Der an der Lieder-Edda (Sæmundar Edda) interessierte Leser von heute hat viele Möglichkeiten, sich mit ihren Gedichten bzw. Liedern auseinanderzusetzen. In den seltensten Fällen wird er in die mittelalterlichen Handschriften schauen, sondern je nach seinen Sprachkenntnissen in Editionen oder Übersetzungen lesen. Diese Arbeit möchte auf einen Unterschied zwischen dem Codex Regius und den Editionen, auf denen schließlich die Übersetzungen fußen, aufmerksam machen.
Einige Gedichte im Codex Regius bestehen aus Fließtext und Sprecherwechselinformationen in den Randnotizen, wogegen die Editionen, die den Fließtext in Strophen und Prosaabschnitte auflösten, die Randnotizen nicht als solche darstellen, sondern sie unterschiedslos zwischen den Strophen eingearbeitet haben. Der Unterschied wird zwar in der Forschung – meist als bloße Auflistung der Textgestalt – erwähnt, aber vielfach ignoriert.
Doch diese Randnotizen bedürfen mehr Aufmerksamkeit. Es stellt sich die grundlegende Frage, ob die Randnotizen für das Verständnis des Textes notwendig sind, oder ob ein Leser diese zusätzlichen Informationen nutzen kann, um die Gedichte einem Publikum lebendig vorzulesen?
Durch eine formale Analyse soll hier die Struktur des handschriftlichen Textes am Beispiel der Lokasenna, die mit ihren zahlreichen Sprecherwechseln und Randnotizen für diese Fragestellung gut geeignet ist, genauer untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorbetrachtungen: Handschrift, Editionen und Forschung
2.1. Strukturierungsmerkmale im Codex Regius
2.2. Editionen der Lieder-Edda
2.3. Blick der Forschung auf die Lieder-Edda
3. Grobanalyse des gesamten Codex Regius’
3.1. Lokalisierung der Randnotizen
3.2. Sprecherwechsel im Fließtext und in den Randnotizen
4. Analyse der Lokasenna
4.1. Prosastücke am Anfang und am Ende
4.2. Auftakt der Senna – Erste bis zehnte Strophe
4.3. Das eigentliche Streitgespräch – Elfte bis 54. Strophe
4.4. Abschluß der Senna – 55. bis 65. Strophe
5. Fazit
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der an der Lieder-Edda (Sæmundar Edda) interessierte Leser von heute hat viele Möglichkeiten, sich mit ihren Gedichten bzw. Liedern auseinanderzusetzen. In den seltensten Fällen wird er in die mittelalterlichen Handschriften schauen, sondern je nach seinen Sprachkenntnissen in Editionen oder Übersetzungen lesen. Hierbei greift der Laie sicherlich zu Übersetzungen in seiner Muttersprache, aber auch Wissenschaftler der Mediävistik oder gar Skandinavistik benutzen eher die Übersetzungen bzw. Editionen, als daß sie in den Handschriften oder Faksimiles nachsähen. Die Sæmundar Edda liegt in zahlreichen Editionen und Übersetzungen vor. In Deutschland dominieren die Übersetzungen Simrocks und Genzmers, bei den Editionen ist die Ausgabe von Neckel/Kuhn oftmals der Standard.[1] Diesen und natürlich auch allen anderen Arbeiten kam und kommt somit eine Deutungshoheit zu, hinter der die mittelalterlichen „Originale“ zurückfallen.
