muttersprache. Auch Kiehlhöfer/Jonekeit stimmen dem mit Blick auf die Zweisprachigkeit zu und definieren Muttersprache als „… die Sprache, die das Kind mit der Mutter spricht …“ (Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 18). Ist ein Mensch aber einsprachig, so setzen sie, ebenso wie Mertens, die Muttersprache mit der Erstsprache gleich. Die Autoren gehen so weit, dass sie die „Vatersprache“ als „… Sprache …, die das Kind mit dem Vater spricht“ (Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 18) hinzufügen (vgl. Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 18). Sowohl Kiehlhöfer/Jonekeit als auch Montanari erwähnen, dass die Muttersprache die Sprache ist, mit der ein Mensch seine Emotionen verbindet und in der er sich wohl fühlt. Kiehlhöfer/Jonekeit weisen daraufhin, dass Zweisprachige demnach zwei Muttersprachen besitzen, da sie ihre Gefühle in beiden Sprachen ausdrücken (vgl. Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 19 und Montanari, 2000, 17).
Im weiteren Verlauf meiner Examensarbeit verwende ich den Begriff „Muttersprache“ im Sinne von Mertens als Synonym für die Erstsprache.
3.1.3 Zweisprachigkeit
In der Fachliteratur existieren viele, zum Teil sehr unterschiedliche Definitionen zur Zweisprachigkeit, auch Bilingualismus genannt. Mertens zählt diesbezüglich vier Beispiele auf, die ich hier kurz erwähnen möchte. Für Bloomfield (1984) ist ein Mensch zweisprachig, wenn er seine Erstsprache und die Zweit- bzw. Fremdsprache perfekt anwendet. Weinreich (1953) legt keinen Grad des Sprachkönnens fest. Für ihn ist Zweisprachigkeit vorhanden, wenn ein Mensch zwei Sprachen abwechselnd einsetzt. Mackey (1970) legt seinen Schwerpunkt auf den funktionalen Aspekt von Sprache. Für Wiss (1987) stellt Zweisprachigkeit ein Oberbegriff dar, der sich auf mehrere Situationen und Fertigkeiten in mehreren Sprachen bezieht. Für Mertens, die auf Weinreich zurückgreift, und Kiehlhöfer/Jonekeit ist Mehrsprachigkeit „… der abwechselnde Gebrauch mehrerer Sprachen …“ (vgl. Mertens, 1996, 7f. und Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 11). Kracht ist der gleichen Ansicht wie Mertens und beschreibt Zweisprachigkeit als den Gebrauch und Erwerb mindestens zweier Sprachen (vgl. Kracht, 2000, 15). Günther/Günther sehen jede Sprache, die nach der Erstsprache erworben wurde, als Zweitsprache an. Darunter fallen ihrer Meinung nach auch die Sprachen, die als so genannte „Alternativsprachen“ nur dem Überleben in einer neuen Kultur und Gesellschaft dienen. Hierunter fallen beispielsweise Migranten, die in ein fremdsprachiges Land geflüchtet sind. Der Zweitsprache kommt in der Gesellschaft vor allem die Aufgabe der „… kommunikativen Bewältigung von Alltagssituationen“ (Günther/Günther, 2004, 33) zu. Günther/Günther machen zudem darauf aufmerksam, dass Kinder auch dann zweisprachig sind, wenn sie einen Dialekt als weitere Sprache beherrschen (vgl. Günther/Günther, 2004, 33). Grosjean lässt ebenso wie Weinreich den Grad der Sprachbeherrschung außer Acht und befindet alle die Menschen für zweisprachig, die in ihrem Alltag zwei oder mehr Sprachen anwenden. Darunter zählt er ebenso wie Günther/Günther auch Dialekte. Wie gut und in welchen Bereichen, z.B. dem der Schrift, ein Mensch die Sprachen beherrscht, spielt für ihn keine Rolle. Er betont, dass ein perfekter Sprachgebrauch beider Sprachen sehr selten auftritt. Menschen, die in einer Sprache sprechen, lesen und schreiben und in der anderen lediglich sprechen können, sind für ihn ebenso zweisprachig wie diejenigen, die nur in der einen Sprache mündliche Kompetenzen und in der anderen nur schriftliche Kompetenzen aufweisen (vgl. Grosjean, 1996, 162).
