Der erste Teil der Arbeit beschreibt zunächst die wesentlichen Etappen dieses Netzausbaus, charakterisiert die gesellschaftliche Reaktion auf die Eisenbahn und fragt nach der Nutzung der Eisenbahn in allen Schichten der französischen Gesellschaft. Den Abschluss bilden einige Bemer‐ kungen zu den Reiseanlässen und der sozialen Strukturierung der Reisenden im 19. Jahrhundert. Der zweite und umfangreichere Teil der Arbeit erläutert das theoretische Konzept Louis Hachettes, das seinen Bibliothèques de gare zu Grunde lag. Im Anschluss werden die verschiedenen praktischen Fragen diskutiert: welche Lesestoffe wurden angeboten, wie wurden sie rezipiert und wie genau wurde der Verkauf in den Bahnhöfen organisiert? Den Abschluss bildet ein Kapitel, das nach den Eigenheiten in Hachettes Geschäftskonzept fragt und die Situation seiner Konkurrenten beleuchtet. Einige abschließende Bemerkungen resümieren die Bedeutung der Bibliothèques de gare für die französische Literatur‐ und Editionsgeschichte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Eisenbahn und Bibliothèques de gare in Frankreich
2.1 Gesellschaft und Technik: die Rahmenbedingungen
2.1.1 Ausbau des Eisenbahnnetzes
2.1.2 Gesellschaftliche Rezeption der Eisenbahn
2.1.3 Reiseanlässe und Sozialstruktur der Reisenden
2.2 Literatur im Bahnhof: Louis Hachette und seine Bibliothèques de gare
2.2.1 Das Konzept
2.2.2 Das Angebot an Büchern und Zeitungen
2.2.3 Der Verkauf im Bahnhof
2.2.4 Geschäftsmodell, Umgang mit Konkurrenz, Bewertung
3. Zusammenfassung
4. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Die Geschichte der Verbreitung von Lesestoffen im 19. Jahrhundert kann nicht ohne die
Bibliothèques de gare geschrieben werden, mit denen der Verleger Louis Hachette (1800–1864)
ab 1852 in ganz Frankreich Bücher und Zeitschriften verkaufte. Er veränderte damit die durch colporteurs[1] dominierte Vertriebsstruktur nachhaltig. Ziel dieser Arbeit ist es, die Idee der
Bibliothèques de gare und ihre praktische Umsetzung zwischen 1852 und 1896 aufzuzeigen und dabei auch auf ihre soziokulturelle und literaturgeschichtliche Bedeutung zu blicken. Alle Ausführungen sollen dabei vor dem Hintergrund der Entwicklung des französischen Eisenbahnnetzes geschehen.
Der erste Teil der Arbeit beschreibt zunächst die wesentlichen Etappen dieses Netzausbaus, charakterisiert die gesellschaftliche Reaktion auf die Eisenbahn und fragt nach der Nutzung der Eisenbahn in allen Schichten der französischen Gesellschaft. Den Abschluss bilden einige Bemerkungen zu den Reiseanlässen und der sozialen Strukturierung der Reisenden im 19. Jahrhundert.
Der zweite und umfangreichere Teil der Arbeit erläutert das theoretische Konzept Louis Hachettes, das seinen Bibliothèques de gare zu Grunde lag. Im Anschluss werden die verschiedenen praktischen Fragen diskutiert: welche Lesestoffe wurden angeboten, wie wurden sie rezipiert und wie genau wurde der Verkauf in den Bahnhöfen organisiert? Den Abschluss bildet ein Kapitel, das nach den Eigenheiten in Hachettes Geschäftskonzept fragt und die Situation seiner Konkurrenten beleuchtet. Einige abschließende Bemerkungen resümieren die Bedeutung der Bibliothèques de gare für die französische Literatur- und Editionsgeschichte.
