Illettrismus ist ein soziales Problem in unserer Informations- und Kom-munikationsgesellschaft. Illettrismus bedingt sich aus einer Kombina-tion von belastenden sozialen Verhältnissen, schulischen Bedingungen, bei denen zu wenig individuelle Förderung stattfindet sowie zu wenig praktizierten Lesegewohnheiten. Dabei spielen die sozialen Beziehun-gen im Umfeld eine wesentliche Rolle. Das Risiko für Illettrismus steigt, wenn Personen aus einem bildungsschwachen Milieu stammen, über eine geringe Ausbildung verfügen, wenn sie zudem fremdspra-chig sind sowie allgemein mit zunehmendem Alter. Handlungsräume und Orientierungsmöglichkeiten der Betroffenen sind eingeschränkt. Aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwächen werden sie etikettiert, ab-gewertet und erfahren in vielen Bereichen Ausgrenzung. Oft leidet das Selbstwertgefühl der Betroffenen. In der Schule muss individuellere Förderung zur Prävention von Illettrismus stattfinden. Eltern und Leh-rerschaft müssen sensibilisiert werden, Kindern ein anregendes Lern-Umfeld zu bieten. Für Betroffene braucht es mehr öffentlich bekannte Angebote und Weiterbildungsmöglichkeiten, die professionell geleitet und evaluiert werden müssen.
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG
1.1 HINWEISE ZUM METHODISCHEN VORGEHEN
1.2 BEDEUTUNG FÜR DIE SOZIALE ARBEIT
2 BEGRIFFSKLÄRUNGEN
2.1 PRIMÄRER ANALPHABETISMUS
2.2 SEKUNDÄRER ODER FUNKTIONALER ANALPHABETISMUS
2.3 ILLITERALITÄT
2.4 ILLETTRISMUS
3 VERBREITUNG VON ANALPHABETISMUS UND ILLETTRISMUS
3.1 WELTWEITE VERBREITUNG VON ANALPHABETISMUS
3.2 VERBREITUNG VON ILLETTRISMUS IN INDUSTRIENATIONEN
3.3 LESE- UND SCHREIBKOMPETENZEN IN DER SCHWEIZ
3.3.1 Die pädagogische Rekrutenprüfung
3.3.2 Programme for International Student Assessment (PISA)
3.3.3 Die International Adult Literacy Survey (IALS)
3.3.4 Die Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL)
3.4 DIE ROLLE VON IMMIGRANTINNEN UND IMMIGRANTEN
4 ENTWICKLUNG LESEN UND SCHREIBEN
4.1 ENTWICKLUNG LESEN UND SCHREIBEN AB DEM 17. JAHRHUNDERT
4.1.1 Lesefähigkeit
4.1.2 Schreibfähigkeit
4.1.3 Orthographie
4.1.4 Bibliotheken
4.1.5 Geschlechtsspezifische Entwicklung in der Alphabetisierung
4.1.6 Der Einfluss der Kirche auf den Alphabetisierungsprozess
4.2 BEDEUTUNG VON LESEN- UND SCHREIBEN-KÖNNEN HEUTE
4.3 DIE „WIEDERENTDECKUNG“ VON ILLETTRISMUS IN DEN 1980ER JAHREN
5 ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN FÜR ILLETTRISMUS IN DER SCHWEIZ
5.1 ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN FÜR LESE- UND SCHREIBSCHWÄCHEN
5.1.1 Individuelle Faktoren und äussere Umstände
5.1.2 Soziale Verhältnisse
5.1.3 Schule
5.1.4 Leseaktivitäten privat und beruflich
5.2 SOZIODEMOGRAPHISCHE MERKMALE UND LESEKOMPETENZEN
5.2.1 Ausbildung
5.2.2 Ausbildungsniveau der Eltern
5.2.3 Sprache und Ausbildungsort
5.2.4 Geschlecht
5.2.5 Alter
6 AUSWIRKUNGEN VON ILLETTRISMUS
6.1 AUSWIRKUNGEN IM PERSÖNLICHEN BEREICH
6.2 AUSWIRKUNGEN IM SOZIALEN UMFELD
6.3 AUSWIRKUNGEN IM ÖFFENTLICHEN LEBEN
6.4 AUSWIRKUNGEN IM AUSBILDUNGSBEREICH
7 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK
7.1 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
7.2 AUSBLICK
Abstract
