Vor dem Hintergrund aktueller Debatten beispielsweise um die europäische Verfassung oder einen möglichen EU-Beitritt der Türkei, stellen sich Europäer, meist jene, die an das Projekt Europa glauben oder diesem kritisch gegenüber stehen, Fragen. Fragen, die es, so scheint es, zu beantworten gilt, wenn man eine Position innerhalb der verschiedenen Diskussionen beziehen will. Die einen wollen Europa verteidigen, die Anderen wollen versuchen zu zeigen, warum Europa an der einen oder anderen Stelle, politisch oder geographisch, zu weit geht oder begrenzt werden sollte. 1 Aber was ist überhaupt Europa? Worüber sprechen wir bzw. jene Diskutanten wenn sie Europa meinen? Geht es um die Europäische Union als politische Organisation, oder um eine Idee, eine Vision? Verschiedene Autoren sprechen davon, dass dies die entscheidenden Fragen sind, die es zu beantworten gilt, wollen wir aktuelle Probleme lösen bzw. uns ihnen sinnbringend nähern. 2 Es ginge darum, eine gemeinsame Identität der Europäer zu bestimmen, ihre gemeinsame Geschichte, Kultur und Religion zu einem umfassenden europäischen Selbstverständnis zu formen um eine Orientierungshilfe, einen Wertekompass zu erhalten, um sich in krisenhaften Situationen der eigenen Wurzeln bewusst werden zu können. Es sind die immer aktuellen Fragen nach Selbstvergewisserung: „Die Fragen sind geblieben. Von der Stunde der ersten Bezeichnung bis zum heutigen Tag sind Begriff und Bild von Europa keine selbstverständlich vorgegebenen Größen.“ [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Idee Europa
2.1 Geographie Europas
2.2 Mythos Europa
2.3 Das Erbe des Karolingischen Reiches
2.4 Einheit in der Vielfalt
2.5 Europäische Union
2.6 Zusammenfassung
3. Europäische Identität?
4. Abschlussbetrachtungen
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Vor dem Hintergrund aktueller Debatten beispielsweise um die europäische Verfassung oder einen möglichen EU-Beitritt der Türkei, stellen sich Europäer, meist jene, die an das Projekt Europa glauben oder diesem kritisch gegenüber stehen, Fragen. Fragen, die es, so scheint es, zu beantworten gilt, wenn man eine Position innerhalb der verschiedenen Diskussionen beziehen will.
Die einen wollen Europa verteidigen, die Anderen wollen versuchen zu zeigen, warum Europa an der einen oder anderen Stelle, politisch oder geographisch, zu weit geht oder begrenzt werden sollte.[1] Aber was ist überhaupt Europa? Worüber sprechen wir bzw. jene Diskutanten wenn sie Europa meinen? Geht es um die Europäische Union als politische Organisation, oder um eine Idee, eine Vision?