Diese Hausarbeit möchte auf einen Unterschied zwischen dem Codex Regius und den Editionen, auf denen schließlich die Übersetzungen fußen, aufmerksam machen. Einige Gedichte im Codex Regius bestehen aus Fließtext und Sprecherwechselinformationen in den Randnotizen[2], wogegen die Editionen, die den Fließtext in Strophen und Prosaabschnitte auflösten, die Randnotizen nicht als solche darstellen, sondern sie unterschiedslos zwischen den Strophen eingearbeitet haben. Der Unterschied wird zwar in der Forschung – meist als bloße Auflistung der Textgestalt – erwähnt, aber vielfach ignoriert. Die Randnotizen sind nach Meinung des Verfassers ein Strukturmerkmal der Handschrift und verdienen genauere Beachtung. Ziel der Hausarbeit ist es, anhand des Beispiels der Lokasenna die mögliche Bedeutung der Randnotizen in Abgrenzung zum Fließtext zu erkunden. Hierzu stützt sich die Arbeit auf Terry Gunnells The origins of drama in Scandinavia und interpretiert die Randnotizen als Regieanweisungen für eine Aufführung bzw. Lesung mit verteilten Rollen. Dies bedeutet, daß die Informationen der Randnotizen nicht wesentlich für den Inhalt der Senna wären. Vielmehr sollte der Betrachter einer Aufführung bzw. der Zuhörer eines Vorlesens den Inhalt ohne diese Zusatzinformationen verstehen können.
Hierzu wird in einem ersten Schritt über die Strukturierung des Eddatextes und den möglichen Sinn der Randnotizen im Codex Regius nachgedacht. Kontrastiv dazu werden die Darstellungen der Editionen abrißartig vorgestellt. Die Vorbetrachtungen enden mit einem Blick auf die Forschung bezüglich der Edda-Lieder und ihren Randnotizen. Anschließend wird die Handschrift auf die Position und Anzahl der Randnotizen untersucht. Dieser grundlegenden Untersuchung und Überlegung schließt sich eine genaue Analyse der Lokasenna an, die sich ausschließlich auf den Codex Regius selbst bezieht. Es wird hierbei versucht, den Text ohne die zusätzlichen Informationen der Randnotizen zu verstehen und die einzelnen Sprecher zu identifizieren. Eine inhaltliche Analyse der Senna und eine Deutung der Wörter werden nicht vorgenommen.
2. Vorbetrachtungen: Handschrift, Editionen und Forschung
2.1. Strukturierungsmerkmale im Codex Regius
Die mittelalterlichen Handschriften der Lieder-Edda[3] geben trotz des absatzlosen, fortlaufenden Textes zahlreiche Hinweise, wie das Textcorpus strukturiert ist. Die Editionen und darauf aufbauend auch die Übersetzungen übernehmen weitgehend diese Hinweise. Die Auflösung des hintereinander geschriebenen Textes in den Editionen geht auf Metrik und Formalia zurück, so daß in allen gängigen Editionen der Text in Strophenform vorliegt.
Im Codex Regius findet man viele unterschiedliche formale Hinweise, die eine Strukturierung möglich machen. Der Text wird durch rote Überschriften und rote Initialen, die auf ein neues Lied bzw. einen neuen Prosatext hinweisen, durchbrochen. Die heutige Bezeichnung der Liednamen geht größtenteils auf diese Überschriften zurück. Außerdem fallen Großbuchstaben am Rande des Textes auf, die zwar eindeutig zum Text gehören, aber trotzdem außerhalb des Satzspiegels stehen. Ihre besondere Aufgabe konnte ich nicht erschließen, denn ihre Positionierung erscheint auf den ersten Blick wahllos. Allerdings könnten sie zusammen mit den Großbuchstaben im Satzspiegel zur formalen Einteilung der Strophen dienen. Die Verteilung der Punkte läßt ebenso auf eine Unterteilung der Strophen schließen, aber auch hier gilt, daß die Punkte dafür zu wahllos im Text erscheinen. Zwischen den Punkten und Großbuchstaben ließ der Schreiber einen deutlich erkennbaren Spatium. Diese drei Informationen (Punkt, Spatium und Großbuchstabe) zusammengenommen sind schließlich ein deutlicher Hinweis für einen Strophenwechsel. Ein letzter, leicht zu erkennender formaler Hinweis sind die Randnotizen, die nur bei einigen Liedern verwendet wurden. Über sie und ihre Aufgabe wird in der Eddaforschung nur wenig diskutiert, vielmehr ignoriert man ihre außergewöhnliche Positionierung[4] und nimmt sie als bloße Textinformation wahr. Auffallend jedoch ist, daß die Randnotizen immer nur einen Sprecher bzw. Sprecherwechsel als Information beinhalten.[5] Jedoch kann ein Sprecher bzw. Sprecherwechsel auch im Fließtext angegeben werden. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob die unterschiedliche Position der Sprecherangabe unterschiedliche Bedeutungen hat bzw. ob die Gedichte mit Randnotizen sich von den übrigen Gedichten hinsichtlich ihres Ursprungs abgrenzen.
