Postpartale psychische Erkrankungen fallen in einen Lebensabschnitt, der im Allgemeinen als glückliches Ereignis betrachtet wird. Gefühle der Traurigkeit lassen sich mit der Geburt eines Kindes nur schwer vereinen. In unserer Gesellschaft herrscht diesbezüglich ein Mythos vor, der den noch unerfahrenen Müttern suggeriert, dass sie in dieser Phase so glücklich sein müssen wie noch nie in ihrem Leben. Diese Annahme erweist sich in der Realität oftmals als Trugschluss.
Mit einer Auftrittswahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent sind depressive Störungen im Wochenbett keine Seltenheit, sondern sie zählen zu den häufigsten postpartalen Komplikationen, die ersichtlich werden. Dieser Umstand lässt sich vor allem auf die zahlreichen biologischen und psychosozialen Veränderungsprozesse zurückführen, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen.
Es ist somit durchaus nachvollziehbar, dass Frauen in dieser Schwellensituation zur Mutterschaft eine erhöhte psychische Vulnerabilität ausgebildet haben, die den Ausbruch einer postpartalen Erkrankung begünstigen kann. Das Störungsbild, was sich diesbezüglich verzeichnen lässt, ist sehr umfassend und weit ausdifferenziert. Die drei klassischen postpartalen Krankheitsformen umfassen den Baby-Blues, die Wochenbettdepression und die Wochenbettpsychose.
Postpartale Erkrankungen fallen in einen Zeitraum, indem Säuglinge fundamental auf die Bedürfnisbefriedigung ihrer primären Bezugsperson, die in der Regel durch die Mutter verkörpert wird, angewiesen sind. Vor allem in den ersten Lebensmonaten ist die psychische Entwicklung eines Kindes noch extrem störungsanfällig, weshalb man eine Erkrankung post partum, als erhöhtes Risiko einstuft.
Angesichts der zahlreichen Belastungsfaktoren, die mit einer mütterlichen Depression einhergehen, ist eine schnelle, präventive Hilfe unabdingbar, um eine Beziehungsstörung zwischen Mutter und Säugling zu vermeiden.
Das Problem was sich diesbezüglich ergibt ist, dass viele Frauen nur geringe Informationen über dieses Krankheitsbild erhalten, weshalb die damit einhergehende Symptomatik oftmals übersehen wird und somit eine Chronifizierung nach sich zieht. Durch diese Arbeit möchte ich einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Blick für postpartale Depressionen zu öffnen. Die Tabuisierung der Erkrankung und die damit einhergehenden Schuldgefühle, die von vielen Müttern ausgebildet werden, sind ein gesellschaftlich bedingtes Problem, dem nur durch Aufklärung entgegengewirkt werden kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Allgemeine Begriffsbestimmung
2.1 Depressionen
2.2 Pränatal und postpartal/postnatal
2.3 Depressionen in der Postpartalzeit
3. Biologische und psychosoziale Veränderungsprozesse durch den Übergang zur Mutterschaft
3.1 Biologische Faktoren
3.1.1 Körperliche Veränderungen
3.1.2 Hormonelle Umstellungen
3.2 Psychische und soziale Faktoren
3.2.1 Neufindung in die Rolle als Mutter
3.2.2 Partnerschaft und soziale Unterstützung
3.2.3 Beziehung zur eigenen Mutter
3.2.4 Verlusterfahrungen
4. Postpartale depressive Erkrankungen
4.1 Klassifikation
4.2 Postpartale Dysphorie
4.3 Postpartale Depression
4.4 Postpartale Psychose
5. Die Bindungstheorie
5.1 Entwicklungsverlauf von Bindung
5.2 Exploration und sichere Basis
5.3 Das innere Arbeitsmodell
5.4 Konzept der Feinfühligkeit
5.5 Konzept der kindlichen Bindungsqualität „Fremde Situation“
5.6 Adult-Attachment-Interview (AAI)
5.7 Langfristige Effekte früher Bindungsmuster
6. Die frühkindliche Interaktion zwischen Mutter und Kind
6.1 Fantasien über das imaginäre Kind
6.2 Spracherwerb und kognitive Entwicklung
7. Postpartale Depressionen und ihre Folgen für die Kinder
7.1 Psychische Erkrankungen als Familienerkrankungen
7.2 Die Lebenssituation betroffener Kinder
7.3 Auswirkungen von postpartalen Erkrankungen auf die Kinder
7.3.1 Regulationsstörungen in der frühen Kindheit
7.3.1.1 Folgen des exzessiven Schreiens
7.3.2 Störung der Mutter-Kind-Interaktion
7.3.2.1 Still-face-Situation
7.3.3 Deprivationsverhalten
7.4 Schutzfaktoren für die psychische Entwicklung
8. Hilfs- und Interventionsmöglichkeiten
8.1 Ressourcenorientierung in der Sozialen Arbeit
8.2 Psychoanalyse im sozialen Feld
8.3 Gesetzliche Grundlagen
8.4 Kooperation Jugendhilfe und Psychiatrie
8.5 Präventive Hilfsangebote
8.5.1 Geburtsvorbereitungskurse
8.5.2 Edinburgh Postnatal Depression Scala (EPDS)
8.5.3 Feinfühligkeitstraining
8.6 Interventionsangebote für Mütter und ihre Kinder
8.6.1 Schreibaby-Ambulanz
8.6.2 Modellprojekt „Patenschaften“
8.6.3 Kindergruppenprojekt AURYN
8.6.4 Säuglings-Mutter-Psychotherapie
8.6.5 Stationäre Mutter-Kind-Behandlung
9. Resümee
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Postpartale psychische Erkrankungen fallen in einen Lebensabschnitt, der im Allgemeinen als glückliches Ereignis betrachtet wird. Gefühle der Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Hilflosigkeit lassen sich mit der Geburt eines Kindes nur schwer vereinen. In unserer Gesellschaft herrscht diesbezüglich ein Mythos vor, der den noch unerfahrenen Müttern suggeriert, dass sie in dieser Phase so glücklich, euphorisch und zufrieden sein müssen wie noch nie in ihrem Leben. Diese überaus hohe Erwartungshaltung, die auch viele Frauen an sich selbst stellen, erweist sich in der Realität oftmals als Trugschluss.
Mit einer Auftrittswahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent sind depressive Störungen im Wochenbett keine Seltenheit, sondern sie zählen zu den häufigsten postpartalen Komplikationen, die ersichtlich werden. Schätzungen ergeben, dass die Dunkelziffer noch weitaus höher ist, weil viele Erkrankungen nicht diagnostiziert werden und die Übergänge von einer leichten depressiven Verstimmung zu einer massiven Depression oder Psychose oftmals fließend sind (vgl. Lenz 2005, S. 50). Der Gedanke liegt nahe, dass postpartale Depressionen ein Erscheinungsbild der Neuzeit sind. Diese Aussage ist zu widerlegen, weil sich bereits erste Symptombeschreibungen bei Hippokrates etwa 460 vor Christus finden lassen (vgl. Nispel 2001, S. 11).
Mein persönliches Motiv für dieses Thema
Der Grund, warum ich mich in meiner Diplomarbeit für das Thema „postpartale Depressionen und ihre Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung“ entschieden habe, wurde stark durch meine eigene Schwangerschaft geprägt. Im Zuge dessen hatte ich mich im Vorfeld mit den verschiedenen Aspekten einer Schwangerschaft und Geburt intensiv beschäftigt, um einen umfassenden Einblick in diesen Bereich zu erlangen. In diesem Zusammenhang stieß ich auf das Krankheitsbild der postpartalen Depressionen, welches mein Interesse erweckte. Ich setzte mich näher mit diesem Thema auseinander und erkannte sehr schnell, dass in Deutschland kaum einschlägige Literatur vorhanden ist, die sich mit dem Thema der postpartalen Erkrankungen auseinandersetzt. Diese Tatsache ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ein fachliches Interesse für diese Erkrankungsform erst seit den letzten zehn Jahren in Deutschland zu verzeichnen ist, weshalb die wesentlichen Impulse vom amerikanischen Raum ausgehen.
Das Problem was sich diesbezüglich ergibt ist, dass viele Frauen nur geringe Informationen über dieses Krankheitsbild erhalten, weshalb die damit einhergehende Symptomatik oftmals übersehen wird und somit zu einer Chronifizierung führt. Zudem gibt es noch zu wenige geeignete Interventionsangebote, die eine schnelle, präventive Hilfe gewährleisten.