Verschiedene Autoren sprechen davon, dass dies die entscheidenden Fragen sind, die es zu beantworten gilt, wollen wir aktuelle Probleme lösen bzw. uns ihnen sinnbringend nähern.[2] Es ginge darum, eine gemeinsame Identität der Europäer zu bestimmen, ihre gemeinsame Geschichte, Kultur und Religion zu einem umfassenden europäischen Selbstverständnis zu formen um eine Orientierungshilfe, einen Wertekompass zu erhalten, um sich in krisenhaften Situationen der eigenen Wurzeln bewusst werden zu können. Es sind die immer aktuellen Fragen nach Selbstvergewisserung: „Die Fragen sind geblieben. Von der Stunde der ersten Bezeichnung bis zum heutigen Tag sind Begriff und Bild von Europa keine selbstverständlich vorgegebenen Größen.“[3]
Diese Arbeit will sich mit zweierlei Aspekten beschäftigen. Zu fragen ist, ob es eine gemeinsame, unbestreitbare europäische Identität resultierend aus einer gemeinsamen Geschichte, durch eine gemeinsame Kultur gibt? Was wären deren Merkmale bzw. Anknüpfungspunkte? Ergibt sich aus den Charakteristika der Europäer eine gemeinsame Identität? Oder, und das soll meine These stützen, entstehen Identitäten zwar determiniert durch gemeinsame historische Erfahrungen, aber vielmehr, wie André Utzinger vorschlägt, durch soziale Interaktion ohne vorpolitische Bedingungen? Was würde dies für das Europa von heute bedeuten, wenn eine historische Identität konstruiert ist und was wäre eine erklärende Alternative dazu, um dennoch Aussagen über Europas Wesen machen zu können?[4]
Um mich der Beantwortung der oben gestellten Fragen zu nähern, will ich zunächst auf verschiedene Konzepte Europas bzw. Erklärungen eingehen, die versuchen, historische, mythologische oder kulturelle Anknüpfungspunkte zu liefern. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die verschiedenen Dimensionen des Europa-Begriffes Konzepte sind, mit deren Hilfe es gelingen kann, kausal zu bestimmen was Europa heute ist. Was kann uns also helfen zu verstehen, was unsere spezifische europäische Identität ist und woher sich diese speist? Herfried Münkler nennt dies „Anschlussfähigkeit“, d.h. die Möglichkeit der Anknüpfung an Traditionen im Sinne eines Erklärens der Gegenwart. Ich will den Begriff an dieser Stelle für die Arbeit übernehmen, da dieser gewinnbringend ist. Er ist geeignet um zu zeigen, welche Kontinuitäten strukturprägend für Europa sind und unterlegt zugleich, dass Anschluss nicht kausale Folge bedeutet, sondern nur Hinweis sein kann.
Im Anschluss daran will ich zeigen, wie sich Identitäten konstituieren bzw. wie sie erklärbar sein könnten. Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf André Utzinger und die von mir zuvor gemachten Ausführungen.
Beide Teile sollen in den Abschlussbetrachungen verknüpft werden. Was dazu führen soll, dass meine Ansicht über die Kontextabhängigkeit der Erklärung darüber was Europas und ist, plausibel wird.
2. Die Idee Europa
Zunächst soll es um die verschiedenen Anknüpfungspunkte in der europäischen Geschichte gehen, die uns womöglich weiter helfen können, wenn wir nach Wesen und Grenzen Europas fragen. Welche Ideen gab oder gibt es darüber was Europa ist und sind diese mit unserer heutigen Welt zu verknüpfen? Ergeben sich Traditionslinien und unverrückbare Bestandteile dessen, was wir als Kernbestand Europas bezeichnen können? Vielleicht ist ein konkretes Ergebnis schwer möglich, […] zu vielschichtig sind die Ergebnisse, zu vielfältig die politischen und kulturellen Faktoren, als daß man dies alles auf einfache, plakative Formeln verkürzen könnte.“[5] Deswegen werde ich zunächst versuchen in dem gegebenen Rahmen verschiedene Traditionsquellen, mögliche Ursprünge europäischer Identität, zu betrachten, die unverrückbar zum elementaren Kernbestand Europas gehören und für unsere Fragestellung wichtig sein können.
2.1 Geographie Europas
Zunächst kann eine Bestimmung was Europa ist, womöglich durch die Geographie geleistet werden. Wenn man Europa als einen Kontinent begreift, sollte es möglich sein, genaue Grenzen zu bestimmen, in denen sich eine europäische Identität, eine europäische Kultur entwickelt hat. Ein begrenzter Raum Europa also, deren Inhalt sich leicht füllen lassen sollte.
