Beweglichkeit und Kinder ist das nicht eine unzertrennliche Einheit? Sind nicht Kinder die Bewegungsspezialisten? Wer an Kinder denkt, der stellt sich Wesen vor, die ununterbrochen in Bewegung sind. Sie tollen, laufen, rennen, spielen, toben, raufen, klettern, balancieren und springen. Aber warum haben dann bereits Kinder im Vorschulalter motorische Defizite? Es scheint so, als hätte die Kindheit in den letzten Jahren eine Wandlung durchlaufen. In vielen Medien, darunter auch Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Hintergrund, wird mit einer steten Regelmäßigkeit über Kinder berichtet, die unter Herz-Kreislauf-Schwächen, Haltungsproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten, Verhaltens- und Wahrnehmungsstörungen sowie Bewegungsauffälligkeiten leiden (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2004; Robert Koch Institut, 2004; WIAD-Studie II, 2003; Zitzmann/ Universität Flensburg, 2003). Es wird sogar referiert, dass die Kinder nicht einmal mehr „(…) richtig rückwärts laufen können“ (Kretschmer/ Giewald, 2001, S. 44). „Etliche können nicht mehr klettern, balancieren oder rückwärts gehen“ (Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 145). Auch wird über das Auftreten von typischen Erwachsenenkrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht (Adipositas) und Rückenbeschwerden berichtet. Die oben genannten Veröffentlichungen beschreiben nicht nur die einzelnen Probleme, sondern liefern die Gründe und die Schuldigen gleich mit: Eltern, die zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen, unqualifizierte und überforderte Erzieher /innen, unzeitgemäße Konzepte in den Kinderbetreuungseinrichtungen, Abnahme von Spielflächen für die Kinder und damit verbunden eine Verlagerung des kindlichen Spielens von draußen in die Wohnungen, bis hin zu Schadstoffen in der Umwelt und in den Lebensmitteln. Diese Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen, ohne dass sich an der beschriebenen Situation etwas ändern würde. Aber wie kann man dieser Problematik begegnen? Im Rahmen einer Kooperation mit einer Grundschule zum Thema Bewegungsförderung wurde das Interesse des Autors diesbezüglich geweckt. Ziel dieses Kooperationsprojektes ist es, Kinder durch regelmäßige Bewegungsförderung vor Entwicklungsstörungen zu bewahren, ihre Entwicklung mit kindgerechten Bewegungsangeboten zu fördern. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problem- und Fragestellung
2. Zielsetzung der Thematik
3. Gegenwärtiger Kenntnisstand
3.1 Die veränderte Kindheit
3.1.1 Geschichtliche Entwicklung des Kindheitsbegriffs
3.1.2 Kindheit heute
3.1.2.1 Politische Aspekte
3.1.2.2 Veränderungen der familiären Strukturen
3.1.2.3 Veränderte Bewegungswelt der Kinder
a) Durchstrukturierte Spielzeit
b) ’Verhäuslichung’
c) Raumerleben / ’Verinselung’
d) Medieneinfluss
3.1.3 Veränderte Gesundheit
3.1.3.1 Physische Fitness und Gesundheit
3.1.3.2 Zusammenhang physische Fitness und Unfallhäufigkeit
3.1.3.3 Psychische und motorische Auffälligkeiten
3.1.4 Folgen der veränderten Kindheit
3.2 Bewegungsentwicklung
3.2.1 Bewegung – im evolutionspsychologischen Zusammenhang
3.2.2 Bewegung – nach LEONTJEW und WEINBERG
3.2.3 Bewegung – und physische Entwicklung
3.2.4 Bewegung – und Identitätsentwicklung
3.2.5 Bewegung – und kognitive Entwicklung
3.2.6 Bewegung – Lernen und Erfahrungen
3.2.7 Bewegung – und Wahrnehmungsentwicklung
3.2.8 Bewegung – und Sozialverhalten
3.3 Voraussetzungen für die Durchführung eine Bewegungsangebotes
4. Methodik der Erarbeitung
4.1 Weg des Erkenntnisgewinns
4.2 Kostenberechnung für Kurseinführung
5. Darstellung der Ergebnisse
5.1 Kostendeckung der Kurseinführung
6. Diskussion der Ergebnisse
7. Schlussfolgerungen
8. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Beweglichkeit und Kinder ist das nicht eine unzertrennliche Einheit? Sind nicht Kinder die Bewegungsspezialisten? Wer an Kinder denkt, der stellt sich Wesen vor, die ununterbrochen in Bewegung sind. Sie tollen, laufen, rennen, spielen, toben, raufen, klettern, balancieren und springen. Aber warum haben dann bereits Kinder im Vorschulalter motorische Defizite?