2.2. Editionen der Lieder-Edda
Es existiert eine Fülle an Editionen der Lieder-Edda.[6] Der Codex Regius ist ein codex unicus, und somit berufen sich alle Editionen auf ihn und nur ergänzend auf die jüngeren Papierhandschriften. Jede Edition interpretiert die Informationen der Quellen, womit zwangsläufig ein gewisser Informationsverlust einhergeht. Die handschriftlichen Buchstaben werden normalisiert, die Abkürzungen aufgelöst, die Schreibung nach unterschiedlichsten Vorstellungen angeglichen und – wie bereits gesagt – der Text neu strukturiert. All dies dient der Erleichterung des Lesens. Und dennoch liegen viele Probleme und Gefahren darin.
Ein genauerer Blick wird auf die Edition von Neckel/Kuhn (51983) geworfen, die dichter am Codex Regius als die meisten anderen Editionen ist. Sie ist heutzutage zu einem Standardwerk geworden und wird in den meisten Fällen, d. h. in den wissenschaftlichen Beiträgen, als Textgrundlage benutzt.[7] Wie alle Editionen stützt sie sich auf den Codex Regius. Die Reihenfolge der Lieder in der Handschrift wird vollständig eingehalten. In der Edition werden zwei Formen von Überschriften verwendet. Der einfache Fettdruck steht für Zwischenüberschriften wie denen der Prosaabschnitte (u. a. Frá Loka und Frá Ægi og goðum) und fettgedruckte Großbuchstaben (u. a. LOKASENNA) leiten die Lieder ein. Ergänzungen stehen kursiv.[8] Die Randnotizen in der Lokasenna wurden zentriert über die Strophen gesetzt, so daß sie ein Teil des Haupttextes geworden sind. Insgesamt ist die Edition, die zusätzlich eine Nummerierung der Strophen vornahm, eine detailreiche Wiedergabe der Lokasenna aus dem Codex Regius. Einzig die Nichtachtung der Randnotizen in eine ungenaue Fußnotenaussage[9] ist bedauernswert.
Festzuhalten bleibt, daß die Editionen nur bedingt die formalen Aspekte des Codex Regius einhalten. Die Information, wie ein Sprecherwechsel in der Handschrift eingeführt wurde, wird in den Editionen gar nicht oder nur vage weitergetragen. Die Randnotizen wurden sicherlich aus Darstellungs- und Verständnisgründen in den normalen Textfluß eingegliedert. So kommt kein Leser auf die Idee, über den Sinn der Randnotizen in Abgrenzung zum Sprecherwechsel im Fließtext nachzudenken. Die Editionen sind für eine solche Untersuchung ungeeignet. Die Übersetzungen, deren Ziel es sicherlich nicht ist, alle Details der Handschrift zu berücksichtigen, haben verständlicherweise auch diesen Informationsverlust.