Die Thematik ist in der französischen Forschung sehr gut aufgearbeitet. Neben Biographien zu Louis Hachette, die auch seine verlegerische Tätigkeit behandeln, dienten vor allem die Beiträge von Jean-Yves Mollier und Jean Mistler als Grundlage dieser Arbeit. Elisabeth Parinet und Karine Taveaux untersuchten die Entwicklung der Bibliothèques de gare und beschrieben dabei auch deren Einfluss auf die Verbreitung von Literatur. Mit seiner umfangreichen Eisenbahngeschichte hat François Caron einen wertvollen Beitrag geleistet, ebenso wie Georges Reverdy, dessen Buch vor allem die gesellschaftliche Dimension der Eisenbahn beleuchtet. Schließlich sei noch Henri Vincenot genannt, der in seinem Buch besonderen Wert auf alltagsgeschichtliche Aspekte legt.
Die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft haben das Thema bisher kaum bearbeitet. Die französische Eisenbahngeschichte und die Bibliothèques de gare dürften aus deutscher Sicht aber auch vornehmlich für Romanisten interessant sein, und deren erste Wahl wird ohnehin französische Forschungsliteratur sein.
2. Eisenbahn und Bibliothèques de gare in Frankreich
2.1 Gesellschaft und Technik: die Rahmenbedingungen
2.1.1 Ausbau des Eisenbahnnetzes
Sieben Jahre nachdem in England die erste Eisenbahnstrecke ihren Betrieb aufgenommen hatte, fuhr 1832 die erste französische Eisenbahn zwischen Saint-Étienne und Andrézieux. In den Folgejahren wurde diese Experimentalstrecke durch zahlreiche kleinere Streckenabschnitte ergänzt. Mit dem Bau der Strecke Paris – Saint-Germain erfuhr die Eisenbahn, die ihrer Gründerzeitphase noch längst nicht entwachsen war, ab 1837 einen enormen Prestigegewinn.[2] Man interessierte sich zunehmend für die neue Technik; Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nahmen sich der Eisenbahn an, und der Grundstein für ihren Erfolg war nun auch in Frankreich gelegt.
Am 11. Juni 1842 wurde der Ausbau des französischen Eisenbahnnetzes per Gesetz geregelt: Frankreich sollte schnell und flächendeckend mit Bahnstrecken erschlossen werden; dieses Gesetz wurde 1844 durch zehn weitere gesetzliche Regelungen ergänzt, die den Eisenbahnbau mit höchster Priorität versahen.[3] Die 1840er Jahren können nicht nur als Periode der politischen, sondern auch der technischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen für die Expansion der Eisenbahn gelten.[4] Wichtige ingenieurtechnische Leistungen, wie der Brücken,- Trassen- und Tunnelbau, waren seit den 1820er Jahren gegeben, um bald alle französischen Regionen durch die Eisenbahn erschließen zu können.[5] In ökonomischer Hinsicht lagen die Anfangsjahre der Eisenbahn zwar in einer Zeit der wirtschaftlichen Krise, doch spätestens ab dem Beginn der 1850er Jahre kann von einer andauernden Phase der wirtschaftlichen Prosperität ausgegangen werden: „The 1850s thus proved to be a decade of thriving commerce and unprecedented economic prosperity“[6], was letztlich der Entwicklung der Eisenbahn enorm förderlich war.
Maßgeblichen Einfluss auf diese rasante Entwicklung hatten außerdem zwei praktische Faktoren: zum einen war Frankreich durch seine zentralistische Tradition prädestiniert für einen zentral geplanten und koordinierten Netzausbau, der stringent und rational konzipiert wurde, und zum anderen trieben, anders als beispielsweise in Deutschland, sechs große private Eisenbahngesellschaften die Entwicklung der Eisenbahn voran.[7] Erst diese privatwirtschaftliche Organisation des Eisenbahnbaus und die straffe zentralistische Planung ermöglichten es Frankreich, das Eisenbahnnetz in den 1850er und 1860er Jahren großzügig und schnell auszubauen und es in Qualität und Ausdehnung denen der europäischen Nachbarn wie Deutschland, Belgien und der Schweiz anzugleichen.[8] Insbesondere Nordfrankreich wurde flächendeckend mit Eisenbahnstrecken erschlossen,[9] in dieser wirtschaftlich starken Region konnte sich die Eisenbahn auch besonders schnell etablieren.