Es scheint so, als hätte die Kindheit in den letzten Jahren eine Wandlung durchlaufen. In vielen Medien, darunter auch Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Hintergrund, wird mit einer steten Regelmäßigkeit über Kinder berichtet, die unter Herz-Kreislauf-Schwächen, Haltungsproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten, Verhaltens- und Wahrnehmungsstörungen sowie Bewegungsauffälligkeiten leiden (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2004; Robert Koch Institut, 2004; WIAD-Studie II, 2003; Zitzmann/ Universität Flensburg, 2003). Es wird sogar referiert, dass die Kinder nicht einmal mehr „(…) richtig rückwärts laufen können“ (Kretschmer/ Giewald, 2001, S. 44). „Etliche können nicht mehr klettern, balancieren oder rückwärts gehen“ (Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 145). Auch wird über das Auftreten von typischen Erwachsenenkrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht (Adipositas) und Rückenbeschwerden berichtet.
Die oben genannten Veröffentlichungen beschreiben nicht nur die einzelnen Probleme, sondern liefern die Gründe und die Schuldigen gleich mit: Eltern, die zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen, unqualifizierte und überforderte Erzieher /innen, unzeitgemäße Konzepte in den Kinderbetreuungseinrichtungen, Abnahme von Spielflächen für die Kinder und damit verbunden eine Verlagerung des kindlichen Spielens von draußen in die Wohnungen, bis hin zu Schadstoffen in der Umwelt und in den Lebensmitteln. Diese Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen, ohne dass sich an der beschriebenen Situation etwas ändern würde. Aber wie kann man dieser Problematik begegnen?
Im Rahmen einer Kooperation mit einer Grundschule zum Thema Bewegungsförderung wurde das Interesse des Autors diesbezüglich geweckt. Ziel dieses Kooperationsprojektes ist es, Kinder durch regelmäßige Bewegungsförderung vor Entwicklungsstörungen zu bewahren, ihre Entwicklung mit kindgerechten Bewegungsangeboten zu fördern.
Bewegung soll einen positiven Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben, das Interesse war geweckt. Doch standen diesbezüglich noch viele Fragen offen im Raum, eine Menge von Unklarheiten galt es näher zu hinterfragen und zu beseitigen.
So viele, dass der Entschluss gefasst wurde die beschriebene Problematik, bezüglich der kindlichen Entwicklung zum Thema dieser Diplomarbeit zu machen und die folgende Problem- und Fragestellung näher zu untersuchen.
1.1 Problem- und Fragestellung
In den letzten Jahren konnte eine Zunahme der körperlichen und kognitiven Defizite bei Kindern im Grundschulalter beobachtet werden.
Nun stellt sich die Frage, wie wird diese Zunahme von Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in der Literatur dargestellt?
Dieser Frage nachzugehen soll Inhalt dieser Arbeit sein.
2. Zielsetzung der Thematik
Um der benannten Problematik ein Fundament geben zu können, bedarf es der genaueren Kennzeichnung der Kategorie Kindheit. Aus diesem Grunde wird der Autor Kindheit, das Verständnis dieses Begriffes sowie die historische Entwicklung vom Kindheitsbegriff näher untersuchen. Ziel ist es, einen Hintergrund für die heutige Situation von Kindern zu liefern, sowie relevante Faktoren einer ganzheitlichen kindlichen Entwicklung zu benennen. Es wird also herausgearbeitet, welche Faktoren Einfluss für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit von wesentlicher Bedeutung sind.