Illettrismus ist ein soziales Problem in unserer Informations- und Kom- munikationsgesellschaft. Illettrismus bedingt sich aus einer Kombina- tion von belastenden sozialen Verhältnissen, schulischen Bedingungen, bei denen zu wenig individuelle Förderung stattfindet sowie zu wenig praktizierten Lesegewohnheiten. Dabei spielen die sozialen Beziehun- gen im Umfeld eine wesentliche Rolle. Das Risiko für Illettrismus steigt, wenn Personen aus einem bildungsschwachen Milieu stammen, über eine geringe Ausbildung verfügen, wenn sie zudem fremdspra- chig sind sowie allgemein mit zunehmendem Alter. Handlungsräume und Orientierungsmöglichkeiten der Betroffenen sind eingeschränkt. Aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwächen werden sie etikettiert, ab- gewertet und erfahren in vielen Bereichen Ausgrenzung. Oft leidet das Selbstwertgefühl der Betroffenen. In der Schule muss individuellere Förderung zur Prävention von Illettrismus stattfinden. Eltern und Leh- rerschaft müssen sensibilisiert werden, Kindern ein anregendes Lern- Umfeld zu bieten. Für Betroffene braucht es mehr öffentlich bekannte Angebote und Weiterbildungsmöglichkeiten, die professionell geleitet und evaluiert werden müssen.
1 Einleitung und Fragestellung
In der Schweiz leben heute gemäss den neusten Untersuchungen bis zu 30'000 sogenannte funktionale Analphabetinnen und Analphabeten. Dies scheint auf den ersten Blick eine er- staunlich hohe Zahl zu sein. Mit der allgemeinen Schulpflicht seit 1912 ging man nämlich bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts davon aus, dass jede Person, die die ob- ligatorische Schulzeit abgeschlossen hat, auch genügend gut lesen und schreiben könne, denn im Gegensatz zum Mittelalter, wo Lesen und Schreiben einer Minderheit vorbehalten war, gilt es heute in der westlichen Welt als „Kulturtechnik“ und wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Partizipation an kulturellen Aktivitäten im Alltag, Arbeits- und Lebens- bereich und somit umfassend am gesellschaftlichen Leben ist abhängig vom Beherrschen der Schriftsprache (vgl. STAUFFACHER 1992, S. 19-21).
Als „typische“ Personengruppen, die überhaupt nicht lesen und schreiben konnten, galten im 20. Jahrhundert höchstens noch sogenannte „Randgruppen“ wie Behinderte, Fahrende oder fremdsprachige Immigrantinnen und Immigranten aus 3.-Welt-Ländern, die aus ver- schiedenen Gründen nie eine Schule besuchen konnten. Dass die Wahrnehmung über fremdsprachige Immigrantinnen und Immigranten in der Öffentlichkeit verzerrt ist und Illettrismus vor allem Schweizerinnen und Schweizer betrifft, die ihre Schulbildung in der Schweiz genossen haben, ist längst bekannt (vgl. VEREIN LESEN UND SCHREIBEN FÜR ER- WACHSENE 1987, S. 4-6).
Die Schule hatte und hat die Aufgabe, den Kindern neben anderen Grundfertigkeiten Lesen und Schreiben beizubringen. Seit Bestehen der allgemeinen Schulpflicht nahm man an, das Problem des Analphabetismus beseitigt zu haben. Schweizer Schulen und Bildungsab- schlüsse besassen einen hohen Stellenwert, auch im Ausland. Dass in der Schweiz Kinder im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eher spät eingeschult werden, schien kein Nachteil zu sein.
Seit ein paar Jahren ist es durch Ergebnisse aus verschiedenen Studien und Untersuchungen wie die PISA-Studie vermehrt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, dass es auch in der Schweiz Jugendliche und Erwachsene gibt, die nach Erfüllung der obligatorischen Schulpflicht über ungenügende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Illettrismus scheint in allen westlichen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten wieder eine konstan- te, wenn nicht gar leicht ansteigende Grösse zu sein: Am Ende der obligatorischen Schulzeit ist ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nicht in der Lage, einen einfachen Text zu verstehen und zu interpretieren1 und weiteren 20% gelingt dies nur knapp (vgl. VANHOOYDONCK/GROSSENBACHER 2002, S. 7 und AUFDEREGGEN 1999, S. 20).