Die Zeit der 1850er und 1860er Jahre kann als Hochphase der Expansion des französischen Eisenbahnnetzes gelten. Bis 1870 umfasste das französische Streckennetz etwa 17 500 km, und Frankreich war damit innerhalb von zwei Dekaden bahntechnisch erschlossen worden.
2.1.2 Gesellschaftliche Rezeption der Eisenbahn
Nun soll die Reaktion der Gesellschaft auf die Eisenbahn genauer untersucht werden. Ralf Roth schreibt der Eisenbahn die Fähigkeit zur „Überwindung von Raum und Zeit“[10] zu, denn nachdem Reise- und Transportmöglichkeiten über Jahrhunderte völlig statisch geblieben waren, revolutionierte die Eisenbahn sowohl kapazitäre als auch durable Erfahrungen der etablierten Beförderungsmöglichkeiten.[11] Nähe und Entfernung bekamen plötzlich vollkommen neue Dimensionen, Vorstädte wuchsen näher an die städtischen Zentren heran, und Entfernungen, die noch zuvor langer und aufwändiger Reisen bedurft hätten, waren plötzlich mit der Eisenbahn in einem Bruchteil der Zeit zu erreichen.
Entsprechend nachvollziehbar ist, dass die Eisenbahn „über alle Schichtengrenzen hinweg begeistern“[12] konnte. „Pour les contemporains, le chemin de fer fut d’abord le symbole de la modernité“[13], schreibt François Caron, und in der Tat vermochte die Eisenbahn, Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume mit der Technikbegeisterung vieler Zeitgenossen zu verbinden. Auch einige Intellektuelle und Literaten wurden sehr schnell zu Fürsprechern der Eisenbahn, so berichtete beispielsweise Théophile Gautier regelmäßig als Redakteur für eine Zeitung von neuen Streckeneröffnungen.[14]
Insbesondere aber stand das bürgerliche Lager der neuen Technik sehr interessiert und offen gegenüber. Die Eisenbahn vermochte, Technikbegeisterung und das bürgerliche Verlangen nach Modernität und Exklusivität mit ihrer Innovationskraft zu kumulieren. Das von Henri Vincenot zur Illustration der bürgerlichen Mentalität angeführte Zitat „Dimanche prochain, venez dans notre jardin: on y voit passer le train.“[15] zeigt, dass die Eisenbahn sehr schnell exklusiver Teil des bürgerlichen Lebensalltages wurde. Überhaupt war es dem Bürgertum während des Seconde Empire gelungen, sich politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich sehr stark zu positionieren und zu restaurieren.[16] Gerade dieses Erstarken des Bürgertums war einer der Hauptgründe für den schnellen Erfolg der Eisenbahn. Weder die gesellschaftliche Elite noch die unteren Schichten wären in der Lage gewesen, die Innovationsfähigkeit der Eisenbahn so nachhaltig zu fördern.
Auch muss Napoleon III. als wichtiger Freund und Förderer der Eisenbahn gelten. Seine naive Vorstellung mutet zwar etwas merkwürdig an: „Les chemins de fer feront de Paris le premier marché du monde: Les fruits, les volailles, les légumes des départements les plus éloignés y arriveront la nuit pendant que vous dormiez, et vous serez tout étonnés à votre réveil de déjeuner avec du lait venu de Falaise ou des petits pois de Perpignan.“[17], doch letztlich ist auch dies nur Ausdruck der enormen Anziehungskraft der Eisenbahn, der sich neben vielen Bürgerlichen eben auch der Kaiser nicht entziehen konnte.