Aufgrund dieser Erkenntnisse reifte der Gedanke, mich im Zuge meiner Diplomarbeit intensiver mit dieser Thematik zu beschäftigen und einschlägige Recherchen vorzunehmen. Vor allem interessierte mich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit sich postpartale Erkrankungen auf die gemeinsame Beziehung zwischen Mutter und Kind auswirken, und welche Folgen sich hieraus ergeben.
Diesbezüglich entwickelte ich einige Fragestellungen, denen ich im Laufe dieser Arbeit nachgehen möchte:
1. Unterscheiden sich die Auswirkungen einer postpartalen psychischen Erkrankung von Depressionen, die zu anderen Zeitpunkten auftreten?
2. Welche Folgen ergeben sich für die Mutter-Kind-Beziehung aus einer zeitlich befristeten Erkrankung im Wochenbett?
3. Welche möglichen Interventionen können an dieser Stelle sinnvoll greifen?
Durch meine Diplomarbeit möchte ich einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Blick für postpartale Depressionen zu öffnen. Die Tabuisierung der Erkrankung und die damit einhergehenden Schuldgefühle, die von vielen Müttern ausgebildet werden, sind ein gesellschaftlich bedingtes Problem, dem nur durch Aufklärung entgegengewirkt werden kann.
Die Gliederung der Arbeit gestaltet sich wie folgt
Zu Beginn möchte ich dem Leser einen einführenden Blick in das Thema der Depressionen gewähren. Diesbezüglich werde ich in Kapitel zwei eine allgemeine Begriffsbestimmung vornehmen, die einen theoretischen Überblick zu dieser Thematik vermittelt.
In Kapitel drei möchte ich mich den biologischen und psychosozialen Veränderungsprozessen zuwenden, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen. In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, dass der Übergang zur Mutterschaft nicht nur als glückliches Ereignis zu verstehen ist, sondern dass zudem zahlreiche Konflikte und Verlusterfahrungen zu Tage treten.
Im darauf folgenden vierten Kapitel zeige ich einen Überblick über die unterschiedlichen Erkrankungsbilder der Postpartalzeit auf. Anhand gängiger Klassifikationen beleuchte ich die postpartale Dysphorie, die postpartale Depression und die postpartale Psychose.
In Kapitel fünf unternehme ich einen ausführlichen Exkurs in das Thema der Bindungstheorie, um mögliche Auswirkungen einer postpartalen Erkrankung auf die Mutter-Kind-Beziehung ersichtlich zu machen.
Der Mutter-Kind-Interaktion wende ich mich in Kapitel sechs zu. Hierbei lege ich meinen Schwerpunkt auf die frühkindliche affektive Phase, die als Grundstock für den weiteren Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind zu betrachten ist.
In Kapitel sieben möchte ich die unterschiedlichen Auswirkungen einer postpartalen Erkrankung auf die Kinder herausarbeiten. Hierbei konzentriere ich mich vornehmlich auf das Säuglings- und Kleinkindalter, wende mich aber auch den langfristigen Folgen zu, die für ältere Kinder relevant sind.
Im Anschluss daran werde ich im achten Kapitel verschiedene Interventions- und Hilfsmöglichkeiten genauer beleuchten, die vor allem im interdisziplinären Bereich angesiedelt sind. Hierbei richte ich meinen Blick auf präventive Maßnahmen sowie auf pädagogische und therapeutische Ansätze, die speziell auf Mütter und ihre Kinder ausgerichtet sind.
In Kapitel neun fasse ich die mir am wichtigsten erscheinenden Gedanken noch einmal zusammen. Dieser Teil dient dazu, meine eigenen Denkansätze zu verdeutlichen und mit dem theoretischen Teil meiner Arbeit in Zusammenhang zu bringen.
Wie ich bereits im Thema meiner Arbeit verdeutlicht habe, beziehe ich mich vorzugsweise auf die Mutter-Kind-Beziehung. Selbstverständlich kommt auch dem Vater eine große Bedeutung zu, die durchaus eine kompensatorische Funktion erfüllt. Somit kann ein feinfühliger Vater protektiv (bewahrend) auf die kindliche Entwicklung einwirken, indem er mögliche Defizite ausgleicht, die sich durch die mütterliche Depression eingestellt haben. Unabhängig von diesem Aspekt möchte ich mich primär der Mutter-Kind-Beziehung zuwenden, aber trotz dieser Tatsache darauf verweisen, dass die ausgleichende Wirkung von anderen Bezugspersonen (Vater, Großeltern, Freunde) nicht außer Acht gelassen werden sollte.
Darüber hinaus wende ich mich hauptsächlich dem Säuglings- und Kleinkindalter zu, weil diese Altersgruppe in besonderer Weise gefährdet ist. Eine postpartale Depression setzt zu einem Zeitpunkt an, indem diese Kinder fundamental auf eine adäquate Bedürfnisbefriedigung angewiesen sind. An dieser Stelle sei aber darauf verwiesen, dass auch ältere Kinder von diesem Krankheitsbild betroffen sind, vor allem wenn sich eine Chronifizierung der Erkrankung einstellt.
Abschließend möchte ich formal darauf hinweisen, dass ich mich dazu entschlossen habe, in der vorliegenden Diplomarbeit die weibliche Schreibweise zu verwenden. Meines Erachtens würde sowohl die beständige Verwendung der Doppelform (der/die Sozialpädagoge/in) als auch der Anhang „In“ (SozialpädagogIn) einen reibungslosen Lesefluss beeinträchtigen. Ich bitte deshalb höflichst, gedanklich die männliche Form hinzuzufügen.
Darüber hinaus habe ich meine eigenen Aussagen im Text kursiv geschrieben, um sie somit besser kenntlich zu machen und gezielt hervorzuheben.
2. Allgemeine Begriffsbestimmung
2.1 Depressionen
Eine Depression (lateinisch: deprimere „niederdrücken“) ist eine psychische Erkrankung, deren Symptomatik sich durch eine bedrückte, niedergeschlagene und pessimistische Stimmung auszeichnet, die häufig mit einem Interessensverlust einhergeht. Internationale Studien belegen, dass Depressionen mittlerweile zu den häufigsten psychischen Erkrankungsbildern zählen, die zu verzeichnen sind. Bereits in Deutschland leiden ca. 10 bis 15 Prozent aller Menschen an depressiven Verstimmungen, wovon jede vierte Person eine schwere psychische Störung entwickelt (vgl. Der Brockhaus Gesundheit 2004, S. 269). Frauen sind deutlich häufiger von Depressionen betroffen als Männern. Die Ursachen werden sowohl biologischen als auch psychosozialen Faktoren zugeschrieben (vgl. Angst/Sellaro 2001, S. 63).
2.2 Pränatal und postpartal/postnatal
Die Bezeichnung „pränatal“ stammt aus dem lateinischen Wortschatz und bedeutet ins deutsche übersetzt „vor der Geburt“. Vorzugweise wird dieser Begriff in der Pränataldiagnostik eingesetzt. Hierbei geht es um vorgeburtliche Untersuchungen, die zur Erfassung von genetischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen beim Fötus dienen sowie zur Früherkennung von Schwangerschaftskomplikationen eingesetzt werden (vgl. Der Brockhaus Gesundheit 2004, S. 974).
Demgegenüber stehen die Begrifflichkeiten postpartal und postnatal, die in der psychiatrischen Terminologie (Fachsprache) gleichbedeutend eingesetzt werden. Aus dem lateinischen abgeleitet, bedeutet „post“ „nach“ und „partus“ steht für die „Entbindung“. Der Ausdruck postpartal bedeutet somit „nach der Entbindung“, wohingegen „natus“, aus dem lateinischen übersetzt, für die „Geburt“ steht. Somit bedeutet postnatal „nach der Geburt“. In der deutschen Fachsprache ist man dazu übergegangen, vorzugsweise den Begriff postpartal zu verwenden, wohingegen sich im englischen Sprachraum der Begriff postnatal durchgesetzt hat (vgl. Rohde 2004, S. 21). Treten innerhalb des ersten halben Jahres nach der Entbindung Symptome einer psychischen Störung auf, dann wird dieser Zeitraum als postpartal bezeichnet.
Es gibt auch vereinzelte wissenschaftliche Meinungen, die diese Zeitspanne bis auf ein Jahr nach der Geburt erweitern (vgl. ebd., S. 27).