Diese neu entdeckten Beeinträchtigungen der schriftlichen Kommunikation scheinen in einem seltsamen Widerspruch zu stehen: Unsere Gesellschaft erhält einerseits immer mehr Zugang zu Information, andererseits findet ein Verlust von Sprachausdrucksvermögen statt. Wirtschaftlicher und sozialer Wandel stellt steigende Anforderungen an Menschen, auch im Bereich ihrer Fähigkeiten, mit schriftlichen Informationen in ihrem Alltag umzugehen. Zwischen diesen Anforderungen und den entsprechenden Kompetenzen der Bevölkerung bestehen Diskrepanzen, wie internationale Studien, wie z.B. die PISA-Studie, die seit den neunziger Jahren durchgeführt werden, zeigen. Das Phänomen Illettrismus ist also heute wieder sehr aktuell.
Weil mich dieses Phänomen interessierte, lautet die Hauptfragestellung:
- Welche Entstehungsbedingungen führen zu Illettrismus in der Schweiz? Daneben lassen sich folgende Nebenfragestellungen ableiten:
- Welche Rolle spielt die Schule bei der Entstehung von Illettrismus? Gibt es schulische Bedingungen und Verhältnisse, welche dieses Phänomen verursachen oder begünsti- gen?
- Welches sind die soziodemographischen Merkmale von Menschen, die ungenügend lesen und schreiben können?
- Welche Auswirkungen hat Illettrismus für die Betroffenen?
1.1 Hinweise zum methodischen Vorgehen
Ziel dieser Diplomarbeit ist es, eine Übersicht über das Thema Illettrismus in der Schweiz zu vermitteln. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf den Entstehungsbedingungen, die zu Illettrismus führen.
Die Wissensaneignung basiert vor allem auf Literatur resp. Ergebnissen von Studien und Untersuchungen. Mit einer hermeneutischen Herangehensweise wird die zum Thema vor- handene Literatur studiert. Dadurch wird die Fragestellung systematisch bearbeitet. Indem Studien aus den letzten fünf bis zehn Jahren herangezogen werden, können auch empirische Daten verwendet und dargelegt werden. Der Inhalt wird in 7 Kapitel gegliedert, die sich wie folgt darstellen:
Nach der Einleitung mit der Fragestellung, der Relevanz des Themas für die Soziale Arbeit und den Begriffsdefinitionen im zweiten Kapitel, zeige ich in Kapitel drei die weltweite Verbreitung von Analphabetismus auf. Anschliessend wird die „Wieder-Entdeckung“ und prozentuale Verbreitung von Illettrismus in einigen ausgewählten Industrienationen darge- stellt. Daraufhin wird der Stand der heutigen Lese- und Schreibkompetenzen in der Schweiz anhand von Ergebnissen aus kürzlich durchgeführten Studien und Untersuchungen beschrieben. Zum Schluss dieses Kapitels gehe ich noch auf die Rolle von Immigrantinnen und Immigranten bei den Ergebnissen ein.
Im 4. Kapitel stelle ich dar, wie sich Lesen und Schreiben seit dem 17. Jahrhundert histo- risch entwickelt hat und welche Bedeutung diese Fähigkeiten in der heutigen Gesellschaft haben. Dabei wird die Entwicklung von Lese- und Schreibkenntnissen in der Bevölkerung in separaten Unterkapiteln beschrieben, da die historische Entwicklung von Lesen nicht mit der Entwicklung von Schreiben gleichzusetzen ist. Kurz erläutere ich auch geschlechts- spezifische Aspekte sowie den Einfluss der Kirche auf den Alphabetisierungsprozess in der Schweiz. Am Ende dieses Kapitels beschreibe ich die „Wiederentdeckung“ von Illettrismus in den 80er Jahren in der Schweiz.
Das Kapitel 5 stellt den Schwerpunkt dieser Arbeit dar. In diesem Kapitel untersuche ich die Entstehungsbedingungen für Illettrismus näher. Einige der in der Literatur vorhandenen Erklärungsansätze wie persönliche, familiäre und schulische Einflussfaktoren werden vor- gestellt. Anschliessend werden die soziodemographischen Merkmale der Personen, die von Illettrismus betroffen sind, näher beschrieben. Es wird aufgezeigt, welchen Einfluss Merk- male wie Ausbildung, Sprache, Geschlecht und Alter auf die Entstehung von Illettrismus haben.