Sehr häufig wird die Notwendigkeit von Bewegung als Grundvoraussetzung einer ausgewogenen kindlichen Entwicklung benannt. Unter diesem Gesichtspunkt soll in dieser Arbeit die Bedeutung von Bewegung für die humane Entwicklung dargestellt werden. Auch gilt es zu untersuchen, ob mangelnde Bewegung im Zusammenhang mit kindlichen Entwicklungsstörungen und -defiziten steht und ob eine Verbindung zwischen ausreichender Bewegung und dem Lernen geknüpft werden kann. Dabei soll herausgearbeitet werden, welche Möglichkeiten im Sinne einer Förderung der ganzheitlichen und kindgerechten Entwicklung bestehen, um der dargestellten Problematik zu begegnen. So liegt das Anliegen darin festzustellen, inwieweit eine bewusste Betreuung dazu führen kann, Kindern eine angemessene Entwicklungsförderung zu ermöglichen, Defiziten entgegen zu wirken bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. Ebenfalls gilt es zu untersuchen, ob Optionen einer solchen Förderung im kommerziellen Sektor der Fitnessanlagen bestehen.
Zu klären ist, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um Kindern eine gesunde, ganzheitliche Entwicklung in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht ermöglichen zu können. ZIMMER (2004) und ROLFF/ ZIMMERMANN (2001) sehen hierbei eine kindgerechte Vielfalt an Bewegungsmöglichkeiten als elementaren Faktor. Über Bewegung eignen sich Kinder nicht nur Fähigkeiten und Kenntnisse über sich selbst an, sie setzten sich, auf diese Art und Weise auch mit ihrer sozialen und ökologischen Umwelt auseinander. Dies ist von nachhaltiger Bedeutung für ihre gesamte spätere Sozialisation und basiert auf den Theorien von PIAGET (1988, 1991, 1992, 2003) und LEONTJEW (1985, 1985a), die besagen, dass soziale und psychische Entwicklung primär über Bewegung initiiert wird.
3. Gegenwärtiger Kenntnisstand
3.1 Die veränderte Kindheit
In diesem Kapitel geht der Autor der Frage nach, was Kindheit eigentlich bedeutet. Dabei wird ein Überblick zum Diskussionsstand in der Forschung zur veränderten Kindheit vermittelt und die Entwicklung des Kindheitsbegriffes anhand wichtiger Merkmale grob beschrieben. Daran anschließend soll dargelegt werden, wie Kindheit heute dargestellt wird, welche Bedeutung ihr in der heutigen Gesellschaft zugemessen und in welcher Art und Weise zur Thematik Kindheit argumentiert und dargelegt wird.
Bei den Überlegungen und Forschungsansätzen grenzen die meisten Kindheitsforscher die Nachkriegszeit und die Wiederaufbauphase Deutschlands von der Zeit des allgemeinen Wohlstandes (etwa seit 1960) ab (vgl. Preuss-Lausitz et al, 1991 S. 13; Rolff/ Zimmermann, 1997, S. 161 ff).
In den folgenden Ausführungen wird nicht auf die besondere Situation körperlich und/oder geistig behinderter Kinder sowie ausländischer Familien und Aussiedlerfamilien eingegangen. Auch auf geschlechtsspezifische Unterschiede in den Bedingungen des Aufwachsens wird kein besonderer Bezug genommen, da im Mittelpunkt des Interesses bedeutsame Aspekte für alle Kinder geltend stehen sollen.
Bei der Betrachtung des Wandels der Kindheit in der Bundesrepublik stellt sich das Problem, dass bis 1989 zwei Staaten mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen auf dem Boden des heutigen Deutschlands bestanden haben. Die Aussagen über frühere Kindheit beziehen sich daher, wie die Kindheitsforschung meist auch, auf die damalige Bundesrepublik und nicht auf die ehemalige DDR. Seit 1989 haben sich die Verhältnisse, in denen Kinder in Ost- und Westdeutschland leben, schnell angenähert, zumal die ehemalige DDR schon vor der Wende in ihrer Gesellschaftsstruktur dem Westen ähnlicher war als den anderen sogenannten Ostblockstaaten. Daher kann auf eine gesonderte Betrachtung der heutigen Kindheit in den neuen Bundesländern verzichtet werden (vgl. Bründel/ Hurrelmann, 1996, S. 113 f; Krüger, 1996, S. 21 & 225).