Im Hinblick auf die oben ausgeführte gängige Klassifizierung beziehe ich mich in meiner Diplomarbeit ebenfalls auf den Ausdruck postpartal, der an dieser Stelle gleichbedeutend mit dem Begriff postnatal eingesetzt wird.
2.3 Depressionen in der Postpartalzeit
Viele Frauen leiden im Wochenbett unter depressiven Verstimmungen, die durch biologische und psychosoziale Umstellungsprozesse während der Schwangerschaft und der Geburt begünstigt werden (vgl. Der Brockhaus Gesundheit 2004, S. 270). In zahlreichen Studien zu diesem Thema erkannte man, dass das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, zu keinem anderen Zeitpunkt so ausgeprägt ist, wie nach einer Entbindung. Die Erkrankungsrate steigt in dieser Zeit signifikant an, wohingegen das Risiko während der Schwangerschaft an Depressionen zu erkranken, verhältnismäßig gering ist (vgl. Unger/Rammsayer 2001, S. 153).
Die postpartalen psychischen Erkrankungen verfügen über unterschiedliche Ausprägungsgrade, die von einem leichten Stimmungstief bis zu einer gravierenden Depression reichen können (vgl. Dalton 2003, S. 12). In der Regel handelt es sich um eine kurzlebige Erscheinung, die als postpartale Dysphorie (Baby-Blues) klassifiziert wird. Erst wenn sich die Symptomatik verfestigt und über einen längeren Zeitraum andauert, kann sich hieraus eine postpartale Depression entwickeln. Im schlimmsten Fall entsteht eine postpartale Psychose, die mit schwerwiegenden Verhaltensstörungen einhergehen kann. Die hier skizzierten Ausprägungsformen gehören zu den klassischen Störungen der Postpartalzeit. Eine eindeutige Abgrenzung untereinander ist oft schwer zu vollziehen, weil es innerhalb der einzelnen Krankheitsbilder zu zahlreichen Überschneidungen kommt (vgl. Gröhe 2003, S. 41).
Im nachfolgenden Kapitel möchte ich mich mit den zahlreichen biologischen und psychosozialen Veränderungsprozessen auseinandersetzen, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen. Alle Eltern eines neugeborenen Kindes haben mit den Folgen dieses Umbruches zu kämpfen. Die Auswirkungen dieser Belastung werden jedoch unterschiedlich wahrgenommen. Eine Ernüchterung in der Beziehung, Unzufriedenheit, ein eingeschränktes Wohlbefinden, psychosomatische Symptome sowie Depressionen können die Folge sein (vgl. Eckert 1999, S. 71).
3. Biologische und psychosoziale Veränderungsprozesse durch den Übergang zur Mutterschaft
Im Rahmen der psychiatrischen Forschung hat man herausgefunden, dass psychischen Störungen oftmals ein bedeutendes Lebensereignis („life event“) vorausgeht. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sowohl positive als auch negative Erfahrungen als auslösende Faktoren betrachtet werden (vgl. Rohde 2004, S. 35).
Die Geburt eines Kindes stellt solch ein signifikantes Ereignis dar, dass mit zahlreichen Veränderungsprozessen auf biologischer und psychosozialer Ebene einhergeht. Vor allem der Übergang vom kinderlosen Paar zur Elternschaft birgt ein erhöhtes Konfliktpotenzial in sich und wird somit als „normative Krisensituation“ verstanden (vgl. Gloger-Tippelt 1999a, S. 209).
Nach Stern tritt eine Frau – insbesondere eine Erstgebärende – mit der Geburt ihres Kindes in eine neue psychische Organisation ein, die er als „Mutterschaftskonstellation“ bezeichnet. Diese Phase ist vorübergehend, aber in ihrer Dauer durchaus variabel. So kann sie sich über Monate, aber auch über Jahre hin erstrecken. Themen, die während dieser Zeit relevant sind, betreffen die Fähigkeit der Frau für das Leben des Kindes zu sorgen, es hinreichend zu lieben, eine unterstützende Umgebung zu errichten und schließlich die Frage, ob sie sich eine neue Identität als Mutter aufbauen kann. Keine andere Beziehung, die im Vorfeld durchlaufen wurde, wird die Mutter in ihrer gesamten Persönlichkeit so fordern, wie die Verbindung zu ihrem Kind (vgl. Stern 1998, S. 209-211). Diesbezüglich schreibt Stern: „Wenn Sie ein Baby haben, wird es eine Zeitlang bestimmen, woran Sie denken, was Sie befürchten oder erhoffen und wovon Sie träumen. Es wird Ihre Gefühle und Ihr Verhalten beeinflussen und sogar Ihre sinnliche Wahrnehmung und die Art Ihrer Informationsverarbeitung intensivieren. Mit einem Kind werden sich Ihre Vorlieben und Vergnügen und wahrscheinlich auch einige Ihrer Wertvorstellungen ändern. In einer ganz verblüffenden Weise wird es alle Ihre früheren Beziehungen beeinflussen und Sie veranlassen, Ihre engsten Freundschaften zu überdenken und Ihre Rolle in der Geschichte Ihrer eigenen Familie neu zu bestimmen“ (zit. n. Stern/Bruschweiler-Stern/Freeland 2003, S. 10).
Ist eine Frau nicht dazu in der Lage, die an sie gestellten Anforderungen zu bewältigen, so sind Konflikte in der Partnerschaft und in der Mutter-Kind-Beziehung vorprogrammiert (vgl. Jacubeit 2001, S. 94).
3.1 Biologische Faktoren
3.1.1 Körperliche Veränderungen
Mit Beginn der Schwangerschaft setzten im Körper zahlreiche Veränderungsprozesse ein, die durch den rapiden Anstieg der Hormone Östrogen und Progesteron ausgelöst werden. Die Gebärmutter vergrößert sich in der darauf folgenden Zeit um das Vierzigfache ihres regulären Umfangs, damit der wachsende Fötus genügend Platz erhält. Zudem muss sich der Brustraum erweitern, damit die Lungen ihre Kapazität erhöhen können, um genügend Sauerstoff zu produzieren. Während dieser Zeit arbeiten das Herz, die Leber und die Nieren auf Hochtouren, um eine hinreichende Versorgung für Mutter und Kind zu gewährleisten.
Die körperlichen Umstellungen nach der Geburt sind ebenso gravierend wie die der Schwangerschaft. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich wesentlich schneller ereignen. Im Augenblick der Entbindung vollzieht sich ein gewaltiger Veränderungsschritt: vom Zustand der Schwangerschaft zurück zum Normalzustand. Durch diese enorme körperliche Anstrengung während der Entbindung fühlen sich viele Frauen in der darauf folgenden Zeit erschöpft, leer und ausgebrannt. Diese Umstellungsphase birgt ein erhöhtes Krisenpotenzial in sich, weil vielen Frauen die nötige Zeit fehlt, um sich von den Strapazen der Geburt zu erholen. Stattdessen warten neue, völlig unbekannte Anforderungen auf sie, die es zu bewältigen gilt (vgl. Dunnewold/Sanford 1996, S. 69f.).
3.1.2 Hormonelle Umstellungen
Durch die Empfängnis vollziehen sich erhebliche hormonelle Veränderungen, die tief greifende Auswirkungen haben. Der Körper bildet in dieser Zeit größere Mengen der Hormone Östrogen und Progesteron aus, die für die Entwicklung des Fötus von entscheidender Bedeutung sind. Der Wert dieser beiden Hormone steigt auf das Dreißig- bis Fünfzigfache dessen an, was im Normalzustand gebildet wird. Zusätzlich wird das Hormon Prolaktin vermehrt im Körper ausgeschüttet, welches für die Milchproduktion zuständig ist. Viele Frauen fühlen sich durch die Veränderung des Hormonhaushaltes resistenter gegenüber psychischen und physischen Stress, was auf das Hormon Progesteron zurückzuführen ist, dessen Wirkung einem Antidepressivum gleicht.
Bereits wenige Stunden nach der Geburt vollzieht sich ein hormoneller Umschwung, der mit einem rapiden Abfall der Hormone Östrogen und Progesteron einhergeht. Dieser ernorme Rückgang der Hormone wird von einigen Fachleuten als biologisch herbeigeführter Entzug verstanden (vgl. Nispel 2001, S. 64f.). Es liegt somit nahe, dass diese drastische Umstellung ein ausschlaggebender Faktor für das Auftreten von postpartalen Erkrankungen ist. In wissenschaftlichen Untersuchungen hat man diesbezüglich herausgefunden, dass den hormonellen Einflüssen nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden sollte. Vor allem bei der postpartalen Depression und Psychose werden die Hormone als einer von vielen Risikofaktoren angesehen, deren Zusammenwirken eine psychische Erkrankung auslösen kann. Demgegenüber steht der Baby-Blues, dessen Entstehung fast vollständig auf die Veränderung des Hormonhaushaltes zurückgeführt wird (vgl. Rohde 2004, S. 36f.).