Kapitel 6 beschreibt die Auswirkungen, die Illettrismus im Leben von Betroffenen verursacht. Der persönliche Bereich, das soziale Umfeld, das öffentliche Leben und der Aus- und Weiterbildungsbereich ist dabei betroffen. Es wird dargestellt, wie vielfältig und umfassend die Beschränkungen für die Personen sind, die von Illettrismus betroffen sind.
Im 7. und letzten Kapitel fasse ich die Ergebnisse zusammen und ziehe Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der vorigen Kapitel. Ich führe aus, wo Illettrismus in der Schule und Familie präventiv angegangen werden kann und nenne Massnahmen in der Schule, Familie oder im Aus- und Weiterbildungsbereich, die zur Bekämpfung von Illettrismus getroffen werden können. Im Ausblick zeige ich kurz Schwächen und Lücken in den untersuchten Studien auf und führe auf, welche Zusammenhänge zukünftige Studien untersuchen könn- ten.
Die Literaturliste schliesst diese Arbeit ab.
1.2 Bedeutung für die Soziale Arbeit
Durch die ständige technische Entwicklung wurde es notwendig, den Bildungsstand der ge- samten Bevölkerung anzuheben. Unsere Gesellschaft hat sich zu einer Kommunikations- bzw. Informationsgesellschaft entwickelt. Das Beherrschen von Lesen und Schreiben wird immer wichtiger, um sich in unserer Gesellschaft zu orientieren und an sozialen, kulturellen und politischen Aktivitäten teilzunehmen. Das Beherrschen von Lesen und Schreiben ist also mit gesellschaftlicher Partizipation eng verknüpft, wie dies am Beispiel Ausbildung und Erwerbsarbeit deutlich wird:
Das Ausbildungsniveau ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Betroffene mit ungenügenden Lese- und Schreibkompetenzen haben es heute aller Wahrscheinlichkeit nach schwer, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Niedrige Schulabschlüsse wer- den deklassiert in dem Sinn, dass sie nicht mehr hinreichen für den Eintritt in eine qualifi- zierte berufliche Position und damit für ein bestimmtes Einkommen und Ansehen. Sie wer- den somit faktisch zum Ausschliessungskriterium. Wenn also der Zugang zu Weiterbil- dungsmöglichkeiten aufgrund Lese- und Schreibschwächen beschränkt ist oder von Illettrismus Betroffene nach einer Entlassung weniger gut in neue Arbeitsstellen vermittelt werden können, droht die Gefahr, von qualifizierter Erwerbsarbeit längerfristig ausgeschlossen zu werden. Als Folge davon drohen Armut, Verwahrlosung oder Devianz.
Auch in anderen Bereichen sind Personen mit ungenügenden Lese- und Schreibkenntnissen benachteiligt, da die Teilhabe an kulturellen oder politischen Aktivitäten in der Gesellschaft oft auf schriftlichen Informationen beruht (z.B. politische Wahlen, Fahrpläne, kulturelle Ereignisse, etc.). Wenn Bürgerinnen und Bürger diese Informationen aufgrund mangelnder Lese- und Schreibkenntnissen nicht mehr interpretieren oder verstehen können, werden sie von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt und sind somit sozial benachteiligt.
20% der Schweizer Bevölkerung mit klar ungenügenden und weiteren 20-30% mit geringen Schriftsprachkompetenzen stellen einen grossen Anteil der Bevölkerung dar, die über ungenügende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Durch die Verbreitung dieses Problems kann dies nicht mehr als ein Defizit einzelner Personen gesehen werden, sondern muss als gesellschaftliches, als ein soziales Problem definiert werden, das in der Gesellschaft noch weitgehend tabuisiert ist.