2.3. Blick der Forschung auf die Lieder-Edda
Die intensivste Auseinandersetzung mit der Lieder-Edda erwartet man zurecht in einem Kommentar. Der Kommentar zu den Liedern der Edda von Klaus von See und anderen ist ein umfangreiches Werk. Allein zur Lokasenna existiert eine 145 Seiten lange Analyse. Zu den Randnotizen heißt es unter anderem:
Die Sprecher der Strophen sind in R [Codex regius] am Rande abgekürzt verzeichnet, beispielsweise l. q. (Loki qvað ‚Loki sprach’), nur in Strophe 43 ist die Sprecherangabe – Bygvir (d. h. Byggvir) – in den fortlaufenden Text eingeschoben. Durch Beschneiden der Hs. am Blattrand sind die Sprecherangaben bis auf wenige Reste verlorengegangen.[10]
[...]
[1] Im Lexikon der altnordischen Literatur von Simek/Pálsson stehen unter dem Eintrag Lieder-Edda die Übersetzungen von Simrock und Genzmer und die Edition von Neckel/Kuhn. Siehe beispielsweise McKinnell, S. 261, „Unless otherwise stated, all quotations from eddic poems are from Edda. Die Lieder des Codex Regius. 1962. (Ed. G. Neckel, 4th edn. rev. H. Kuhn.)”.
[2] In dieser Arbeit wird mit Randnotiz nicht eine bloße Korrektur, sondern die Vermerkung eines Sprecherwechsels verstanden. Korrekturen am Rande des Fließtextes sind die Ausnahme und werden im folgenden vernachläßigt.
[3] Die sogenannte Lieder-Edda ist heute in Form des Codex Regius’ (13. Jh.) und einiger Papierhandschriften aus dem 15. und 16. Jh. erhalten. Grundlage für die Aussagen des Kapitels ist: Konungsbók Eddukvæða. Codex Regius, GL. KGL. SML. 2365 4to, hrsg. von Vésteinn Ólason & Guðvarður Már Gunnlaugsson (Íslensk Miðaldahandrit, Manuscripta Islandica Medii Aevi, Bd. III, hrsg. vom Arnamagnaeanischen Institut), Reykjavík 2001.
[4] Ironischerweise steht die Information über die Randnotizen in allen Editionen nur in der Fußnote. In den Forschungsbeiträgen wird die formale Seite häufig bezugslos abgehandelt. Siehe beispielsweise Söderberg (1987), S. 20, „Dessutom förekommer i marginalen en del talarangivelser.”
[5] Die Randnotizen bestehen immer, daß heißt, wenn sie nicht beschnitten worden sind, aus zwei Buchstabeneinheiten. Die erste ist eine Abkürzung für den Sprecher, z. b. Ó. für Odin, die zweite ist die Abkürzung q. für kvað, ‚sprach, sagte’.
[6] Die erste Edition stammt von Sophus Bugge (1867). Danach folgten die Ausgaben von Finnur Jónsson (1888), Barent Sijmons (1906), Hugo Gering (41922), Gustav Neckel (²1927) und Ursula Dronke.
[7] Die Edition heißt mit vollem Titel Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Sie erfüllt wahrscheinlich am ehesten den wissenschaftlichen Anspruch. Auf jeden Fall hat sie die Randnotizen strukturell weitaus besser erfaßt als beispielsweise die Arbeiten von Sijmons, Bugge und Finnur Jónsson.
[8] Vgl. Locasenna in Neckel/Kuhn, S. 96-110.
[9] Vgl. Neckel/Kuhn, S. 96, „Die sprecher der strophen waren in R meist am Rande abgekürzt bezeichnet...“, Die Unterstreichung ist von mir. Trotzdem ist die Bearbeitung diesbezüglich durch die Kursivschreibung klarer als beispielsweise die von Bugge oder Sijmons, die nur mit Hilfe von Fußnoten über die Randnotizen und eigene Ergänzungen zur Identifizierung der Sprecher Auskunft geben.
[10] Eddakommentar, S. 364.
- Quote paper
- Fabian Schwabe (Author), 2006, Randnotizen und Sprecherwechsel in der Edda-Handschrift Codex Regius am Beispiel der Lokasenna , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70776
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