3.2 Psychische und soziale Faktoren
3.2.1 Neufindung in die Rolle als Mutter
In unserer heutigen Gesellschaft gibt es keine gefestigten Traditionen mehr, an denen sich junge Mütter orientieren können. Die klar definierten Erziehungsziele der damaligen Zeit verschwinden zunehmend und an ihre Stelle treten individuelle und familiäre Entscheidungsprozesse. Viele Frauen fühlen sich in dieser Situation überfordert und greifen zu Erziehungsratgebern oder bitten Freunde und Verwandte um Hilfe. Oftmals werden sie mit einer Flut gut gemeinter Ratschläge überschüttet, die nicht selten an den Bedürfnissen der Babys vorbeilaufen. Viele Mütter vertrauen in dieser Situation nicht mehr ihrem gesunden Menschenverstand, sondern sie lassen sich weitgehend von äußeren Einflüssen leiten, wodurch sie ihren eigenen Kompetenzen enthoben werden (vgl. http://www.liga-kind.de/pages/401riedesser.htm, S. 1).
In der Öffentlichkeit werden Frauen vornehmlich mit der romantischen Seite der Mutterrolle konfrontiert. Die Schattenseiten, die damit einhergehen, werden nur bedingt aufgegriffen oder sogar vollständig ausgeklammert. Vor allem die Medien fördern dieses Bild. Überall sieht man junge strahlende Mütter mit ihren glücklichen Babys. Eine werdende Mutter bekommt somit den Eindruck vermittelt, dass ein „Leben zu Dritt“ nur durch Harmonie und Zufriedenheit gekennzeichnet ist. Sie unterliegt somit einem erheblichen Trugschluss, der oftmals erst dann ersichtlich wird, wenn die Mutter nach der Geburt mit der Realität konfrontiert wird. Sehr häufig bedeutet dies, dass die junge und noch unerfahrene Mutter mit der neuen Situation zurechtkommen muss, ohne eine haltende Unterstützung von außen zu erfahren (vgl. Nispel 2001, S. 24). Viele Frauen sind zu Beginn erheblich verunsichert in ihrer neuen Rolle als Mutter und vertrauen ihren eigenen Instinkten und intuitiven Kompetenzen nicht mehr. Sie unterliegen dem Bild der perfekten Mutter, das in unserer Gesellschaft vorherrscht und als zeitgebundenes Kulturprodukt zu betrachten ist (vgl. ebd., S. 26f.). Den Frauen wird durch diesen Muttermythos suggeriert, dass sie alleine für das Glück und das Leid ihres Babys verantwortlich sind, woraus dann vielfach eine übertriebene Fürsorglichkeit resultiert. Diese Mütter setzten sich unter einen unrealistischen Erwartungsdruck, der bis zur eigenen Selbstaufgabe führt. Durch diesen hohen Perfektionsanspruch, den sie sich selbst auferlegen, geraten sie schnell an den Rand ihrer Kräfte. Somit wird die erste Grundlage für die Entstehung einer depressiven Erkrankung in der Postpartalzeit geschaffen (vgl. http:// www.liga-kind.de/pages/pap198.htm, S. 2).
3.2.2 Partnerschaft und soziale Unterstützung
Heute wird von vielen Paaren der Zeitpunkt der Elternschaft genau geplant und vorbereitet. Die Vorstellung einer „perfekten und glücklichen Familie“ wird impliziert. Aber durch die Geburt eines Kindes kommt sowohl die individuelle als auch die partnerschaftliche Lebensgestaltung ins Wanken. Es lassen sich zahlreiche Faktoren erkennen, die zu einem erhöhten Konfliktpotenzial führen können (vgl. Nispel 2001, S. 110).
Durch ein Baby wird der Tagesablauf des Paares grundlegend verändert. Eine Reihe von Aufgaben und Pflichten, die mit der Versorgung des Säuglings in Zusammenhang stehen, gehen zu Lasten der gewohnten Lebenssituation und den damit einhergehenden Freizeitaktivitäten, die zum Ausgleich genutzt wurden. Je stärker die Umbrüche im Alltag sind, umso größer ist die Unzufriedenheit der Eltern (vgl. Gloger-Tippelt 1999b, S. 348f.). Darüber hinaus lässt sich eine Verringerung der sozialen Kontakte erkennen, die mit einer zunehmenden Isolation einhergeht. Ehemalige Bekanntschaften zerbrechen und für den Aufbau neuer Beziehungen fehlt oftmals die notwendige Zeit. Viele Mütter empfinden es als extrem schmerzvoll, wenn jahrelange Freundschaften in die Brüche gehen. Durch dieses Defizit geht den Frauen eine sichere und vertraute Basis verloren, die einen stabilisierenden Rückhalt bieten könnte (vgl. Nispel 2001, S. 115f.).
Ein weiterer Faktor, der Krisenpotenzial in sich birgt, ist die Veränderung der Arbeitsteilung, die sich vermehrt in die traditionelle Richtung verschiebt. In der Regel kommt es zu einer geschlechtsspezifischen Ausrichtung, bei der die Mutter die Versorgung des Kindes und des Haushaltes übernimmt und der Vater weiterhin arbeiten geht, um die Existenzsicherung der Familie zu gewährleisten (vgl. Gloger-Tippelt 1999b, S. 347). Diese klassische Rollenverteilung führt dazu, dass viele Frauen ihre Berufstätigkeit aufgeben und somit einen wesentlichen Teil ihrer persönlichen Identität. Darüber hinaus nimmt die Verrichtung häuslicher Tätigkeiten einen sehr geringen Stellenwert in unserer Gesellschaft ein, weshalb viele Mütter ein vermindertes Selbstwertgefühl ausbilden (vgl. Hofecker Fallahpour u.a. 2005, S. 61).
Die zahlreichen Veränderungsprozesse, die mit der Schwangerschaft und der Geburt einhergehen, führen dazu, dass die Frauen ein neues Körpergefühl entwickeln, was wiederum Auswirkungen auf ihre Sexualität haben kann. Die meisten Mütter erleben in den ersten Monaten nach der Entbindung eine sexuelle Unlust, die sowohl psychisch als auch biologisch bedingt ist. Für den Mann entsteht in dieser Zeit ein neues Bild der Frau, was sich von der Geliebten zur Mutter wandelt. Diese neue Situation erfordert erhebliche Verarbeitungsprozesse auf Seiten des Partners. In Längsschnittstudien fand man heraus, dass sowohl die körperliche Zärtlichkeit als auch die Sexualität nach der Geburt abnehmen (vgl. Gloger-Tippelt 1999b, S. 349f.). Im Gegensatz hierzu stellt sich zwischen Mutter und Kind eine sehr innige Verbindung her, die oftmals in diesem Maße vom Vater nicht erfahren werden kann. Diese Tatsache löst bei vielen Männern Gefühle der Eifersucht und des Neides aus. Sie erhalten nicht die Möglichkeit, diese symbiotische Beziehung zu ihrem Kind herzustellen, wie sie z.B. während des Stillvorganges zu beobachten ist. Oft fühlen sich die Väter ins Abseits gedrängt und ziehen sich daraufhin zurück (vgl. Nispel 2001, S. 111f.).
Bei diesen vielfältigen Veränderungsprozessen, mit denen die Eltern konfrontiert sind, verwundert es nicht, dass die Unzufriedenheit in der Partnerschaft sehr hoch ist, was wiederum zahlreiche Konflikte mit sich bringt. Der Wunsch des Paares, die gemeinsame Beziehung durch ein Kind zu bereichern und zu intensivieren, wird auf eine harte Probe gestellt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass viele Eltern unausgesprochen Unterstützung und Verständnis von ihrem Partner erwarten, was jedoch häufig ausbleibt und somit den Druck auf das Familiensystems verstärkt (vgl. ebd., S. 25). Mütter, die sich nicht genügend von ihrem Partner oder ihrer sozialen Umwelt unterstützt und gehalten fühlen, unterliegen einem erhöhten Risiko, an einer postpartalen Depression oder Psychose zu erkranken (vgl. Rohde 2004, S. 41).
