Mit dem Mnemosyne-Atlas, einem ehrgeizigen Projekt, das zum unvollendeten Lebenswerk wurde, entwickelte der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg eine komplexe und hochinteressante Theorie über die Nachwirkung antiker gebärdensprachlicher Zeichen in der Kunst der Renaissance, die sich in ihren Grundzügen auch anderen Stilen und Epochen anpassen und auf solche anwenden lässt.
Das mit seiner Theorie eng verknüpfte Kompositum Pathosformel, welches Warburg synonym für „Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst“ verwendet, ist dabei von besonderem Interesse, legt es doch eine Standardisierung von Gestik und Mimik bei der körperlichen Ausformung innerer Befindlichkeiten nahe. Eine bemerkenswerte Annahme, die durch die Forschung auch bestätigt zu werden scheint, wie Ingrid Kasten in ihrer Einleitung zu Codierungen von Emotionen im Mittelalter erklärt: „Ethnologische Studien zeigen, dass die Modellierung von Gefühlen und die Formen des verbalen wie nonverbalen Ausdrucks von Emotionen kulturell bedingt sind und einen hohen Grad von Ritualisierung aufweisen können“. Die historische Emotionalitätsforschung scheint zudem zu belegen, „dass die Variabilität von Emotionen auch geschichtlich bedingt ist“: Während Trauer beispielsweise „in mittelalterlichen Quellen im Allgemeinen körperlich und öffentlich manifestiert wird, scheint sie in der Moderne dagegen stärker verinnerlicht und zugleich in anderer Weise konventionalisiert und von körperlichen Ausdrucksformen abgelöst zu sein“.
Auch wenn sich Warburgs Forschung vorwiegend auf grafische und plastische Darstellungen der Antike und Renaissance konzentriert, scheinen sich seine Gedanken in der Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur, die über eine besondere theatralische Qualität verfügt, ebenfalls nutzbar machen zu lassen.
Der vorliegende Aufsatz will deshalb den Versuch unternehmen, Warburgs Theorie, von seiner Einleitung zum Mnemosyne-Atlas ausgehend, zunächst vorzustellen und zu diskutieren, um sie im Anschluss auf ausgewählte Textstellen aus Hartmanns von Aue Artusroman Iwein anzuwenden.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2.1. Mnemosyne-Atlas
2.2. Einleitung zum Mnemosyne-Atlas
2.3. Pathosformel
3.1. Laudines Klage
3.2. Iweins Begnadigung und die Versöhnung des Ehepaares
3.3 Iweins Wahnsinn
4. Schlusswort
1. Vorwort
Mit dem Mnemosyne-Atlas, einem ehrgeizigen Projekt, das zum unvollendeten Lebenswerk wurde, entwickelte der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg eine komplexe und hochinteressante Theorie über die Nachwirkung antiker gebärdensprachlicher Zeichen in der Kunst der Renaissance, die sich in ihren Grundzügen auch anderen Stilen und Epochen anpassen und auf solche anwenden lässt.
Das mit seiner Theorie eng verknüpfte Kompositum Pathosformel, welches Warburg synonym für „Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst“[1] verwendet, ist dabei von besonderem Interesse, legt es doch eine Standardisierung von Gestik und Mimik bei der körperlichen Ausformung innerer Befindlichkeiten nahe. Eine bemerkenswerte Annahme, die durch die Forschung auch bestätigt zu werden scheint, wie Ingrid Kasten in ihrer Einleitung zu Codierungen von Emotionen im Mittelalter erklärt: „Ethnologische Studien zeigen [...], dass die Modellierung von Gefühlen und die Formen des verbalen wie nonverbalen Ausdrucks von Emotionen kulturell bedingt sind und einen hohen Grad von Ritualisierung aufweisen können“[2]. Die historische Emotionalitätsforschung scheint zudem zu belegen, „[d]ass die Variabilität von Emotionen [...] auch geschichtlich bedingt ist“[3]: Während Trauer beispielsweise „in mittelalterlichen Quellen im Allgemeinen körperlich und öffentlich manifestiert wird[,] [...] scheint sie [...] in der Moderne dagegen [...] stärker verinnerlicht und zugleich [...] in anderer Weise konventionalisiert und von körperlichen Ausdrucksformen abgelöst zu sein“[4].
Auch wenn sich Warburgs Forschung vorwiegend auf grafische und plastische Darstellungen der Antike und Renaissance konzentriert, scheinen sich seine Gedanken in der Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur, die über eine besondere theatralische Qualität verfügt, ebenfalls nutzbar machen zu lassen.
Der vorliegende Aufsatz will deshalb den Versuch unternehmen, Warburgs Theorie, von seiner Einleitung zum Mnemosyne-Atlas ausgehend, zunächst vorzustellen und zu diskutieren, um sie im Anschluss auf ausgewählte Textstellen aus Hartmanns von Aue Artusroman Iwein anzuwenden.
