Für die Entwicklung der EU übt das Recht als Integrationsinstrument eine wesentliche Funktion
aus. Das Gemeinschaftsrecht verlangt für seine Effektivität nach einer einheitlichen Anwendung
und einer zentralen Gerichtsbarkeit mit verbindlichen Entscheidungen. Das BVerfG erkennt zwar
grundsätzlich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht an, bestreitet jedoch für
bestimmte Fallkonstellationen die Letztentscheidungskompetenz des EuGH. Das Gericht geht seit
seinem Maastricht-Urteil davon aus, dass es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von
abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem Kooperationsverhältnis zum EuGH
ausübt. Damit steht aber die einheitliche Wirkung des EG-Rechts auf dem Spiel. Ein Blick nach
Italien und Frankreich zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede im Verhältnis nationaler
Verfassungsgerichte zum EuGH. [...]
Europäischer Gerichtshof und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit
Von Rechtsassessor Gerald G. Sander, M. A., Mag. rer. publ.
Für die Entwicklung der EU übt das Recht als Integrationsinstrument eine wesentliche Funktion aus. Das Gemeinschaftsrecht verlangt für seine Effektivität nach einer einheitlichen Anwendung und einer zentralen Gerichtsbarkeit mit verbindlichen Entscheidungen. Das BVerfG erkennt zwar grundsätzlich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht an, bestreitet jedoch für bestimmte Fallkonstellationen die Letztentscheidungskompetenz des EuGH. Das Gericht geht seit seinem Maastricht -Urteil davon aus, dass es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem Kooperationsverhältnis zum EuGH ausübt. Damit steht aber die einheitliche Wirkung des EG-Rechts auf dem Spiel. Ein Blick nach Italien und Frankreich zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede im Verhältnis nationaler Verfassungsgerichte zum EuGH.
I. Einleitung
Die Klärung des Verhältnisses zwischen dem EuGH und den Verfassungsgerichten der EU-Mitgliedstaaten ist für die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts von besonderer Bedeutung. Der EuGH hat als Rechtsprechungsorgan für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen[1] und ist damit für die Existenz der EG als Rechtsgemeinschaft[2] sowie für den Fortgang der europäischen Integration mitverantwortlich. In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob der EuGH und die nationalen Gerichte in einem klar abgrenzbaren Zuständigkeitsverhältnis zueinander stehen oder ob letztere sich überschneidende Prüfungsbefugnisse für sich reklamieren. Als Folge unklarer Kompetenzverteilung könnte die europäische Rechtsprechung durch widersprechende Urteile der nationalen Gerichte, die in den Mitgliedstaaten vollzogen werden, ihrer Effektivität und Wirksamkeit beraubt werden.
Die Zunahme von EG-Kompetenzen, als Folge des dynamischen Einigungsprozesses, führt vermehrt zu Handlungen der Gemeinschaftsorgane mit Grundrechtsbezug. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH nach Art. 220 EGV umfasst auch die Gewährleistung von europäischen Grundrechten gegenüber den Gemeinschaftsakten. Vor allem in Deutschland wird das Verhältnis nationaler Gerichte zum EuGH im Wesentlichen anhand der Grundrechtsfrage diskutiert, wobei die EG-Bananenmarktordnung den aktuellen Ansatzpunkt der Kritik bildet. Die Maastricht -Rechtsprechung des BVerfG zur nationalen Überprüfbarkeit von Gemeinschaftsakten könnte letztlich zum Sprengsatz in der EG werden.[3] Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt der italienische Verfassungsgerichtshof, während das Konzept des französischen Verfassungsrates erheblich abweicht. Beide Modelle werden aus diesem Grund im Folgenden ergänzend vorgestellt.