3.2.3 Beziehung zur eigenen Mutter
Durch die Geburt eines Babys verändert sich die Beziehung zur eigenen Mutter fundamental. Auf der einen Seite entsteht der Wunsch, sich verstärkt aus ihrer Abhängigkeit zu lösen. Dies geht mit der Vorstellung einher, die Erziehung des eigenen Kindes anders, vielleicht sogar besser zu machen. Auf der anderen Seite erfolgt eine neue Form der Annährung zur Mutter, die auf die veränderte Lebenssituation zurückzuführen ist und mit einer besseren Identifikation einhergeht. Während dieser Phase lassen sich zahlreiche Diskrepanzen erkennen, die mit einem Wechsel aus Autonomie und Abhängigkeit, Loslösung und Stabilität sowie Rivalität und Konformität einhergehen. Diese Ambivalenz innerhalb der Beziehung löst Gefühle der Verunsicherung und Verwirrung auf Seiten der Tochter aus.
Darüber hinaus wird vor allem beim Übergang zur Mutterschaft das Kind in uns aktualisiert, wodurch Erfahrungen und Konflikte der frühren Zeit neu beleuchtet werden. Mit der Geburt des Babys kommt es somit zu einer „Regression auf die orale Phase“, wodurch frühkindliche Gefühle erweckt werden wie der Wunsch, versorgt, genährt, geliebt und bemuttert zu werden. Diese Empfindungen sind um ein vielfaches präsenter und bedeutsamer als in anderen Lebensabschnitten. Sie bilden eine unverzichtbare Grundlage, die es den Frauen ermöglicht, sich emphatisch in ihre Kinder einzufühlen. Trotz dieser Tatsache verspüren viele Mütter den unstillbaren Wunsch, umsorgt zu werden. Leider wird diesem Bedürfnis oftmals keine Rechnung getragen, was Reaktionen der Trauer, Wut, Enttäuschung und Eifersucht zur Folge haben kann. Diese Gefühle können sich schlimmstenfalls gegen den Säugling richten und die Beziehung zwischen Mutter und Kind erheblich gefährden (vgl. Nispel 2001, S. 113f.).
3.2.4 Verlusterfahrungen
In meiner Arbeit wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass sich die Lebenssituation durch ein Kind erheblich wandelt. Der Übergang zur Mutterschaft ist somit als zwiespältiges Unterfangen zu betrachten. Auf der einen Seite eröffnet dieser Aspekt neue Perspektiven und Bereicherungen für die gemeinsame Lebensgestaltung, auf der anderen Seite gehen damit zahlreiche Veränderungsprozesse einher, die bei vielen Frauen ein Gefühl des Verlustes auslösen.
Schaut man sich die Palette der unterschiedlichen Einbußen an, mit denen sich eine Frau auseinandersetzen muss, so sind ihre oftmals ambivalenten Empfindungen durchaus verständlich. Einige Verlusterfahrungen, die sich in dieser Umbruchsphase verzeichnen lassen, sind u.a. ein Wandel der alltäglichen Routine, der individuellen Unabhängigkeit und der gewohnten Paarbeziehung. Darüber hinaus beklagen viele Frauen das Ende ihrer Schwangerschaft, wodurch die enge symbiotische Verbindung zwischen Mutter und Kind schlagartig aufgelöst wird (vgl. ebd., S. 87f.). In der Tiefenpsychologie verweist man darauf, dass die Geburt des Kindes einen Objektverlust darstellt. Die Mutter muss sich von dem Baby in ihrem Bauch verabschieden, wodurch eigene Trennungsängste aktualisiert werden können (vgl. Stauber/Frick-Bruder 2003, S. 1091). Darüber hinaus muss sie sich von ihren Fantasievorstellungen lösen, die sie während der Schwangerschaft von ihrem Kind ausgebildet hat. Der Säugling entspricht unter Umständen nicht ihren Erwartungen in Form von Geschlecht, Aussehen oder Charakter. Nur wenn die Mutter es schafft, das reale Kind mit ihrem Wunschbild zu vereinen, ist sie dazu in der Lage, eine innige Beziehung zu ihrem Baby aufzubauen (siehe Abschnitt 6.1). Ein weiterer Verlust, den die Frau verarbeiten muss, ist der Abschied von ihrer eigenen Kindheit, der mit der Mutterrolle einhergeht. Erinnerungen an frühere Erlebnisse und Erfahrungen werden wachgerufen und das Bedürfnis umsorgt oder bemuttert zu werden wird aktualisiert. In dieser Zeit des Umbruches muss sich die Frau eine neue Identität als Mutter aufbauen, die sich nicht automatisch mit der Schwangerschaft und der Geburt des Kindes vollzieht. Viele Frauen scheitern an dieser komplexen Anforderung und geraten somit in eine Identitätskrise, die mit einem Verlust des eigenen Selbstbildes einhergeht.
Abschließend kann man sagen, dass die oftmals ambivalente Gemütslage der Mütter während dieser Übergangsphase zum Verarbeitungsprozess gehört. Gefühle der Trauer und Freude sind während dieser Zeit untrennbar miteinander verbunden, auch wenn viele Frauen ihre negativen Empfindungen nur schwer akzeptieren können. Gelingt es ihnen nicht, die zahlreichen Verlusterfahrungen denen sie ausgesetzt sind zu überwinden, so können depressive Erkrankungen in der Postpartalzeit die Folge sein (vgl. Nispel 2001, S. 89f.).
Im anschließenden Kapitel möchte ich die drei klassischen Krankheitsbilder der Postpartalzeit genauer beleuchten, auf die ich bereits in Abschnitt 2.3 verwiesen habe. Hierunter fallen die postpartale Dysphorie, die postpartale Depression und die postpartale Psychose.
4. Postpartale depressive Erkrankungen
4.1 Klassifikation
In den letzten zwanzig Jahren hat man anhand von zahlreichen Studien eine Definition für postpartale psychische Erkrankungen gefunden. Anhand dieser Klassifikation lassen sich drei psychogene Störungsbilder unterscheiden. Die postpartale Dysphorie sowie die postpartale Depression und Psychose. Diese Unterteilung in einzelne Bereiche wird anhand des Störungsbeginns, der Dauer und dem Ausprägungsgrad der Symptomatik festgemacht (vgl. Unger/Rammsayer 2001, S. 153).
Eine eigenständige Klassifikation dieser Störungsbilder ist in internationalen Manualen nicht ersichtlich. Im „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM IV) wird lediglich die Zusatzcodierung „mit postpartalem Beginn“ aufgeführt, welche im Bedarfsfall an die Diagnose einer Störung angehängt werden kann, solange diese in einem Zeitraum von vier Wochen post partum auftritt (vgl. Saß u.a. 2003, S. 471f.). Entsprechend hierzu findet man in der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10) die Kategorie F53, die als „psychische oder andere Verhaltensstörung im Wochenbett“ gekennzeichnet ist. Laut ICD-10 soll diese Codierung nur vergeben werden, wenn sich die Erkrankung innerhalb von sechs Wochen post partum herausbildet und keinem anderen Störungsbild zugeordnet werden kann (vgl. Dilling /Mombour/Schmidt 2005, S. 218).
4.2 Postpartale Dysphorie
Für die postpartale Dysphorie gibt es innerhalb der Literatur eine Reihe unterschiedlicher Begrifflichkeiten wie Heultage, Fünftagestränen oder postpartales Stimmungstief. Die Bezeichnung Baby-Blues stammt aus dem amerikanischen Wortschatz und hat sich mittlerweile auch in Deutschland eingebürgert (vgl. Dalton 2003, S. 50).
Die postpartale Dysphorie bezeichnet ein kurzlebiges Stimmungstief, welches in den ersten zwei bis fünf Tagen nach der Entbindung auftritt. Es handelt sich hierbei um eine vorübergehende Verstimmung, die meistens nur einige Stunden oder Tage anhält und sich in der Regel ohne therapeutische Hilfe wieder legt. In der Literatur gibt es erhebliche Schwankungen bezüglich der Auftretungswahrscheinlichkeit. So spricht Riecher-Rössler (1997) von 25 bis 40 Prozent (vgl. Gröhe 2003, S. 41), wohingegen Rohde 50 bis 70 Prozent anführt (vgl. Rohde 2004, S. 32). Charakteristisch für diese Phase sind Symptome wie Weinerlichkeit, Reizbarkeit und eine erhöhte Labilität. Die Mütter unterliegen extremen Stimmungsschwankungen und reagieren sehr emotional auf äußere Einflüsse. So können z.B. anfängliche Stillprobleme, die durchaus als normal einzustufen sind, eine Katastrophenstimmung auslösen. Zudem zeigen sich oft Verunsicherungen im Umgang mit dem Säugling, Erschöpfungszustände sowie eine erhöhte Schlaf- und Appetitlosigkeit. In dieser Phase ist es wichtig, dass den Müttern mit viel Liebe, Geduld und Verständnis begegnet wird, bis sich ihr seelisches Gleichgewicht wieder eingestellt hat. Leider sind solche Bedingungen in der Praxis nicht immer vorfindbar. Das Personal im Krankenhaus hat in der Regel nur einen sehr geringen zeitlichen Spielraum, weshalb die pflegerischen Tätigkeiten im Vordergrund stehen und die Bedürfnisse der verunsicherten Frauen nur unzureichend befriedigt werden können (vgl. Nispel 2001, S. 40-42).