3.1.4 Mehrsprachigkeit
Auch bei der Begriffsbestimmung der Mehrsprachigkeit, gibt es viele unterschiedliche Definitionen. Montanari verdeutlicht dies anhand zweier Beispiele, die sich stark voneinander abgrenzen. MacNamara (1969) sieht einen Menschen als mehrsprachig an, wenn er sich in mehr als einer Sprache sinnvoll äußern kann, folglich wäre eine große Zahl der Menschen mehrsprachig. Blocher (1982) hingegen nennt eine Person mehrsprachig, wenn sie mehrere Sprachen so gut wie die Muttersprache beherrscht. Nach dieser Definition gäbe es nur wenige Mehrsprachige. Montanari schreibt der Sprachbeherrschung nur eine geringe Rolle zu, wichtiger ist ihrer Meinung nach die Frage nach der Person an sich, z.B. ob sie sich in ihrem Alltag zurechtfindet oder ob sie sich in der zweiten Sprache wohl fühlt. Als einzige Bedingung stellt sie auf, dass das Kind in der Lage sein soll, sich sprachlich altersgemäß auszudrücken (vgl. Montanari, 2000, 17). Mertens sieht jeden Menschen als mehrsprachig an, der mehrere Sprachen abwechselnd gebraucht (vgl. Mertens, 1996, 8). Für Günther/Günther besteht Mehrsprachigkeit dann, wenn ein Mensch jeden Tag zwei bzw. mehrere Sprachen zur Kommunikation einsetzt, wobei der Wechsel zwischen den Sprachen problemlos verlaufen soll (vgl. Günther/Günther, 2004, 35).
3.2 Gruppen von Menschen mit fremder Muttersprache
Der sprachliche und kulturelle Wandel, den unsere Gesellschaft vor allem durch die grenzüberschreitende Migration nach dem zweiten Weltkrieg vollzogen hat, ist durch drei zentrale Hauptgruppen gekennzeichnet (vgl. Schader, 2004, 16f.). Bevor ich jedoch auf diese Gruppen näher eingehe, möchte ich einige Zahlen zur Bevölkerungssituation in Deutschland nennen. Gemessen an der Staatsangehörigkeit, erfasste Deutschland Ende 2001, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, 8,9 Prozent Ausländer. Die höchsten Werte erreichte Baden-Württemberg mit 12,2 Prozent. Rheinland-Pfalz stand mit 7,6 Prozent Ausländern an elfter Stelle. Diejenigen Menschen mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, dies betrifft hauptsächlich Aussiedler, wurden hierbei nicht beachtet (vgl. Gogolin/Neumann/Roth, 2003, 22f.).
3.2.1 Aussiedler
Etwa ein Drittel der Zuwanderer, die nach Deutschland kommen, sind Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen (vgl. Gogolin/Neumann/Roth, 2003, 22). Kracht bezeichnet sie als so genannte „Neubürger“ (Kracht, 2000, 63) mit deutschem Pass, denen alle staatsbürgerlichen Rechte zustehen. Hierzu werden auch die Migranten gezählt, die durch die Heirat mit einem bzw. einer Deutschen zum Zwecke der Familiengründung einwandern (vgl. Reich/Roth, 2002, 9). Ein Problem sieht Kracht in der Bewältigung des Lebens in Deutschland. Aussiedler sind zwar Deutsche, sie fühlen sich in unserem Land jedoch häufig fremd, da sie ihre Lebenserfahrungen im Falle einer Spätaussiedlung nicht in Deutschland sammeln konnten (vgl. Kracht, 2000, 63). In Kapitel fünf beschreibe ich meine Arbeit mit einem Mädchen, das im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern von Russland nach Deutschland übersiedelte und dieser Migrationsgruppe der Aussiedler zuzuordnen ist.
3.2.2 Gastarbeiter
Als nächste Gruppe sind die Gastarbeiter zu nennen. Der Ursprung dieser Zuwanderungsgruppe liegt in dem deutsch-italienischen Anwerbevertrag von 1955, der den zu dieser Zeit zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften decken sollte. Im Zuge der Einwanderung durch Gastarbeiter bildeten sich neue Minderheiten heraus. Kracht weist auf die Probleme der Gastarbeiter hinsichtlich des Erlangens deutscher Staatsbürgerrechte hin, da diese einerseits von der Herkunft und andererseits von dem Geburtsort abhängig sind. Daher kann eine längerfristige Lebensplanung in Deutschland kaum stattfinden (vgl. Kracht, 2000, 63ff.).