Bemerkt sein sollte aber auch, dass der Eisenbahn ebenso eine sozialökonomische Funktion zukam: in ihrer Boomphase war sie in vielen ländlichen Regionen in Frankreich ein wichtiger Arbeitgeber. Für den Bau der Trassen, Tunnel und Viadukte wurden Arbeiter benötigt, aber auch als Lokführer, Schaffner oder Büroangestellter fand sich vielfach Arbeit. Wer bei einer Eisenbahngesellschaft angestellt war, genoss nicht nur gute Bezahlung und einen sicheren Arbeitsplatz, sondern konnte auch auf eine besonders gute Reputation vertrauen, und so entbehrte die Eisenbahn neben einem „deep involvement in the labour history of the nineteenth century“[18] auch einer gewissen sozialintegrativen Funktion nicht.
[...]
[1] Le mot colporteur vient du latin comportare (transporter) qui est à rapprocher de coltiner (porter un lourd fardeau sur le cou, les épaules, la tête étant protégée par un coltin (coiffure prolongée d’une pièce de cuir protégeant le col et les épaules). Les colporteurs étaient des marchands ambulants qui transportaient leurs marchandises dans des « balles » en bois. Il vendait un large éventail de produits dont des livres, des bulletins, des journaux, des toiles, de la mercerie.
Quelle: http://fr.wikipedia.org/wiki/Colportage eingesehen am 07.08.2006.
[2] Vgl. Reverdy, Les travaux publics, S. 258f.
[3] Vgl. ebd., S. 33 und 338.
[4] Vgl. Mitchell, The great train race, S. 71.
[5] Vgl. Reverdy, Les travaux publics, S. 30 und 107.
[6] Mitchell, The great train race, S. 18. Diese wirtschaftliche Boomphase hat erst am Beginn der 1870er Jahre ihr Ende gefunden.
Vgl. zur Frage der wirtschaftlichen Weichenstellungen auch Reverdy, Les travaux publics, S. 184 und Conte, L’Épopée des chemins de fer, S. 99.
[7] Vgl. Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 110; Mitchell, The great train race, S. 3 und 70.
[8] Arthur Conte und Ralf Roth verweisen darauf, dass Frankreich im europäischen Vergleich bis in die 2. Hälfte der 1850er Jahre ein schlecht ausgebautes Eisenbahnnetz hatte. Vgl. Conte, L’Épopée des chemins de fer, S. 74 und 127; Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 242.
[9] Vgl. Mistler, La Librairie Hachette de 1826 à nos jours, S. 125.
[10] Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 214.
[11] Vgl. hierzu vor allem Vincenot, La vie quotidienne, S. 65f., aber auch Caron, Histoire des chemins de fer, S. 593 und Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 174.
[12] Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 132.
[13] Caron, Histoire des chemins de fer, S. 589.
[14] Vgl. Conte, L’Épopée des chemins de fer, S. 91.
[15] Vincenot, La vie quotidienne, S. 133. Die Herkunft des Zitates ist nicht näher belegt.
[16] Vgl. Conte, L’Épopée des chemins de fer, S. 112.
[17] Napoléon III., zit. n. Conte, L’Épopée des chemins de fer, S. 118. Die Herkunft des Zitates ist nicht näher belegt.
[18] Mitchell, The great train race, S. 23. Vgl. zur Frage der Eisenbahn als Arbeitgeber auch Vincenot, La vie quotidienne, S. 40f. und 60 sowie Caron, Histoire des chemins de fer, S. 657.
- Arbeit zitieren
- Christian Schulze (Autor:in), 2006, Die Entstehung der Bibliotheques de gare in Frankreich unter Berücksichtigung der Entwicklung des Eisenbahnnetzes und der gesellschaftlichen Rezeption der Eisenbahn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71668
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