II. Das Verhältnis aus Sicht des EuGH und nationaler Verfassungsgerichte
1. Die europarechtliche Sichtweise des EuGH
Das Gemeinschaftsrecht stellt nach Auffassung des EuGH eine eigenständige Rechtsordnung dar, der Anwendungsvorrang vor den nationalen Rechten der Mitgliedstaaten zukommt.[4] Dieser Vorrang ist ein allgemein anerkannter und notwendiger Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung, da die europäische Integration eine einheitliche Anwendung des EG-Rechts voraussetzt. Dieser Vorrang gilt auch hinsichtlich des nationalen Verfassungsrechts,[5] einschließlich der nationalen Grundrechte. Aus diesem Grund sind sämtliche einzelstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, aus eigener Zuständigkeit unmittelbar wirkendes und unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen und entgegenstehendes nationales Recht unangewendet zu lassen.[6] Darüber hinaus besteht die Pflicht der Mitgliedstaaten, das nationale Recht den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen anzupassen.[7]
Aus europarechtlicher Sicht ist der EuGH allein für die Prüfung der Vereinbarkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit dem Primärrecht, insbesondere mit den europäischen Grundrechten, zuständig.[8] Art. 230 EGV weist dem EuGH deshalb ausdrücklich die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung gemeinschaftlicher Akte im Rahmen der Nichtigkeitsklage zu.[9] Eine Abweichung von diesem Grundsatz ist nur im Fall einer Beantragung einer einstweiligen Anordnung vor nationalen Gerichten denkbar.[10] Hat ein nationales Gericht Zweifel an der Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht, muss es den EuGH nach Art. 234 EGV fragen, ob die entsprechende Norm mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten vereinbar ist und kann diese Frage nicht dem nationalen Verfassungsgericht vorlegen. Stellt der EuGH keinen Verstoß fest, ist damit die Entscheidung in letztverbindlicher Weise gefällt.[11]
Diese Sichtweise der Zuständigkeit des EuGH stützt sich zum einen auf Art. 220 EGV, der dem EuGH die Aufgabe überträgt, für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags zu sorgen. Zum anderen kann mit Art. 10 EGV argumentiert werden, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Verpflichtungen aus dem Vertrag oder aus den Handlungen der EG-Organe zu erfüllen. Gleichzeitig sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sämtliche Akte zu unterlassen, welche die Ziele des Vertrags gefährden. Diese Pflichten der Mitgliedstaaten treffen in vollem Umfang auch die jeweiligen nationalen Rechtsprechungsorgane.
2. Die Sicht des deutschen Bundesverfassungsgerichts
Das BVerfG erkennt grundsätzlich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht an.[12] Dieser folgt aus dem parlamentarischen Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen und ist über Art. 23 GG verfassungsrechtlich abgesichert. Das BVerfG bestreitet jedoch für bestimmte Fallkonstellationen die Letztentscheidungskompetenz des EuGH mit einer Argumentationsweise, die stark auf die Souveränität der Staaten abstellt. Die Schranken des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht können sich insbesondere aus dem Zustimmungsgesetz zum Vertragswerk ergeben und sind für Deutschland durch Auslegung des Art. 23 Abs. 1 GG zu bestimmen. Voraussetzung für eine Übertragung von Hoheitsrechten ist danach die vergleichbare Gewährleistung der Grundrechte in der Gemeinschaft.
Da Deutschland der dualistischen Auffassung hinsichtlich der Geltung des Völkerrechts folgt, bedarf es gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG eines Umsetzungsaktes der Verträge in Form eines Zustimmungsgesetzes. Das BVerfG sieht sich nun in der Pflicht, das Zustimmungsgesetz daraufhin zu untersuchen, ob es den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG gerecht wird. Der nationale Umsetzungsakt wird damit gleichsam zu einer Brücke, über die das europäische Recht nach Deutschland schreiten kann, mit dem BVerfG als Wächter im Brückenhaus.[13] Europäischem Recht, das vom Zustimmungsgesetz nicht gedeckt ist, wird vom Gericht der Zutritt verwehrt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Überquerung der Brücke durch das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist, dass es dem deutschen Grundrechtsstandard entspricht und in den Kompetenzbereich der EG fällt.[14]
a) Geltung der nationalen Grundrechte
In der Bundesrepublik wird das Rangverhältnis zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht vor allem im Zusammenhang mit der Grundrechtsgewährleistung diskutiert.[15] Dies rührt daher, dass Deutschland aufgrund der den Bürgern im GG eingeräumten Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegen hoheitliche Maßnahmen über eine detaillierte Rechtsprechung zu den Grundrechten verfügt und deshalb in diesem Bereich besonders sensibel reagiert.