Ursachen
Die Entstehung des Baby-Blues wird fast vollständig auf die Umstellung des Hormonhaushaltes zurückgeführt, der mit einem drastischen Abfall des Östrogens und Progesterons in der Postpartalzeit einhergeht (siehe Abschnitt 3.1.2) (vgl. Rohde 2004, S. 36). Neben diesen biologischen Ursachen dürfen die erheblichen psychosozialen Umstellungen nach der Entbindung nicht außer Acht gelassen werden. In einer Studie von Hartung und Hartung (1997) stellte sich heraus, dass vor allem Erstgebärende vermehrt unter Stimmungsschwankungen in der Postpartalzeit leiden. Darüber hinaus erkannte man, dass ein verlängerter Geburtsverlauf und die damit einhergehende Belastung das Auftreten einer postpartalen Dysphorie begünstigen kann. Diese Tatsache spricht dafür, dass die nachgeburtlichen Erschöpfungszustände und der überwältigende Gefühlseindruck des Geburtserlebnisses ein wesentlicher Auslöser sind. Stillproblematiken, psychische Labilität und Partnerschaftsprobleme begünstigen zudem das Auftreten einer postpartalen Dysphorie.
Riecher-Rössler (1997) verweist darauf, dass Frauen, die unter psychischen Problemen in der Schwangerschaft oder Anamnese gelitten haben, ein erhöhtes Risiko in sich tragen, einen Baby-Blues zu entwickeln (vgl. Gröhe 2003, S. 42f.).
Die postpartale Dysphorie sollte getrennt von der Wochenbettdepression und Wochenbettpsychose betrachtet werden. Die Symptomatik, die damit einhergeht, scheint angesichts der vielfältigen körperlichen und psychischen Belastungen während und nach der Geburt, eine natürliche Reaktion zu sein. Trotz dieser Tatsache birgt auch die postpartale Dysphorie eine gewisse Gefahr in sich, die mit berücksichtigt werden sollte (vgl. ebd., S. 43). In unserer heutigen Zeit wird der Baby-Blues schon fast als „Normalzustand“ angesehen, weshalb ihm oftmals nur eine geringe Bedeutung beigemessen wird. Demzufolge neigen viele Fachleute dazu, alle Beschwerden die im Wochenbett auftreten, als postpartales Stimmungstief abzutun. Diese einseitige und verkürzte Ausrichtung kann dazu führen, dass schwere Erkrankungen in der Postpartalzeit zu spät erkannt werden und somit eine gezielte Behandlung erst erfolgt, wenn sich die mütterlichen Problemlagen manifestiert haben (vgl. Nispel 2001, S. 42f.). In einer Studie von Cox (1986) fand man diesbezüglich heraus, dass etwa ein Viertel der Frauen, die unter einem schweren Baby-Blues leiden, im Anschluss eine postpartale Depression ausbilden (vgl. Gröhe 2003, S. 44).
4.3 Postpartale Depression
Einige Experten sind der Ansicht, dass sich die postpartale Depression (Wochenbettdepression) in ihrer Erscheinungsform und ihrem Verlauf nicht wesentlich von der klassischen Depression unterscheidet, die zu anderen Zeitpunkten auftritt (vgl. Nispel 2001, S. 46).
Die Häufigkeitsangaben der Wochenbettdepression schwanken zwischen 10 bis 15 Prozent, was in etwa jeder 7. bis 10. Entbindung entspricht (vgl. Rohde 2004, S. 32; vgl. Gröhe 2003, S. 48). Von diesen Prozentzahlen wurden aber nur Mütter erfasst, die man aufgrund depressiver Symptome behandelte, was darauf schließen lässt, dass die Dunkelziffer noch weitaus höher ist. In der Regel bildet sich die Symptomatik in den ersten zwölf Wochen nach der Geburt aus. Dieser Prozess kann sich aber in extremen Fällen bis auf ein Jahr hinauszögern. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich der Beginn der Depression nicht schlagartig vollzieht, wie im Fall der postpartalen Dysphorie, sondern meistens schleichend und langsam erfolgt (vgl. Nispel 2001, S. 45f.).
Die Erkrankungsdauer der Wochenbettdepression ist durchaus variabel. Sie kann Tage bis Monate anhalten und im Fall einer Chronifizierung kann sich die Symptomatik sogar über Jahre hin erstrecken (vgl. Wendt/Rohde 2004, S. 296).
Eine depressive und niedergeschlagene Stimmung muss nicht unbedingt zu den ersten Anzeichen einer Wochenbettdepression gehören. In einer Untersuchung, die diesbezüglich durchgeführt wurde, sollten 100 betroffene Frauen die ersten Tage ihrer Erkrankung beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass zu Beginn einer Depression oftmals Symptome wie ausgeprägte Erschöpfungszustände, Schlafstörungen und eine erhöhte Ängstlichkeit stehen (vgl. Dalton 2003, S. 58). Darüber hinaus lassen sich folgende Symptome verzeichnen: ein bedrücktes und niedergeschlagenes Verhalten, häufiges Grübeln, Pessimismus, Konzentrationsstörungen, allgemeines Desinteresse, innere Leere, Energiemangel, Zwangs- und Angstsymptome, Veränderungen des Appetits, somatische Beschwerden und sogar Suizidgedanken (vgl. Nispel 2001, S. 46). Ein entscheidendes Kriterium ist die erhöhte Reizbarkeit, die auch bei anderen hormonell beeinflussten Syndromen (Krankheitsbildern) zu beobachten ist. Betroffene Frauen zeigen ein sehr ungeduldiges und streitsüchtiges Verhalten, dass sich sowohl in verbalen als auch in körperlichen Ausbrüchen äußern kann. Im schlimmsten Fall richten sich die angestauten Aggressionen gegen die Kinder (vgl. ebd., S. 47).
Frauen die unter einer postpartalen Depression leiden, haben oftmals erhebliche Selbstzweifel ausgebildet, die mit einer Identitätskrise einhergehen können. Sie haben das Gefühl, den persönlichen und sozialen Erwartungen nicht gerecht zu werden und in ihrer Rolle als Mutter versagt zu haben (vgl. Dunnewold/Sanford 1996, S. 36).
Ursachen
In empirischen Studien und Meta-Analysen zur Ätiologie (Ursachenlehre der Erkrankungen) ließen sich verschiedene Risikofaktoren erkennen, durch deren Vorliegen Frauen dafür prädestiniert sind, an Wochenbettdepressionen zu erkranken (vgl. Wendt/Rohde 2004, S. 296).
Hormonelle Veränderungen werden von vielen Medizinern nicht mehr als alleiniger Indikator angesehen, sondern als ein Begleitsymptom, das im Zusammenschluss mit weiteren Faktoren eine postpartale Depression auslösen kann (vgl. Rohde 2004, S. 36f.). Gegenwärtige Befunde lassen darauf schließen, dass eine Beteiligung von Östrogen bei der Entstehung von Wochenbettdepressionen nachweisbar ist, besonders bei einer Subgruppe von Frauen, die sehr sensibel auf die Veränderungen des Östrogenhaushaltes reagieren (vgl. Bergemann 2001, S. 146).