Hier muss Soziale Arbeit ansetzen. Ihre Aufgabe ist es, Illettrismus als soziales Problem zu erkennen und die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren, damit Möglichkeiten zu Austausch und Diskussion geschaffen werden. Die Integration von sozial Benachtei- ligten in unsere Gesellschaft, also auch Personen mit Lese- und Schreibschwächen, muss gewährleistet werden. Der Zugang zu sozialen, kulturellen oder politischen Aktivitäten in unserer Gesellschaft muss für alle bestehen, d.h., den Bedingungen, die zur Ausgrenzung von Menschen führen, muss entgegengewirkt werden. In handlungsorientierten Gebieten der Sozialen Arbeit wie der Familienhilfe oder der Schulsozialarbeit haben Fachkräfte aus Sozialarbeit oder Sozialpädagogik die Möglichkeit, mit Betroffenen in Kontakt zu treten und sie auf entsprechende Angebote für Jugendliche und Erwachsene aufmerksam zu machen, wo diese ihre Lese- und Schreibkenntnisse verbessern können. Familien müssen in ihren sozialen Problemen dahingehend unterstützt werden, ihnen bei der Lösung derselben behilflich zu sein, damit zu Hause ein anregendes Lern-Umfeld frei von Belastungen ge- schaffen werden kann.
Als Wissenschaft ist die Soziale Arbeit gefordert, Illettrismus als soziales Problem wahrzunehmen, zu definieren, öffentlich bekannt zu machen und somit einen Diskurs über dieses Phänomen in Gang zu setzen. Für die Zukunft braucht es Konzepte, die der Prävention und Bekämpfung von Illettrismus dienen.
Bereits gibt es erste wissenschaftliche Ansätze, die die Zusammenhänge zwischen gesell- schaftlichen Aktivitäten und ungenügenden Lese- und Schreibkenntnissen untersucht ha- ben. Das ungenügende Beherrschen von Lesen und Schreiben hat demnach in der Schwei- zer Bevölkerung einen direkten Zusammenhang mit geringeren gesellschaftlichen Aktivitä- ten wie den Besuch von Bibliotheken, der Mitarbeit in einer gemeinnützigen Organisation, das Verfolgen von politischen Ereignissen, der Beteiligung am Arbeitsmarkt oder einer erhöhten Gefahr der Arbeitslosigkeit (vgl. NOTTER/BONERAD/STOLL 1999, S. 141-170).
Die Zusammenhänge zwischen Lese- und Schreibschwächen und gesellschaftlicher Partizi- pation oder Auswirkungen für die Betroffenen benötigen jedoch noch weitere wissenschaft- liche Untersuchungen. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, die Zusammenhänge zwi- schen Lese- und Schreibschwächen und den Auswirkungen, abweichendem Verhalten oder gesellschaftlicher Partizipation der Betroffenen wissenschaftlich weiter zu untersuchen. So- mit können auch Konzepte für die Prävention sowie Massnahmen für bereits Betroffene entwickelt werden.
2 Begriffsklärungen
2.1 Primärer Analphabetismus
Der Begriff „Analphabet/in“ leitet sich vom griechischen Wort άναλφάβητος ab - wörtlich bezeichnet er eine Person, die weder Alpha noch Beta kennt, die also des Lesens und Schreibens unkundig ist. 1792 erschien das Wort im Juristischen Wörterbuch eines Notars, was darauf schliessen lässt, dass es im juristischen Sprachgebrauch verwendet wurde. In der deutschsprachigen Literatur erscheint der Begriff Analphabet/Analphabetin nicht vor dem 20. Jahrhundert. Analphabetinnen und Analphabeten können also nicht lesen und schreiben, weil sie das Alphabet, also die einzelnen Buchstaben, nie gelernt haben. Diese Art von Analphabetismus wird auch als primärer Analphabetismus bezeichnet. In industria- lisierten Ländern ist der Anteil an primären Analphabetinnen und Analphabeten tatsächlich eher gering und es existieren kaum Untersuchungen dazu. Analphabetismus ist eine kultur- abhängige und historisch wandelbare Grösse. Mit der Einführung der allgemeinen Schul- pflicht in der Schweiz galt das Problem des Analphabetismus als behoben und es wurde lange Zeit keine Erhebungen zur Analphabetenquote gemacht. 1912 galt als alphabetisiert, wer seinen Namen schreiben konnte. Die Anforderungen an das Beherrschen von Lesen und Schreiben sind gewachsen. Heute wird an anderen Kriterien gemessen, wer als alpha- betisiert gilt2 (vgl. GENZ 2004, S. 40-55).