3.2.3 Asylbewerber
Eine weitere Migrationsgruppe stellen Flüchtlinge dar, die ihren Rechtsanspruch auf Asyl, der in der Asylrechtsformulierung von 1948/49 festgelegt wurde, geltend machen wollen. Kracht geht davon aus, dass in den letzten Jahrzehnten etwa die Hälfte der nach Westeuropa geflüchteten Asylbewerber nach Deutschland kamen. 1993 wurde das Asylrecht abgeändert und zum Asylkompromiss umbenannt. Auf dieser neu erstellten Grundlage haben nur noch die Menschen ein Recht auf Asyl, die nicht über einen Drittstaat, wie ihn jeder Nachbarstaat Deutschlands darstellt, einreisen. Dies hat zur Folge, dass nur noch die Möglichkeit besteht, mit dem Flugzeug, wenn es nicht in einem Drittstaat zwischenlandet, nach Deutschland zu kommen (vgl. Kracht, 2000, 65ff.). Zudem wurde einem Teil der Asylsuchenden nur eine Duldung ausgesprochen, obwohl sie oft mehrere Jahre in Deutschland leben, sodass eine längerfristige Lebensplanung nicht möglich ist (vgl. Gogolin/Neumann/Roth, 2003, 24).
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich kurz zu den Kindern, die von diesen Migrationshintergründen betroffen sind, Bezug nehmen. Im Schuljahr 2001/02 wurden in Deutschland in den Allgemeinbildenden Schulen 955 600 ausländische Schüler gezählt. Davon wiederum waren 414 595 Schüler, dies entspricht einem Anteil von 43,6 Prozent, türkischer und 150 472 Schüler mit einem Prozentsatz von 15,7 europäischer Herkunft (vgl. Gogolin/Neumann/Roth, 2003, 25).
Günther/Günther verweisen auf die Gruppeneinteilung ausländischer Kinder nach Schader (1976) und Apeltauer (1983). Diese nehmen jeweils eine Dreiteilung vor. Beide nennen übereinstimmend die beiden Gruppen „Vorschulkinder“ und „Kleinstkinder“. Unter Kleinstkindern werden diejenigen Kinder aufgezählt, die in Deutschland geboren werden oder im Alter von bis zu zwölf, bei Apeltauer bis zu 24 Monaten einreisen. Kennzeichnend für sie ist die vorwiegende Identifizierung mit deutschen, zum Teil aber auch familiären Wertvorstellungen, so dass sie eine Mischkultur entwickeln. Vorschulkinder sind die Kinder, die zwischen dem zweiten, bei Apeltauer dem dritten, und sechsten Lebensjahr nach Deutschland kommen. Hier liegt laut Schader das Problem, dass die Übernahme der kulturellen Werte in ihrer Heimat beginnt und mit der Einreise nach Deutschland unterbrochen wird, so dass sie weder die Kulturen der alten noch der neuen Heimat vollständig übernehmen können, sie bleiben in beiden Ländern Fremde. Bezüglich der dritten Gruppe unterscheiden sich Schader und Apeltauer. Schader nennt hier die Schulkinder, d.h. die Kinder, die nach Deutschland kommen, wenn sie sich im Schulalter befinden. Da sie aufgrund des Alters ihre Wertvorstellungen in ihrem Heimatland übernommen haben, identifizieren sie sich mit diesem und bleiben in Deutschland Ausländer. Apeltauer nennt als dritte Gruppe die Pendelkinder, die einmal oder mehrmals zwischen ihrem Heimatland, indem sie geboren wurden, und Deutschland als Aufnahmeland pendeln (vgl. Günther/Günther, 2004, 102f.).
Das Mädchen, mit dem ich gearbeitet habe, reiste erst mit vier Jahren nach Deutschland ein und gehörte der Gruppe der Vorschulkinder an.