Diese Skizzierung dient als Grundlage für die Verdeutlichung der kindlichen Bedürfnisse und Voraussetzungen für eine ganzheitliche Entwicklung.
3.1.1 Geschichtliche Entwicklung des Kindheitsbegriffs
In keiner Literatur lässt sich eine eindeutige Definition für Kindheit finden, vielmehr beschreibt der Begriff den biologischen Entwicklungszustand eines Menschen. Im Hinblick auf Bedeutung und zeitlichen Verlauf wird Kindheit sehr unterschiedlich bewertet. Das liegt daran, dass der Begriff Kindheit und die Vorstellung von Kindern immer sehr stark an die gegenwärtigen, gesellschaftlichen Zusammenhänge gebunden und somit ständigen Veränderungen unterworfen sind. Gegenwärtig wird Kindheit wie folgt gesehen: Kindheit ist der Zeitraum im Leben eines Menschen von der Geburt bis zur geschlechtlichen Entwicklung (Pubertät). Kindheit ist dabei mehr ein kultureller, sozialer Begriff als ein biologischer Terminus (vgl. http://de.wikipedia.org, 2006).
Der entscheidende Faktor bei der Definition der Begriffe Kindheit und Kinder ist die Sichtweise der erwachsenen Bevölkerung.
Um diesen Kontext zu verdeutlichen, folgt anschließend eine Beschreibung der geschichtlichen Zusammenhänge des Kindheitsbegriffs. Das Verständnis und die Sichtweise von Kindheit waren im Verlauf der historischen Entwicklung immer wieder sehr starken Wandlungen unterworfen. Seit den Werken von ARIĖS und DE MAUSE zur Kindheitsgeschichte, die in Deutschland in den 1970er Jahren veröffentlicht wurden, ist bekannt, dass sich der Begriff Kindheit erst im 16. Jahrhundert entwickelte, die Kindheitsforschung erlebte zu dieser Zeit einen Aufschwung (vgl. Fölling-Albers, 1995,
S. 9). Noch im Mittelalter existierte Kindheit weder als Begriff noch als Entwicklungsabschnitt. „Kinder gab es natürlich immer, jedoch im Mittelalter beispielsweise war die Lebenssphäre der Kinder von der der Erwachsenen weder räumlich noch kulturell (…) getrennt“ (Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 9). Ohne eine besondere pädagogische Betreuung lernten Kinder alles, was sie zum Leben brauchten und nahmen mit etwa 7 Jahren ihren Platz neben den Erwachsenen ein. Was sie an Wissen und Fertigkeiten benötigten, eigneten sie sich durch Nachahmung und Gewöhnung an (vgl. ebd.).
GRÖßING (1993) stellt fest, dass Kindheit als unerwünschter aber notwendiger Zwischenschritt in der Entwicklung angesehen wurde, den Kinder und Erwachsene notgedrungen ertragen mussten. Aus diesem Grunde galt es diesen Lebensabschnitt möglichst schnell zu überwinden (vgl. ebd. S. 102).
Kindheit erlangte erstmals mit Beginn der Renaissance an Bedeutung und wurde nun zunehmend als spezielle Phase in der menschlichen Entwicklung angesehen. Damals entstand ein gesellschaftliches Interesse an Erziehung. ROLFF/ ZIMMERMANN (2001) betrachten diese Tatsache als Resultat der beginnenden Auslagerung der Produktionsarbeit aus dem ’Großen Haus’ (der Familie). Da es den Kindern an Fähigkeiten, wie Lesen und Schreiben mangelte, wurden sie nun verstärkt als ’lebensunfertig’ dargestellt. Zur Aneignung dieser spezifischen Fertigkeiten und zu ihrer Entwicklung benötigen sie einen besonderen Zeitraum – die Kindheit (vgl. ebd. S. 10 ff).