Geographisch wird Europa oft als das „Anhängsel der großen asiatischen Landmasse“ bezeichnet[6]. Genauso schnell wie man auf die geographische Definition Europas stößt, stößt man aber auch auf dessen Widersprüchlichkeit bzw. Ungenauigkeit.[7]
Die Grenzen Europas sind seit vier Jahrtausenden permanent verschoben worden.[8] War lange Zeit der Don die östliche Grenze Europas, so galt dies spätestens seit der Westöffnung Russlands im 18. Jahrhundert durch Zar Peter I. nicht mehr. Europa hat keine natürliche Ostgrenze.[9] Heute bilden Ural und Kaukasus die Grenzposten. Unveränderbar sind sie indes nicht. Weidenfeld meint, dass „man geneigt sein könnte zu sagen: Europa endet nicht nach Osten, es verwischt sich.“[10]
Auch im Süden, so Münkler, ist die EU-Grenze Mittelmeer kein Hinweis auf einen einheitlichen Europa-Begriff. Diese Südgrenze entstand erst mit der Kappung der überseeischen Verbindungen in der Zeit der Entkolonialisierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zuvor, und vor allem in der gern zur europäischen Geburtsstunde deklarierten Antike, war das Mittelmeer ein verbindendes statt trennendes Element. Südeuropäische Nationen bzw. Völker dehnten von je her ihren Einflussbereich über das Mittelmeer hinaus aus. Doch auch gerade die Antike war mittelmeerisch (mediterran), hatte also das Mittelmeer als Zentrum.[11]
Interessant wird die geographische Bestimmung Europas, wenn Wagner auf die territoriale Ausdehnung des Römischen Reiches als gemeinsamen europäischen Fundus verweist.[12] Nun meint er hier nicht ausschließlich die geographische, sondern auch die organisatorische und geistig-kulturelle Ausdehnung. Doch wird bei dem Bezug auf das Römische Reich wieder eines deutlich: die geographische Bestimmung Europas ist kontextgebunden und kann historisch abgeleitet zu verschiedenen Ergebnissen führen. Wenn das Römische Reich in all seiner Größe, West-Rom und Ost-Rom eingeschlossen, tatsächlich die territoriale Grundlage des heutigen Europas ist, so muss aus diesen Gründen Konstantinopel, das heutige Istanbul, in Europa vermutet werden.
Gerade vor dem Hintergrund der Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei ist die geographische Verortung Europas zu einem Thema geworden. Hier zeigt sich dann, dass der Kontext der geographischen Bestimmung der Grenzen von Befürwortern wie Gegnern eines Beitritts der Türkei historisch verschieden bestimmt werden kann. Ist Ost-Rom mit Konstantinopel oder das muslimisch geprägte Osmanische Reich, welches zu großen Teilen auch den heutigen Balkan beeinflusste und besetzte, die entscheidende Bezugsgröße?
Wie aber Timmermann richtig bemerkt, steht dahinter eher die Frage, welche Einflüsse „allen geographischen Gegebenheiten zum Trotz“ den europäischen Raum prägen.[13] Da, wie wir gesehen haben, Europa territorial nicht klar beschreibbar ist oder zumindest verschiedentlich interpretiert werden kann, stellt sich die Anschlussfrage, wodurch wir uns dennoch einem schärferen Europa-Begriff nähern könnten. Wagner hat hier bereits auf die geistig-kulturellen Güter hingewiesen. Die Geographie als entscheidender Bezugspunkt ist, um in der Argumentationskette Münklers zu bleiben, nicht anschlussfähig, denn die „geographische Beschaffenheit sorgt für Vielgestaltigkeit.“[14] Grenzen sind verschiebbar und konstituieren allein weder kulturelle oder politische Einheit noch Identität.