3.3 Rahmenbedingungen des Zweitspracherwerbs
Die Bedingungen, unter denen Kinder eine zweite Sprache erlernen, sind sehr vielfältig. Sie spielen eine wichtige Rolle im Zweitspracherwerb und beeinflussen dessen Erfolg enorm. Die Situation eines jeden Mehrsprachigen ist einzigartig, einige erwerben die Zweitsprache unter günstigen und andere wiederum unter erschwerten Bedingungen (vgl. Montanari, 2003, 17). Hierzu ist anzumerken, dass viele Kinder keine andere Wahl haben, als eine Zweitsprache zu lernen, beispielsweise diejenigen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und auf die Zweitsprache Deutsch angewiesen sind, um mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren (vgl. Grosjean, 1996, 171).
In den folgenden Kapiteln möchte ich einige Bedingungen aufzählen, die für einen mehr oder weniger erfolgreichen Spracherwerb bedeutsam sind.
3.3.1 Das Kind als Person
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Individualität der Kinder eine wichtige Rolle im Spracherwerb spielt (vgl. Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 17). Wie bereits unter 2.2 erwähnt, bringen Kinder unterschiedliche Interessen und Fertigkeiten mit, die es zu beachten gilt. Sie sind von Geburt an an Sprache interessiert, sie sehen jedoch nur dann einen Grund für den Erwerb einer Zweitsprache, wenn sie sie in ihrem Alltag auch einsetzen müssen. Dies ist vorwiegend der Fall, wenn der Gesprächspartner die Erstsprache des Kindes nicht versteht und daher ohne Einbezug einer Zweitsprache, die der des Gesprächspartners entspricht, keine Kommunikation stattfinden kann. Wenn die Kinder in ihrem Alltag keine Notwendigkeit für den Erwerb einer zweiten Sprache sehen, werden sie diese in den meisten Fällen auch nicht lernen (vgl. Grosjean, 1996, 171). Es ist daher wichtig, dass sie Spaß am Sprechen und am Spracherwerb haben und sich in der Zweitsprache wohl fühlen (vgl. Montanari, 2000, 23). Zellerhoff weist in ihrem Artikel darauf hin, dass jedoch viele Kinder hinsichtlich des Erwerbs einer Zweitsprache nicht motiviert sind, da sie oft von den Lebensumständen der Eltern abhängig sind und keine Wahl hatten, z.B. bezüglich der neuen Heimat (vgl. Zellerhoff, 1989, 181).
3.3.2 Die Situation in der Familie
Die Familie spielt eine große Rolle für die Sprachentwicklung des Kindes. Es ist wichtig, dass sich die Eltern ihrem Kind emotional und sprachlich zuwenden, um ihm den Zweitspracherwerb zu erleichtern (vgl. Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 15). Je mehr Zeit sie sich für die Beschäftigung mit ihrem Kind nehmen, desto mehr sprechen sie mit ihm und fördern dadurch den Spracherwerb des Kindes, wie bereits in Punkt 2.2.4 dieser Arbeit beschrieben. Das Kind fühlt sich wohl, nimmt Sprache als etwas Persönliches und Emotionales wahr und entwickelt ein Interesse am Spracherwerb (vgl. Montanari, 2000, 21). Für berufstätige Elternteile stellt sich hier ein Problem dar, da sie tagsüber meist außer Haus sind und daher keine Zeit mit dem Kind verbringen können. Sie sollten die gemeinsame Zeit besonders gut nutzen und am Wochenende das nachholen, wozu sie die Woche über nicht gekommen sind (vgl. Montanari, 2003, 26f.).