2.1. Mnemosyne-Atlas
Sein ganzes Arbeitsleben hindurch legte Warburg schematische Darstellungen von Kunstwerken an. Mit verschiedenfarbigen Linien, die für das ungeübte Auge eher chaotisch als organisiert angeordnet wirken, setzte er ausgewählte Kunstwerke zueinander in Beziehung. Mit Hilfe ikonografischer Reihen und Bildkonstellationen, die von einem kurzen Text begleitet werden sollten, hoffte Warburg, in diesem Atlas das Bildgedächtnis der europäischen Kultur sowohl in seiner Struktur als auch in seiner Entwicklung und zugleich in seinen wichtigsten Themen und Motiven zu rekonstruieren. Der Mnemosyne-Atlas, der sich in einem ständigen Umbau befand, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer Zusammenstellung von etwa 2000 Bildern aus Kunst- und Kulturgeschichte in etwa sechzig Tafeln, mit der Warburg sein Lebenswerk zusammenfassen und vollenden wollte. Da er aber noch vor der Fertigstellung aus dem Leben schied, blieb das komplexe Projekt Fragment[5][6].
Mit dem im Zentrum der theoretischen Analyse dieses Aufsatzes stehenden Einleitungstext versuchte Warburg, die grundlegenden Gedanken seiner Theorie darzulegen und auf das Studium seines Bilderatlasses einzustimmen. Da er den Text aber in einem Zustand zunehmender geistiger Umnachtung verfasste - überhaupt war sein Lebensabend geprägt von verwirrten Episoden, die sich immer stärker manifestierten[7] -, ist dieses Vorhaben nicht gänzlich geglückt: Das Manuskript ist nicht frei von widersprüchlichen oder unscharfen Formulierungen. Es wird deshalb auch ein Anliegen der theoretischen Analyse sein, diese problematischen Stellen näher zu beleuchten und im Sinne Warburgs aufzulösen.
2.2. Einleitung zum Mnemosyne-Atlas
Warburg beginnt die Einleitung damit, dass er dem künstlerischen Menschen einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft zuweist. In seinen Augen greift der Künstler bei seinem Schaffen auf „das Gedächtnis sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums“[8] zurück. Dahinter verbirgt sich folgende Idee: Warburg glaubt, dass der Künstler bei seiner Arbeit von zwei wesentlichen Faktoren beeinflusst wird: Erstens von kulturell memorierten Ausdrucksformen, über die alle Mitglieder eines kulturellen Kollektivs verfügen - Warburg nennt dies „Eindruckserbmasse“[9] - und zweitens vom individuellen Kontext, der z.B. durch den Lebenszeitpunkt des Künstlers, seine Biografie und Ziele konstruiert wird.
Der Künstler verfährt nun so, dass er in seinen Werken die kulturelle Eindruckserbmasse dem individuellen Kontext entsprechend mit neuem, zeitgemäßem Inhalt füllt. In diesem Sinne soll Warburgs Mnemosyne-Atlas den Prozess der Verinnerlichung „vorgeprägter Ausdruckswerte“[10] im künstlerischen Schaffen darstellen.
Warburg konzentriert sich dabei auf die Renaissance, da diese sich in seinen Augen deutlich antiker Gebärdensprache bedient und diese bewusst einsetzt. Er ist fasziniert von der formbeherrschten Emotion, die er als besondere Kunstleistung der Antike herausstellt. Mit dem Atlas will er die in der Renaissance wirksamen antiken Vorprägungen aufzeigen. Dabei geht er u. a. der Frage nach, warum die Kunst der Renaissance ausgerechnet auf sehr alte, antike Ausdruckswerte zurückgreift.
Bei seinem ersten Erklärungsversuch beruft sich Warburg auf den Sprachwissenschaftler Hermann Osthoff, der das „Suppletivwesen der Indogermanischen Sprache erforscht hat“[11]: Osthoff wies nach, „dass bei Adjektiven und Verben ein Wortstammwechsel in der Komparation oder Konjugation eintreten kann, nicht nur, ohne dass die Vorstellung der energetischen Identität des wortgeformten Grundausdrucks wegfällt, sondern dass der Eintritt eines fremdstämmigen Ausdrucks eine Intensifikation der ursprünglichen Bedeutung bewirkt.“[12]
[...]
[1] Warburg, Aby: Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929). In: Barta-Friedl, Islebill (Hg.): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst. Salzburg/Wien 1992, S. 171.
[2] Kasten, Ingrid: Einleitung. In: Jaeger, C. Stephen und Kasten, Ingrid (Hg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Berlin 2003, S. XIII.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. XIV.
[5] Vgl. Rappl, Werner: Konstellationen und Zwischenräume. Zu Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas. Österreichisches Filmmuseum 2005. http://www.filmmuseum.at/jart/projects/fm/releases/de/resources/textarchiv/TexteDownload/Ring05_Rappl_Text.pdf (20.08.2006).
[6] Vgl. Dillon, Brian: Collected Works. Frieze 2006. http://www.frieze.com/column_single.asp?c=164 (20.08.2006).
[7] Vgl. Rappl, Werner: Konstellationen und Zwischenräume. Zu Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, a.a.O.
[8] Warburg, Aby: Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929), a.a.O., S. 171.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
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