2.2 Sekundärer oder funktionaler Analphabetismus
Es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs Analphabetismus und es finden sich verschiedene Definitionsansätze mit jeweils anderem Schwerpunkt:
a) Lese- und Schreibkenntnisse: Analphabetinnen und Analphabeten sind Menschen, die einen einfachen, kurzen Text im Zusammenhang mit ihrem täglichen Leben nicht verste- hend lesen und schreiben können. Diese Definition wird seit 1958 von der UNESCO ver- wendet (vgl. STAUFFACHER 1992, S. 18 und VANHOOYDONCK/GROSSENBACHER 2002, S. 25).
b) formales und effektives Bildungsniveau: Hier ist die Anzahl Schuljahre, die eine Person absolviert hat, entscheidend, d.h. ob ein Mensch das Leistungsvermögen einer bestimmten Schulstufe erreicht hat oder nicht. In England wird die Grenze folgendermassen gezogen: Wer beim Lesen und Schreiben das Niveau eines Drittklässlers bzw. einer Drittklässlerin nicht erreicht, gilt als funktionaler Analphabet bzw. funktionale Analphabetin. In der ehemaligen BRD galt der Hauptschulabschluss, der normalerweise mit 16 Jahren erreicht wird, als Messgrösse (vgl. GRISSEMANN 1984, S. 66 und STAUFFACHER 1992, S. 18).
c) Bewältigung des Alltags: Jemand ist funktional alphabetisiert, wenn ihn oder sie die vorhandene Lese- und Schreibfähigkeit in die Lage versetzt, sich erfolgreich bei allen kulturellen Aktivitäten zu engagieren, die normalerweise in der Gesellschaft Lese- und Schreibfähigkeit voraussetzen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Funktionieren in der Gesellschaft (vgl. STAUFFACHER 1992, S. 18f).
d) Beteiligung am gesellschaftlichen Leben: Funktionaler Analphabetismus bedeutet die Unterschreitung der gesellschaftlichen Mindestanforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache, deren Erfüllung Voraussetzung ist zur sozial streng kontrollierten Teilnah- me an schriftlicher Kommunikation in allen Arbeits- und Lebensbereichen. Dieser Ansatz ist umfassend und bezieht sich auf die ganze Lebenssituation der Betroffenen (vgl. OP. CIT., S. 19 und GRISSEMANN 1984, S. 64).
Der Begriff funktionaler Analphabetismus wird heute in der Schweiz im Zusammenhang mit jugendlichen und erwachsenen Menschen gebraucht, welche die Schule besucht haben, also somit das Alphabet gelernt haben, aber trotzdem nicht über genügend Lese- und Schreibkenntnisse verfügen, um den Alltag selbständig und ohne Probleme bewältigen zu können.
Im Folgenden beziehe ich mich auf die unter a) beschriebene Definition der UNESCO, wenn ich die Begriffe funktionale Analphabetinnen oder funktionale Analphabeten nenne, da mir diese Definition am einleuchtendsten erscheint.
2.3 Illiteralität
Der Begriff Illiteralität bzw. Literalität ist vom lateinischen illitteratus abgeleitet und bezeichnet einen Unstudierten bzw. Un=Nichtgelehrten, der weder Lesen noch Schreiben kann. In der eingedeutschten Form erscheint der Begriff Illiteralität Anfang des 19. Jahrhunderts, allerdings nicht ausdrücklich in Bezug auf die Lese- und Schreibfähigkeit, sondern meint eine fehlende philologische und klassisch-humanistische Bildung. In Deutschland erscheint der Begriff zunächst in griechisch-deutschen Wörterbüchern und bezeichnet eine Person, die das Alphabet nicht kennt (vgl. GENZ 2004, S. 48f).
Es gab von einigen Autoren den Versuch, den Begriff des funktionalen Analphabetismus durch Illiteralität zu ersetzen, abgeleitet durch den anglo-amerikanischen Begriff „illiteracy“, welcher die englische Übersetzung des Begriffs Analphabetismus bezeichnet. Diese Bezeichnung hat sich aber in der Fachliteratur nicht durchgesetzt.