Bereits seit der Solange -Rechtsprechung[16] des BVerfG ist dessen Beziehung zum EuGH von Spannungen geprägt. Zuletzt führte das Gericht im Maastricht -Urteil vom 12. Oktober 1993[17] aus, dass es weiterhin eine Kontrollbefugnis über die öffentliche Gewalt der Gemeinschaft ausübe, diese allerdings auf einen unabdingbaren Grundrechtsstandard beschränke. Dabei berief es sich auf seinen Solange II -Beschluss und sprach von einem Kooperationsverhältnis zum EuGH.[18] Dieses deutet eine Renationalisierung des Grundrechtsschutzes an und bestärkt die generelle Zuständigkeit des BVerfG für die Gewährleistung der Freiheitsrechte im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das Gericht hält sich danach für berufen, sekundäres Gemeinschaftsrecht auf seine Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten zu überprüfen und gegebenenfalls für das deutsche Hoheitsgebiet die rechtliche Wirkung des Gemeinschaftsrechts abzusprechen.[19]
Wenn also große Teile der Europarechtler gehofft hatten, dass im Laufe der Zeit der Solange -Vorbehalt seine Bedeutung verlieren würde, so ist nun deutlich geworden, dass das BVerfG seine Prüfungsbefugnis als dauerhaft versteht. Selbst Verfassungsrichter a.D. Kirchhof, Berichterstatter der Maastricht -Entscheidung, hält diese Prüfungskompetenz des BVerfG jedoch angesichts der aktuellen Grundrechtsprechung des EuGH für derzeit nicht relevant.[20]
[...]
[1] Allgemein zur Bedeutung und Funktion des EuGH Oppermann, DVBl. 1994, S. 901 ff.
[2] Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 50 f.
[3] So schon Sander, Der EuGH als Förderer und Hüter der Integration, 1998, S. 67.
[4] EuGHE 1964, 1251 (1269 f.) – Rs. 6/64 „Costa/E.N.E.L.“.
[5] EuGHE 1970, 1125 (1135) – Rs. 11/70 „Internationale Handelsgesellschaft“.
[6] EuGHE 1978, 629 (644) – Rs. 106/77 „Simmenthal II“.
[7] EuGHE 1996, I-3285 (3326) – Rs. C-290/94.
[8] EuGHE 1969, 419 (425) − Rs. 29/69 „Stauder“.
[9] EuGHE 1987, 4199 ff. – Rs. 314/85 „Foto-Frost“.
[10] EuGHE 1991, I-415 ff. – verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 „Zuckerfabrik Süderdithmarschen“.
[11] Zur letztinstanzlichen Zuständigkeit Rodríguez Iglesias, EuGRZ 1996, S. 127.
[12] BVerfGE 73, 339 (374 f.).
[13] Sog. „Brückenhäuschentheorie“ von Verfassungsrichter Paul Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 183, Rdnr. 65.
[14] BVerfGE 89, 155 (188). Zum Teil wird von ausbrechenden Rechtsakten im Hinblick auf das GATT oder auf Grundrechte unterschieden; vgl. Weber, EuZW 1997, S. 168. Andere Autoren trennen begrifflich zwischen der Grundrechtsfrage und der der „ausbrechenden Rechtsakte“; vgl. Vachek, ZfRV 1997, S. 144.
[15] Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, 1977, S. 713.
[16] BVerfGE 37, 271 ff. „Solange I“; BVerfGE 52, 187 ff. „Vielleicht“ und BVerfGE 73, 339 ff. „Solange II“.
[17] BVerfGE 89, 155 ff.
[18] BVerfGE 89, 155 (175).
[19] Zuleeg, Die Einheit des Gemeinschaftsrechts steht auf dem Spiel, in: Götz u.a. (Hrsg.), FS-Jaenicke, 1998, S. 902.
[20] Kirchhof, Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH, in: Müller-Graff (Hrsg.), Perspektiven des Rechts in der EU, 1998, S. 177 f.
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