Neben den biologischen Ursachen lassen sich zudem psychosoziale Faktoren ausmachen, die eine postpartale Depression begünstigen können. Hierzu zählen vor allem belastende Lebensumstände wie Partnerschaftsprobleme, finanzielle Schwierigkeiten und eine soziale Isolation. Zudem können sich spezifische Persönlichkeitseigenschaften wie ein introvertiertes, ängstliches Verhalten sowie starke Verunsicherungen, Selbstzweifel und Versagensgefühle negativ auswirken (vgl. Wendt/Rohde 2004, S. 296f.). Als gesichert gilt, dass Frauen dafür prädestiniert sind, an einer postpartalen Depression zu erkranken, wenn sie schon während der Schwangerschaft oder in der Anamnese psychische Beschwerden ausgebildet hatten oder familiär vorbelastet sind. Bei etwa einem Drittel der Frauen sind bereits depressive Symptome in der Vorgeschichte aufgetreten (vgl. Gröhe 2003, S. 54). Unterschiedliche Ergebnisse erbrachten Studien, die sich mit dem Einfluss von komplikationsreichen Geburten und dem Auftreten von postpartalen Erkrankungen beschäftigten. Gröhe verweist darauf, dass diese Diskrepanz darauf zurückzuführen ist, dass der Begriff der „geburtshilflichen Komplikationen“ sehr weit zu fassen ist. Darüber hinaus betont sie, dass nicht die medizinische Einschätzung des Geburtsverlaufes, sondern vielmehr das subjektive Geburtserleben der einzelnen Frauen ausschlaggebend ist (vgl. ebd., S. 52). Ein weiterer Einflussfaktor sind die nachgeburtlichen Erschöpfungszustände, die mit einem erheblichen Schlafmangel einhergehen können. Vor allem Säuglinge, die infolge einer mangelnden Selbstregulation exzessiv schreien, können die Belastungssituation innerhalb der Familie erheblich steigern. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Mutter und der Säugling gegenseitig bedingen und somit in eine gemeinsame Stressspirale geraten, die durch eine depressive Verstimmung begünstigt werde kann (siehe Abschnitt 7.3.1) (vgl. ebd., S. 51).
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass postpartale Depressionen oftmals viel zu spät erkannt werden, wodurch ein unmittelbares Eingreifen verhindert wird. Diese Tatsache ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich viele Mütter für ihre Erkrankung schämen und sie infolge dessen verschweigen. Zudem haben manche Frauen ein vermindertes Krankheitsbewusstseins ausgebildet, wodurch die auftretenden Symptome der Depression nicht als solche erkannt werden, sondern als normale Begleiterscheinung der veränderten Lebensumstände angesehen werden (vgl. Wendt/Rohde 2004, S. 297).
Die Wochenbettdepression ist als eine schwere psychische Erkrankung zu betrachten, die erhebliche Störungen in der Mutter-Kind-Bindung mit sich führen kann und somit dringend einer pädagogischen oder therapeutischen Behandlung bedarf (vgl. Brisch 2003a, S. 136).
4.4 Postpartale Psychose
Die postpartale Psychose (Wochenbettpsychose) stellt die schwerste Form einer depressiven Störung dar, die im Wochenbett entstehen kann. Im Zuge dieser psychischen Erkrankung verlieren die betroffenen Frauen den Kontakt zur Realität. Vielfach ist ein komplexer Persönlichkeitswandel zu beobachten, der mit einem akuten Ausbruch der Krankheit einhergeht. In der Regel zeigt sich die Symptomatik in den ersten zwei Wochen nach der Geburt (vgl. Nispel 2001, S. 54). Eine postpartale Psychose ist relativ selten zu verzeichnen und tritt in 0,1 bis 0,2 Prozent der Fälle auf, was in etwa jeder 500. bis 1000. Entbindung entspricht (vgl. Rohde 2004, S. 33).
Nachdem man lange Zeit die postpartale Psychose als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet hat, erkannte man im Zuge der Forschung, dass sich ihr Störungsbild in Form, Verlauf, Ausprägung und Symptomatik nur geringfügig von regulären Psychosen unterscheidet, die zu anderen Zeiten auftreten.
Eine postpartale Psychose wird der Gruppe der Affektpsychosen zugeteilt. Hierbei können sowohl depressive als auch manische und schizophrene Erscheinungsbilder auftreten, die sich in ihrer Symptomatik vielfach unterscheiden (vgl. Gröhe 2003, S. 44).
Die depressive Psychose zeigt sich vor allem in einem niedergeschlagenen, teilnahmslosen und ängstlichen Verhalten. Bezeichnend für dieses Störungsbild sind erhebliche Schuld- und Versagensgefühle, die von den Frauen ausgebildet werden und ihnen das Gefühl vermitteln, in ihrer Rolle als Mutter versagt zu haben.
Demgegenüber steht die manische Psychose, deren Symptomatik sich durch eine übermäßige Antriebssteigerung, innere Unruhe, impulsives Handeln und eine starke Verworrenheit auszeichnet. Charakteristisch für diese Erkrankung ist eine übersteigerte Euphorie bzw. eine manische Stimmung. Aufgrund der erhöhten Aktivität kommen betroffene Mütter nur selten zur Ruhe und leiden somit unter einem verminderten Schlafbedürfnis.
Typisch für die schizophrene Psychose sind Wahnvorstellungen, die mit dem Aufbau einer eigenen Fantasiewelt einhergehen. Die betroffenen Frauen hören Stimmen und sehen andere Personen, die nicht der Realität entsprechen. Viele der auftretenden Halluzinationen beziehen sich auf die Kinder und sind oftmals von religiöser Qualität. Aufgrund dieser Realitätsverzerrung kann es u.a. dazu kommen, dass die Mütter ihre Babys für einen Dämon oder für Jesus halten. In diesem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung schweben die Frauen und ihre Kinder in höchster Gefahr. In diesem Zusammenhang ist es dringend anzuraten, dass betroffene Mütter stationär behandelt werden (siehe Abschnitt 8.6.5).
Diese drei Krankheitsbilder gehen oft ineinander über, weshalb eine eindeutige Abgrenzung untereinander nicht möglich ist. Am häufigsten lässt sich in der Postpartalzeit eine Mischform aus der manischen und schizophrenen Psychose erkennen, die somit als schizo-manische Erkrankung bezeichnet wird. Demgegenüber steht die schizo-depressive Psychose, die als größtes Risiko eingestuft wird, weil mit ihr die häufigsten Suizidversuche einhergehen (vgl. Nispel 2001, S. 54-56).
Ursachen
Mittlerweile wurden zahlreiche Studien durchgeführt, in denen biologische und psychosoziale Risikofaktoren untersucht wurden, die eine postpartale Psychose auslösen können. Hierbei erkannte man, dass Geburtskomplikationen, Zwillingsgeburten, Schwangerschaftsabbrüche, Kaiserschnittentbindungen, Totgeburten sowie Alter und Familienstand der betroffenen Mütter keinen konsistenten Risikofaktor darstellen. Landy u.a. (1989) weisen daraufhin, dass postpartale Psychosen durch frühkindliche Traumata begünstig werden wie Deprivations-, Verlust- und Missbrauchserfahrungen. Hinsichtlich dieser Erkenntnis wird deutlich, dass eine ausschließlich medikamentöse Behandlung nicht ausreicht. Eine Psychotherapie sollte parallel angestrebt werden, um einschneidende Erlebnisse der früheren Zeit aufzuarbeiten. Des Weiteren tragen vor allem Erstgebärende ein erhöhtes Risiko in sich, eine Wochenbettpsychose zu entwickeln. Der konsistenteste Risikofaktor, der ermittelt wurde, ist eine psychotische Erkrankung in der Anamnese. Bei ca. 15 Prozent der betroffenen Frauen kommt es zu einer Reaktivierung der Psychose in der Postpartalzeit (vgl. Gröhe 2003, S. 45).
Als gesichert gilt, dass eine genetische Vererbung eine entscheidende Rolle spielt. In einer hierzu durchgeführten Untersuchung fand man heraus, dass Frauen, die in ihrer Familienanamnese eine postpartale Erkrankung aufwiesen, in 450/1000 Fällen erkrankten, wohingegen Frauen ohne eine familiäre Vorgeschichte nur in 170/1000 Fällen erkrankten (vgl. Brockington 2001, S. 19).
Im Fall einer schweren Depression oder Psychose in der Postpartalzeit ist in der Regel eine stationäre Behandlung notwendig. Bereits nach einigen Tagen lässt sich bei vielen Patientinnen eine Verbesserung der Symptomatik erkennen, die auf eine gezielte medikamentöse Behandlung zurückzuführen ist. Innerhalb weniger Wochen kommt es in der Regel zu einer endgültigen Beschwerdefreiheit (Vollremission). Trotz dieser vollständigen körperlichen Genesung leiden viele der betroffenen Frauen an den Folgeerscheinungen, die mit Unsicherheiten und Ängsten einhergehen. In solchen Phasen ist eine Mutter-Kind-Behandlung anzustreben (siehe Abschnitt 8.6), die den betroffenen Frauen dabei helfen kann, ihre Selbstzweifel abzubauen und neuen Mut zu schöpfen. Bei dieser Behandlungsform kann die Mutter lernen, stückweise die Verantwortung für ihr Baby wieder zu übernehmen, was mit einer Verbesserung der Beziehungsqualität einhergeht (vgl. Rohde 2004, S. 61).