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist neben der Dauer die Art der gemeinsamen Beschäftigung. Montanari weist darauf hin, dass weniger die Quantität, sondern vor allem die Qualität für einen guten Zweitspracherwerb bedeutsam ist. Die sprachlichen Anregungen, die dem Kind geboten werden, sollten altersgemäß sein bzw. „… etwas über dem Entwicklungsstand des Kindes liegen …“ (Montanari, 2000, 21). Den Eltern kommt somit die Aufgabe zu, viele, dem Alter entsprechende Sprechanlässe zu schaffen, so dass das Kind sich „… aussuchen kann, was zu seinem momentanen Lernstand und zu seinen Lernbedürfnissen passt“ (Montanari, 2000, 21). Je besser die Qualität der sprachlichen Äußerungen ist, desto besser ist die Sprachentwicklung des Kindes (vgl. Montanari, 2000, 21f. und Montanari, 2003, 26f.). Hier möchte ich auf Punkt 2.3 hinweisen, in dem ich bereits auf zwei mögliche Sprachcodes, die sich während der Sprachentwicklung herausbilden, eingegangen bin. Da sich das Kind am Sprachstil der Eltern orientiert, eignet es sich deren Sprachcode an. Je besser dieser ist, desto leichter lernt das Kind die Sprache (vgl. Mertens, 1996, 16). Montanari nennt Sprechen, Vorlesen, Spiele und Singen als sich positiv auswirkende Möglichkeiten, die gemeinsame Zeit mit dem Kind intensiv zu nutzen (vgl. Montanari, 2000, 21).
Als letzten wichtigen Aspekt möchte ich auf die Lebensumstände in der Familie des Kindes eingehen. Ist es in einer günstigen Lebenssituation, die sich ausgeglichen und harmonisch darstellt, bringt es gute Voraussetzungen für einen Zweitspracherwerb mit. In einer instabilen Lebenssituation, in der sich beispielsweise die Eltern trennen, konzentriert sich das Kind auf die Verarbeitung dieses Lebensumstandes. Schulische und sprachliche Leistungen treten zu dem Zeitpunkt in den Hintergrund (vgl. Montanari, 2000, 20). Zellerhoff macht darauf aufmerksam, dass bei Kindern, die im Krieg von ihren Eltern getrennt wurden und ohne sie nach Deutschland kamen, schwere psychische Hemmungen auftreten können und ein Zweitspracherwerb zum Teil gänzlich verhindert werden kann (vgl. Zellerhoff, 1989, 181).
Wichtig für den Zweitspracherwerb ist außerdem die Spracherziehungsmethode, die die Eltern anwenden. Auf diesen Aspekt gehe ich in meinem nächsten Gliederungspunkt ein.
3.3.3 Die Spracherziehungsmethoden
Wie bereits unter Punkt 3.1.4 erwähnt, gibt es nicht den Mehrsprachigen an sich, der nur durch einen Typ vertreten wird. Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten, mit mehreren Sprachen zu leben.
Wenn das Kind zwei Sprachen gleichzeitig lernen soll, sollten die Sprachen nicht willkürlich benutzt bzw. gewechselt werden. Kiehlhöfer/Jonekeit betonen die Wichtigkeit des funktionalen Sprachgebrauchs und der Sprachtrennung als Voraussetzung für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb. Hierbei werden die Sprachen direkt benutzt und nicht übersetzt. Jede Sprache erfüllt bestimmte Funktionen und wird nur für diese gebraucht.
Bevor ich auf die verschiedenen Spracherziehungsmethoden eingehe, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass bei der Wahl der Methode die persönlichen Lebens- und Sprachsituationen beachtet werden müssen. Montanari nennt verschiedene Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt. Wichtig ist vor allem, dass sich die Eltern in der Sprache, die sie gegenüber dem Kind anwenden, wohlfühlen (vgl. Montanari, 2000, 31; Montanari, 2003, 34 und Kiehlhöfer/Jonekeit, 1995, 19f.). Hier möchte ich anmerken, dass in Familien, die einer ethnischen Minderheit angehören, größtenteils aus dem hier zuletzt genannten Grund zu Hause die Muttersprache der Eltern gesprochen wird (vgl. Gogolin, 1987, 27). Die Eltern sollten dem Kind viele gleichmäßige Sprachanregungen bieten und ihre Sprache gut beherrschen. Die Spracherziehungsmethode, für die sie sich entscheiden, sollte konsequent und dauerhaft weitergeführt werden. Eine klare Regelung, die besagt, wann welche Sprache von wem gesprochen wird, erleichtert die zweisprachige Erziehung (vgl. Montanari, 32ff.). Welche verschiedenen Regeln bzw. Spracherziehungsmethoden es gibt, beschreibe ich nun im Folgenden.
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- Arbeit zitieren
- Saskia Hoffmann (Autor:in), 2006, Zweisprachigkeit. Kinder fremder Muttersprache. Eine pädagogische Herausforderung., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72714
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