Das Wort „Literalität“ taucht in der in Kapitel 3.3.3 beschriebenen Studie „Adult Literacy and Lifeskills Survey“ (ALL) auf. Die ALL-Studie bezieht sich auf Fachkreise, die Lite- ralität wie folgt definiert haben: Die Literalität ist die Fähigkeit, das geschriebene Wort zu nutzen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eigene Ziele zu erreichen und das eigene Wissen und Potential weiter zu entwickeln (vgl. URL: http://www.portal-stat.ad- min.ch/all/french/pdfs/synthese_de.pdf, S. 12 [Zugriffsdatum 3.7.06]).
2.4 Illettrismus
Da Begriffe wie funktionaler Analphabetismus oder sekundärer Analphabetismus von vie- len Personen als negativ konnotiert empfunden werden, wird in der neueren Literatur zu diesem Thema der aus dem Französischen übernommene Begriff Illettrismus verwendet3. Illettrismus ist ein Phänomen, das in Industrieländern vorkommt, in denen der Schulbesuch während rund 8-9 Jahren obligatorisch ist. Der Begriff umschreibt die Tatsache, dass es Erwachsene gibt, die der Landes- oder Regionalsprache mächtig sind und zumindest der Dauer nach normal zur Schule gingen und trotzdem jene Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die ihnen der obligatorische Unterricht hätte vermitteln sollen, nur ungenügend oder kaum beherrschen. Sie haben Schwächen in einem, zwei oder allen dieser Kompetenzbereiche. Oft stehen beim Begriff Illettrismus die Kompetenzen im Bereich Le- sen im Vordergrund4 (vgl. VANHOOYDONCK/GROSSENBACHER 2002, S 20-23, S. 33 und URL: http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=289 [Zugriffsdatum 1.7. 06]).
3 Verbreitung von Analphabetismus und Illettrismus
3.1 Weltweite Verbreitung von Analphabetismus
Laut der UNESCO können weltweit fast 1 Milliarde Menschen, nämlich jede dritte Frau und jeder fünfte Mann, weder lesen noch schreiben. Um diesem Umstand Abhilfe zu leisten, rief die UNESCO das Jahr 1990 als Jahr der Alphabetisierung aus. Das Ziel war es, im Rahmen eines grossen Projektes, bis zum Jahr 2000 den Analphabetismus weltweit abzuschaffen. Dafür wurden 5.8 Millionen Dollar aufgewendet, also der Betrag, den Industrienationen in zwei Tagen für Waffen ausgeben. Damit sollte vor allem Kindern in armen Ländern Schulunterricht ermöglicht werden (vgl. KAZIS 1991, S. 9f).
Die Quote der Alphabetisierten ist zwar ständig gestiegen, aber das Ziel wurde bei weitem nicht erreicht. Die Schweizerische UNESCO-Kommission verfolgt nun ein Ziel, das im Rahmen des Weltbildungsforums im Jahr 2000 zusammen mit den anderen beteiligten Ländern vereinbart wurde: In den nächsten zehn Jahren soll die Analphabetenquote welt- weit halbiert werden. Die 113 Millionen Kinder auf der Welt, die keine Schule besuchen, sollen Zugang zur Grundbildung erhalten. Ein weiteres Ziel ist es, Gleichheit zwischen den Geschlechtern beim Zugang zu Bildung zu erreichen (vgl. URL: http://www.unesco.ch/ work-d/bildung.htm [Zugriffsdatum 26. Juli 06].
Analphabetismus ist oft in ökonomisch armen Ländern verbreitet, in denen ein Grossteil der Bevölkerung keinen Zugang zu Schule und anderen Bildungsinstitutionen hat. Auch andere Gründe wie Krieg, extreme Armut, fehlende Mobilität etc. können dafür verantwort- lich sein, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung in Drittweltländern nicht lesen und schreiben lernt. Analphabetismus scheint dort oft als Normalität zu gelten. Viele Länder, speziell in Schwarzafrika, weisen eine enorme Analphabetenquote von 40%, 50%, ja bis zu 90% auf (vgl. KAZIS 1991, S. 9-11).