Für ARIĖS (1988) begründet dieser Entwicklungsverlauf aber auch eine Leidenszeit der Kinder aufgrund der Ausgrenzung aus der Welt der Erwachsenen. Schließlich bestanden im Umfeld der Erwachsenen Möglichkeiten, das der Nachwuchs ungezwungen und unter dem Schutz der Familie aufwachsen konnte.
ARIĖS sieht diese mittelalterlichen Gegebenheiten (Kinder und Erwachsene leben und arbeiten gleichermaßen im ’Großen Haus’) als angemessene Entwicklungsbedingungen an, die sich im Laufe der historischen Entwicklung zu pädagogischen Anstalten veränderten, in welchen Kinder nun eingezwängt lebten (vgl. Wilk/ Bacher, 1994, S. 2 ff; Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 10). DE MAUSE (1980) stellt dagegen Kindheit als evolutionäre Entwicklung dar, als Fortschrittsgeschichte. Er konstatiert, dass den Eltern bis ins
17. Jahrhundert die emotionale Reife fehlte. Dies zeigt sich an Tatsachen wie: Kinder wurden ausgesetzt oder man ließ sie verhungern, Kinder wurden in auswärtige Pflege gegeben oder geschlagen, gequält und sexuell missbraucht. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat dazu geführt, dass diese als immer enger werdend betrachtet werden kann, bis hin zu dem Punkt, an dem sich Eltern gegenüber den Bedürfnissen ihres Nachwuchses und der Erfüllung dieser verpflichtet fühlen (vgl. Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 11). „Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist Kindheit in das Stadium der Unterstützung getreten, in welchem die Eltern versuchen, sich in die kindlichen Bedürfnisse einzufühlen und sie zu erfüllen“ (Wilk/ Bacher, 1994, S. 2).
Eine wiederum andere Meinung vertritt POSTMANN (1983). Für diesen Wissenschaftler grenzte sich Kindheit erst mit der Erfindung der Druckerpresse klar ab und gewann dadurch an Bedeutung. Das Kindheitsalter konnte nur hinter sich gelassen werden, wenn das Erwachsenenwissen durch Erlernen von Lesen und Schreiben erworben war.
(…) wie die Druckerpresse eine neue Symbolwelt schuf, die ihrerseits eine neue Vorstellung von Erwachsenheit erforderlich machte. (…) Indem nun die Kinder aus dieser Erwachsenenwelt vertrieben wurden, musste eine andere Welt entworfen werden, die sie bewohnen konnten. Diese andere Welt nannte man Kindheit (Postmann, 1983, S. 31).
Des Weiteren sieht POSTMANN (1983) den Kindheitsbegriff als ein gesellschaftliches Kunstprodukt, welches es erst seit etwa 400 Jahren gibt und keinesfalls mit einer biologischen Kategorie gleichgestellt werden kann.
EILKIND (1991) knüpft an diese Ausführungen an, er sieht Kindheit durch Zivilisationsstress belastet. „Der Druck schnell erwachsen zu werden, der heute auf die Kinder (…) ausgeübt wird, beginnt schon in den ersten Lebensjahren“ (ebd. S. 24). In diesem Zusammenhang führt er den Erwartungsdruck aus Schule („früh einsetzender intellektueller Leistungsdruck“), Elternhaus und Medien an. Dieser Druck zwingt die Kinder, mit den stetigen Veränderungen umgehen zu lernen und Verantwortung zu übernehmen, der sie noch gar nicht gewachsen sind.
Wie sich erkennen lässt, existieren sehr konträre Sichtweisen über das Verständnis und die Bedeutung des Begriffes Kindheit.
Diese verschiedenen Betrachtungsansätze orientieren sich an den jeweilig gültigen gesellschaftlichen Bildern des Kindheitsbegriffs und sind einem ständigen Wandel unterworfen. Der entscheidende Punkt ist der, dass das Verständnis und die Bedeutung von Kindheit, welches gerade aktuell existiert, das Verhalten eines jeden Erwachsenen gegenüber Kindern mitbestimmt. Somit definieren Erwachsene die jeweilig aktuellen kindlichen Lebensbedingungen.