2.2 Mythos Europa
Eines der geistigen Güter auf welches Wagner rekurriert, ist der wohlbekannte Mythos der entführten phönizischen Königstochter Europa, die von Gottesvater Zeus in der Gestalt eines Stiers geraubt und gen Westen entführt wird, eben nach Europa. Somit hat der Name des Kontinents Europa einen mythischen Ursprung.[15]
Würden wir dem Mythos folgen, so Münkler, wären wir als Europäer also fabelhafte Mischwesen, gezeugt von Zeus. Diese Kentauren waren in ihrem Verhalten besonders aggressiv, was zumindest den Charakter Europas und der Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nah beschreiben würde.[16] Als anschlussfähig charakterisiert er den mythologischen Ursprung aber nicht, da uns der Verweis darauf nicht helfen kann zu erkennen, was Wesen Europas ist und wo seine Grenzen liegen. Münkler meint aber, dass wir den Raub der Europa, der schwachen Königstochter durch einen mächtigen Stier, als Gründungsmythos des Kontinents zumindest akzeptieren können, da es der Göttervater war, der daran unmittelbar beteiligt war.[17]
Aber ist der Name des Kontinents zufällig? Folgt man der These Vicos nach Wagner, dann müsste der Name Europa auf einer Metapher basieren.[18] Europa ist hier die Tochter des Phönix, ein Objekt der Leidenschaft des Zeus. „Übers Meer nach Kreta entführt, um dort verführt zu werden, wird Europa, so lässt sich schließen, zum Sinnbild für jene, welche die Leidenschaft anderer zu erleiden haben.“[19]
Dieser anklingende Zusammenhang von Raum und Leid sollte in folgenden Konstruktionen des Begriffes eine große Rolle spielen. Während der Völkerwanderungen wandelte vor allem der römische Dichter Claudius Claudian den Begriff in eine Kategorie der Abwehr des Christentums gegen marodierende germanische Stämme. Anknüpfend an vorhergehende Konstrukte, verhalf die Vorstellung Europas als eine Person dem Erdteil zu tieferer Bedeutung „nämlich ‚etwas Leidendes zu bezeichnen’“.[20] Genau wie die entführte Jungfrau Europa sei auch der nach ihr benannte Erdteil etwas „’was fähig ist, Feinde zu haben’“.[21]
[...]
[1] Münkler macht diese Debatten auch schon unter Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg aus: Vgl. dazu: Münkler, Herfried: Die politische Idee Europa. In: Delgado, Mariano/ Lutz-Bachmann, Mathias: Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität. München, 1995, S. 10.
[2] Utzinger, André: Mythen oder Institutionen? Zur Bildung kollektiver Identitäten im postnationalen Europa. In: Francis Cheneval (Hrsg.).: Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union. Münster-Hamburg-London, 2005, S. 235.
[3] Weidenfeld, Werner: Europa – aber wo liegt es? In: ders.:(Hrsg.): Die Identität Europas. Fragen, Positionen, Perspektiven. München-Wien, 1985, S.13.
[4] Wagner, Gerhard: Europa und die Tradition der Erfindung. In: ders.: Projekt Europa. Berlin- Hamburg, 2005, S. 9.
[5] Weidenfeld, S.13.
[6] Timmermann, Heiner: Die Idee Europa. In: ders. (Hrsg.): Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft. Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd 82. Berlin, 1998, S. 7.
[7] Vgl. hierzu: Biskup S. 21. Münkler, Die politische Idee Europa, S. 11. Wagner, S. 93.
[8] Münkler, Die politische Idee Europa, S. 12.
[9] Wagner, S. 93.
[10] Weidenfeld, S. 17.
[11] Münkler, Die politische Idee Europa, S. 12.
[12] Wagner, S. 20.
[13] Timmermann S. 7.
[14] Weidenfeld, S. 17.
[15] Wagner, S. 94.
[16] Münkler, Die politische Idee Europa, S. 15.
[17] Münkler, Die politische Idee Europa, S. 16.
[18] Vgl. Wagner, S. 95.
[19] Wagner, S. 96.
[20] Wagner, S. 97.
[21] Ebd.
- Quote paper
- Sebastian Petzold (Author), 2007, Europa als Idee - Konzept und Identität?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71711
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