Je ärmer ein Land ist, desto geringer ist dort die Chance für die Bevölkerung, in diesem Land lesen und schreiben zu lernen. Der ökonomische Reichtum eines Landes ist also oft eng mit der Analphabetenquote verknüpft. Allerdings gibt es Ausnahmen. In einigen Län- dern wie Kongo, Äthiopien, Zambia, Zimbabwe, Sri Lanka und Thailand ist die Analphabe- tenquote niedriger als es die ökonomische Situation des jeweiligen Landes nahe legen wür- de. Ebenso gibt es umgekehrt Länder, die trotz ihres Reichtums, z.B. aufgrund grosser Ölvorkommen, eine recht hohe Analphabetenquote haben. Insgesamt sind weltweit mehr Frauen als Männer von Analphabetismus betroffen, ausser in Lesotho oder Jamaika, wo viele Männer abwandern und es mehr Frauen als Familienhäupter gibt. Dort ist die Anzahl der Analphabetinnen geringer als erwartet. In den meisten Drittweltländern aber können rund 20 Prozent mehr Frauen als Männer nicht lesen und schreiben. In vielen schwarzafri- kanischen Ländern sind sogar fast 80 Prozent der Frauen Analphabetinnen (vgl. OP. CIT., S. 175f).
3.2 Verbreitung von Illettrismus in Industrienationen
Aber, anders als man denken würde, gibt es auch in den so genannten Industrieländern ca.
42 Millionen Menschen, die mit Lesen und Schreiben Mühe haben, sogenannte funktionale Analphabetinnen bzw. funktionale Analphabeten. So soll es in den USA etwa 3 bis 4 Mil- lionen Menschen geben, die aufgrund mangelnder Lese- und Schreibkompetenzen an den soziokulturellen Aktivitäten ihrer Gesellschaft nicht teilhaben können. Eine vom US-ameri- kanischen Kongress veröffentlichte Untersuchung brachte zutage, dass jede fünfte erwach- sene Person in den USA nicht einmal die Zeitung lesen könne. Nach dieser Studie konnten 16% der weissen, 44% der schwarzen und 56% der spanisch sprechenden Bevölkerung nicht viel mehr als ihren Namen sowie einfache Sätze lesen und schreiben (vgl. OP. CIT, S. 9-11 und AUFDEREGGEN 1999, S. 13f).
In Europa gaben noch 1979 Länder wie Frankreich, Luxemburg und die BRD an, das Problem des Illettrismus’ nicht zu kennen, als der Bildungsausschuss des Europäischen Parlaments die Mitgliedsländer der damaligen Europäischen Gemeinschaft bat, ihre jeweilige „Analphabetenquote“ bekannt zu geben. Die Schulpflicht wurde als Garantie dafür gesehen, dass jede Person, die die obligatorische Schulpflicht absolviert hatte, gut lesen und schreiben könne (vgl. EGLOFF 1997, S. 10-13).
In Grossbritannien wurde bereits nach dem 2. Weltkrieg, in Frankreich ab Ende der sieb- ziger Jahre und in der Schweiz in den 80er Jahren über Illettrismus gesprochen. Der erste offizielle Bericht zum Thema Illettrismus wurde in Frankreich 1984 veröffentlicht.
[...]
1 Die Betroffenen sind zum Beispiel nicht in der Lage, aus einem einfachen Text Informationen zu entneh- men, wie beispielsweise die empfohlene Dauer der Einnahme eines Medikamentes aus dem Beipackzettel.
2 Siehe die Begriffserläuterungen im nachfolgenden Kapitel.
3 Daher wird auch in dieser Arbeit der Begriff Illettrismus als Beschreibung des Phänomens verwendet. Da je- doch für Betroffene kein Substantiv existiert, das sich aus dem Begriff Illettrismus ableitet und um einen ge- schmeidigen Lese- und Schreibfluss zu ermöglichen, verwende ich im Folgenden trotzdem die Bezeichnung funktionale Analphabetinnen bzw. funktionale Analphabeten für Personen, die von Illettrismus betroffen sind.
4 Da die meisten später vorgestellten Studien sich vor allem die Lesekompetenzen der Teilnehmenden konzentriert haben, liegt auch in dieser Arbeit der Schwerpunkt auf den Lesekompetenzen.
- Arbeit zitieren
- Claudine Haller (Autor:in), 2006, Illettrismus - ein soziales Problem? Zu den Entstehungsbedingungen und Auswirkungen eines wiederentdeckten Phänomens in der Schweiz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70338
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