POSTMANN (1983) stellt fest:
Sie (die Kindheit, der Autor) besitzt eine biologische Grundlage, nimmt jedoch keine reale Gestalt an, solange es keine gesellschaftliche Umwelt gibt, die diese bestimmte Entwicklung auslöst und fördert; solange es kein Bedürfnis danach gibt, dass die Kindheit sich entwickelt. Wenn eine Kultur von einem Medium dominiert wird, das die Absonderung der Kinder verlangt, damit sie unnatürliche, spezialisierte und hochkomplexe Fertigkeiten und Verhaltensweisen erlernen, dann entsteht notwendigerweise auch eine deutlich umrissene Form von Kindheit (ebd. S. 162 f).
Kindheit entsteht also nur im Zusammenhang mit ihrer Notwendigkeit und einem allgemeinen Nutzen für die Gesellschaft. Kinder werden erst dann als gesonderte Gruppe mit spezifischen Bedürfnissen wahrgenommen und als eigenständige Menschen anerkannt, wenn sie aus der Welt der Erwachsenen ausgegliedert werden und als Sonderbereich gelten (vgl. Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 12).
3.1.1 Kindheit heute
In diesem Teilkapitel schließt sich die Bearbeitung verschiedener Aspekte der heutigen Kindheit an. In diesem Zusammenhang wird der Autor die Bedingungen der kindlichen Umwelt besonders hervorheben, da die Entwicklung der Kinder nach bewegungstheoretischem Verständnis immer in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Beginnend mit einigen politischen und gesellschaftlich-historischen Aspekten, welche für das Verständnis aktueller Kindheit von Bedeutung sind, folgt dann die Beschreibung der ökologischen und sozialen Bedingungen heutiger Kindheit. Im Anschluss daran werden aktuelle Parameter für Kindheit aufgezeigt, um die Rahmenbedingungen der kindlichen Lebenssituation zu verdeutlichen (vgl.
Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Kindheit heute (Zitzmann, 2003, S. 2)
3.1.1.1 Politische Aspekte
Kinder wurden in der Evolution lange Zeit nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen, vielmehr als unvollständige kleine Menschen. Im Vordergrund stand die Zukunft als Erwachsener, Probleme des Kindes oder sein Wohlbefinden fanden keinerlei Beachtung. Erst in den 1960er Jahren waren Anzeichen für einen Paradigmenwechsel zu erkennen (vgl. Postmann, 1983, S. 15 ff).
WILK/ BACHER (1994) konstatieren eine veränderte Sichtweise der Kindheit. Nicht mehr als „Werdende“, sondern als „Seiende“ und vollwertige Gesellschaftsmitglieder werden Kinder jetzt in zunehmendem Maße betrachtet, wodurch Kindheit erstmals einen eigenständigen sozialen Status erhält (vgl. ebd. S. 11).
Die UN-Resolution 4425 (Bundesgesetzblatt 7/ 1993: Übereinkommen über die Rechte des Kindes), schreibt in Artikel 3, Absatz (1) vor, dass „(…) das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. In Artikel 12, Absatz (1) wird den Kindern die freie Meinungsäußerung sowie die Mitgestaltung in den sie betreffenden Angelegenheiten zugesprochen (vgl. ebd. S. 349).
Und auch Artikel 6 des Grundgesetzes befasst sich mit dem Wohl der Kinder: „ (…) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft (…)“ (Deutsches Grundgesetz, 1996, S. 14).
Trotz des Bestrebens eigenständige Rechte für Kinder und Jugendliche im Grundgesetz zu verankern lässt sich festhalten, dass es fast keine Politik und keinen Ministerposten für Kinder und deren Entwicklung gibt.
Bislang werden Kinder von Politik und Gesellschaft nicht als Subjekt mit eigenständigen Rechten angesehen. Kinder sind von allen politischen Rechten ausgeschlossen (vgl. Monath, 2006; Wilk/ Bacher, 1994, S. 349).
3.1.1.2 Veränderungen der familiären Strukturen
Die Familienstrukturen sind in den vergangenen Jahren einem stetigen Wandel unterworfen. Die veränderten Vorstellungen des Zusammenlebens von Erwachsenen und daraus resultierend höhere Scheidungszahlen und ein Anstieg der allein erziehenden Mütter und Väter sind deutliche Indikatoren dafür (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, 2005).
„Die Kleinfamilie mit der typischen Ausprägung Vater, Mutter und zwei Kinder erlebte ihren Höhepunkt in historischer Perspektive in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts“ (Hurrelmann, 1994, S. 84).
GRÖßING/ GRÖßING (2002) konstatieren diesbezüglich:
Die Herkunftsfamilie ist kleiner geworden, Ein-Kind-Haushalte und Zwei-Generationen-Familien sind ebenso im Zunehmen, wie der allein erziehende Elternteil (…). Die traditionelle Ehe ist in Auflösung begriffen, Lebensabschnittspartner bilden immer häufiger die Familiengrundlage und ein Drittel aller Kinder in Mitteleuropa wächst als Scheidungskind auf (ebd. S. 13).
Und auch ROLFF/ ZIMMERMANN (2001) stellen fest:
Seit den 60er-Jahren zeigen die familienstatistischen Trends in eine andere Richtung: Die Eheschließungszahlen sinken, die Scheidungsrate nimmt zu, die Anzahl kinderloser Ehen ebenfalls, (…), die Anzahl allein erziehender Eltern wächst, und heutige Kinder wachsen vermehrt ohne Geschwister auf. (…) (weil, der Autor) immer mehr Kinder berufstätige Mütter haben (ebd. S. 20).
Diese Entwicklung gründet auf vielfältigen Ursachen: Wertewandel in der Gesellschaft, strukturelle Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, veränderte Vorstellungen von Partnerschaft und Ehe bis hin zur Auflösung traditioneller sozialer Gemeinschaften.
HURRELMANN (1994) beschreibt die elterliche Situation zusätzlich folgendermaßen: „(…), müssen sich die Eltern aus vielen selbstverständlichen Lebensgewohnheiten abmelden und vielfältige soziale und ökonomische Nachteile auf sich nehmen“ (ebd.
S. 98). Nicht jedes Mitglied der Gesellschaft ist bereit, dies zu tun.
In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die klassische Familie (Ehepaar und mindestens ein Kind) immer noch den größten Anteil an den Erziehungsgemeinschaften besitzt. Sie ist und bleibt für Kinder im Grundschulalter die wichtigste und einflussreichste Sozialisationsinstanz (vgl. Bründel/ Hurrelmann, 1996, S. 121).
Nicht zu vernachlässigen ist aber die Tatsache, dass der Anteil von Patchwork-Familien (Erziehungsgemeinschaft Unverheirateter mit Kindern aus vormaliger/en Ehe/n) zugenommen hat (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend).
Auch die Gründe für das Bekommen von Kindern unterliegen einem Wandel. So hat der Nachwuchs nicht mehr als Versorger im Alter oder als Führer des Familiennamens Bedeutung, sondern vielmehr liegt der Grund für ein Kind nunmehr in der Sinnerfüllung des eigenen Lebens. „Kinder haben heute im Wesentlichen einen hohen emotionalen Wert für ihre Eltern“ (Hurrelmann, 1994, S. 98).
Auch die durchschnittliche Kinderzahl hat sich verändert, der Trend geht hin zur Einkindfamilie.
Dieser Verlauf gibt den Eltern die Möglichkeit einer engeren Beziehung zu ihrem Kind, welche sich in höherer emotionaler Zuwendung und in intensiverer Förderung des Nachwuchses äußert (vgl. Größing/ Größing, 2002, S. 13 f; Rolff/ Zimmermann, 2001,
S. 39 f). In diesem Sachverhalt zeigt sich für BERTRAM (1996) und GRÖßING/ GRÖßING (2002) allerdings die Gefahr einer negativen Tendenz, die kindliche Entwicklung betreffend. Sie nehmen an, dass Geschwisterlosigkeit zu einer Verminderung der Sozialbeziehungen führt.
Als Folgen werden eine egoistische Orientierung des Einzelkindes, verringerte Kontakte und verminderte Bindung an nicht familienzugehörige Personen, bis hin zum Verlust der Solidarität genannt (vgl. Bertram, 1996, S. 261 ff; Größing/ Größing, 2002, S. 14).
Es gilt jedoch, nicht in pauschale Antworten, betreffs Sozialisation von Einzelkindern zu verfallen, weil nicht behauptet werden kann, dass ihre Situation eine bessere oder schlechtere gegenüber Geschwisterkindern ist, sie ist zunächst einmal eine andere (vgl. Nave-Herz, 1994, S. 65 ff in Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 32).
3.1.1.3 Veränderte Bewegungswelt der Kinder
Die Buchautorin Astrid Lindgren (1977) beschreibt ihre Jugend wie folgt: „In unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es ein reinstes Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben“ (ebd. unter http://efraimstochter.de).
Von den Straßen und Plätzen, Höfen und Wiesen hat sich das Spielen der Kinder weitgehend auf Spielplätze, in Turnhallen und Therapieräume verlagert.
Bei diesem Spiel sind in der Regel Erwachsene präsent, die das Spiel bestimmen oder beeinflussen.
Auch die Spielplätze sind von Erwachsenen geplant und angelegt, die Kinder bekommen das Spiel von Pädagogen vermittelt, die kindlichen Bedürfnisse werden oftmals nicht erfüllt, leider gibt es nicht immer Alternativen dazu (vgl. Beins/ Cox, 2001, S. 22 f; Zeiher, 1995, S. 184 f).
Die Lebensumwelt heutiger Kinder ist von Einschränkungen und Gefahren geprägt. Dieser Umstand lässt sich mit stark zunehmender Technisierung und Motorisierung, Bebauung freier Flächen und damit Verlust von natürlichen Spiel- und Bewegungsräumen, unsinnigen Spielverboten, intensiver Landwirtschaft und zunehmendem Medienkonsum begründen.
„Für Kinder bedeutet dies, dass sie einen Großteil ihres Alltags in einer Umwelt aufwachsen, deren kognitives Anregungspotenzial als verarmt (…) anzusehen ist“ (Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 80).
Im Folgenden wird dieser Aspekt und die daraus möglichen resultierenden Folgen für die kindliche Entwicklung (Aneignung der Lebensumwelt, Persönlichkeitsentwicklung, Freizeitverhalten) genauer beleuchtet.
a) Durchstrukturierte Spielzeit
Zeit wird für Kinder immer stärker zu einem knappen Gut, zu einer Ressource, mit der sie haushalten müssen. „Die Uhrzeit bestimmt, wann, wie lange, wie schnell und in welcher Reihenfolge Aufgaben und Pflichten zu erledigen sind. Dabei lernen Kinder auch, Zeit im Sinne von ’Zeit ist Geld’ zu behandeln“ (Rolff/ Zimmermann, 2001, S. 168).
Ehrgeizige Eltern schematisieren und organisieren die Zeit ihrer Kinder, vermitteln ihnen das Gefühl, dass Zeit kostbar ist und sinnvoll (in erster Linie produktiv) genutzt werden muss. Kinder werden immer weniger so akzeptiert, wie sie sind, sie werden zum Zielpunkt ehrgeiziger und planvoller Bemühungen: Es gilt, möglichst alle Mängel zu beseitigen und alle Anlagen zu stärken. Kinder sollen frühzeitig auf ihre gesellschaftliche Karriere vorbereitet werden. „Erfolg und Versagen (…) werden heute als entscheidende Vorbedingungen zumindest für die Sicherung des sozialen Status der Herkunftsfamilie, möglichst für Prozesse des erwünschten sozialen Aufstiegs, gewertet“ (Hurrelmann, 1994, S. 129). So finden sich Kinder heute in zahlreichen Trainings, Kursen und Förderprogrammen wieder und sogenannte Spielpädagogen bringen ihnen bei, wie sie ihre (selbst bestimmte) Freizeit verbringen sollen.
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- Arbeit zitieren
- Andy Voigt (Autor:in), 2006, Empirische Untersuchung ausgewählter Aspekte zum gegenwärtigen Kenntnisstand der körperlichen und kognitiven Defizite bei Kindern im Grundschulalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70387
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