Im nachfolgenden Kapitel unternehme ich einen Exkurs in die Bindungstheorie, der einen umfassenden Einblick in dieses Thema gewähren soll. Um die Auswirkungen einer postpartalen Erkrankung hinreichend beleuchten zu können, ist es unumgänglich, sich mit dem frühkindlichen Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind zu beschäftigen.
5. Die Bindungstheorie
Die Bindungstheorie wurde in den 50er-Jahren durch den Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründet und in der darauf folgenden Zeit durch die Forschungsarbeiten von Mary Ainsworth empirisch erhärtet (vgl. Spangler/Zimmermann 2002, S. 9). In ihr vereinen sich entwicklungspsychologische, ethologische, systemische und psychoanalytische Denkweisen miteinander. Die Annahmen der Bindungstheorie beschäftigen sich vor allem mit den frühkindlichen Einflüssen, die sich auf die emotionale Entwicklung eines Kindes auswirken können. Hierbei versucht sie, die Entstehung und Veränderung von menschlichen Bindungen im gesamten Lebenskontext zu erklären (vgl. Brisch 2003a, S. 35).
Bowlby erhielt im Zuge seiner Tätigkeit als Kinderpsychiater den Anstoß für seine Theorieentwicklung. Hierbei erkannte er, wie sehr emotionale Traumatisierungen, ausgelöst durch frühkindliche Trennungs- und Verlusterfahrungen, die Entstehung von Verhaltensstörungen begünstigen können. Diese Erkenntnis bestätigte ihn in seiner Überlegung, dass die Entwicklung eines Kindes durch frühe Erfahrungen fundamental beeinflusst wird. Seine damalige These besagte, dass der Säugling von Geburt an über ein biologisch angelegtes Verhaltensrepertoire verfügt, was es ihm ermöglicht, innerhalb des ersten Lebensjahres eine emotionale Beziehung zu seiner primären Bezugsperson aufzubauen (vgl. ebd., S. 31).
Die Bindungstheorie stieß zu damaligen Zeiten auf Ablehnung von Seiten der Psychoanalytiker. Dieses ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Bowlby ein neues Konzept entwickelte, was konträr zur traditionellen Theorie der Trieblehre stand. Diese ging davon aus, dass der Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind vor allem auf die orale Befriedigung während des Stillvorganges zurückzuführen ist. Demgegenüber stand Bowlbys Annahme, dass für die Entstehung von Bindung ein eigenes motivationales System verantwortlich ist (vgl. ebd., S. 32).
Heute zählt die Bindungstheorie zu einer der am besten fundierten Theorien, die sich mit der psychischen Entwicklung des Menschen beschäftigt. Diese Tatsache ist auf ihre zahlreichen empirischen und prospektiven Längsschnittstudien zurückzuführen (vgl. ebd., S. 35). Die hierdurch erlangten Forschungsergebnisse besitzen den Vorteil der Replizierbarkeit, können aber im Gegensatz zur Methode der Psychoanalyse nur einzelne Aspekte der jeweiligen Entwicklung oder Persönlichkeit eines Menschen erfassen. Diesbezüglich ist darauf zu verweisen, dass sich die Bindungstheorie über ihre partielle Sichtweise durchaus bewusst ist und betont, dass sie nicht jeden Aspekt der menschlichen Persönlichkeit beleuchten möchte (vgl. Köhler 2003, S. 15). In der Psychoanalyse hat man mittlerweile die Bedeutung der Bindungstheorie erkannt, was die wachsende Zahl gemeinsamer Publikationen verdeutlicht (vgl. Dornes 2002, S. 37). Abschließend kann man sagen, dass das Interesse an der Bindungstheorie in der heutigen Zeit so gegenwärtig ist wie noch nie. Vor allem bindungstheoretische Konzepte und Erklärungsmodelle halten zunehmend Einzug in die praktische Arbeit vor allem im psychosozialen Bereich (vgl. Finger-Trescher/Krebs 2003, S. 7).
5.1 Entwicklungsverlauf von Bindung
Zu Beginn des Lebens ist der Säugling noch allgemein sozial ansprechbar. Seine typischen Verhaltensweisen zeichnen sich durch Lächeln, Brabbeln, Greifen oder die Kontaktsuche mit den Augen aus. In dieser Phase ist das Baby nur sehr begrenzt oder überhaupt nicht dazu in der Lage, verschiedene Personen voneinander zu unterscheiden.
Durch die wachsende Interaktion lernt der Säugling, seine Kommunikationspartner auseinander zuhalten. Er beginnt nun, seine primäre Aufmerksamkeit auf die Mutterfigur zu richten.
Kinder neigen dazu, eine Bindung zu mehreren Bezugspersonen einzugehen. Im Alter von sechs bis sieben Monaten wird ihr Verhalten aber zunehmend kritischer und differenzierter gegenüber den einzelnen Personen, wodurch nicht mehr jeder eine identische Behandlung erfährt. Die einzelnen Bindungsfiguren werden je nach Wichtigkeit in eine Rangordnung einsortiert. Zu Beginn steht immer die primäre Bezugsperson, die in der Regel durch die Mutter verkörpert wird. Das Kind beginnt nun, zielkorrigierte Verhaltenssysteme zu initiieren, mit denen es die Nähe zur Mutter aufrechterhalten kann. Im Zuge dessen vergrößert sich sein Verhaltensrepertoire sowohl durch das Einsetzen des Erkundungstriebes als auch durch das Nachfolgen der weggehenden Mutter und deren Begrüßung.
Bis zum Kindergartenalter entwickelt sich eine komplexere Beziehung zwischen Mutter und Kind, die von Bowlby als „zielkorrigierte Partnerschaft“ beschrieben wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind zunehmend Einblicke in die Gefühle und Motive der Bezugsperson gewinnt. Es erwirbt die Fähigkeit, die Ziele und Pläne der Mutter zu verstehen und sein eigenes Handeln danach auszurichten. Auf dieser Grundlage werden seine Verhaltensweisen flexibler und sein bestehendes Weltbild differenziert sich aus, was auf seine wachsende kognitive Fähigkeit und die damit einhergehenden Erfahrungen zurückzuführen ist (vgl. Bowlby 1975, S. 247-249).
5.2 Exploration und sichere Basis
In der Bindungstheorie wird Bindung als ein eigenständiges System angesehen, das dazu dient, Sicherheit und Schutz zu erlangen. Aber ohne das Bedürfnis des Kindes nach Exploration könnte es seine Umwelt nicht erkunden, um in ihr zu existieren. Aufgrund dieser evolutionsbiologischen Überlegungen werden Bindungs- und Explorationsverhalten als komplementäre Systeme angesehen (vgl. http://www.liga-kind.de/pages/401 grossmann.htm, S. 5). Bowlby betrachtet das Erkundungsbedürfnis, neben dem Bindungswunsch des Kindes, als weiteres motivationales System. Diese beiden Systeme stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander und können somit nie gleichzeitig aktiv sein. Ein Kind kann die nötige Sicherheit für das Explorieren nur erlangen, wenn gleichzeitig die beschützende Nähe zur Mutter hergestellt wird.
Eine sichere Bindung ist somit die Voraussetzung für Neugierde und Erkundungsverhalten, wobei sich der Säugling als effektiv und selbst handelnd erlebt. Das Bedürfnis des Kleinkindes, seine Umwelt zu erkunden, wächst mit zunehmendem Alter. In dieser Phase ist es entscheidend, dass die Mutter dem Erkundungsbedürfnis des Kindes einerseits Raum lässt, aber auf der anderen Seite immer wieder als sichere Basis zur Verfügung steht. Um diese Form der Selbststeuerung zu akzeptieren, die das Kind in Form von Nähe und Distanz vornimmt, bedarf es eines feinfühligen Pflegeverhaltens (siehe Abschnitt 5.4). Sobald das Kind sich sicher gebunden und emotional gehalten fühlt, kann es seiner Neugierde in Form von explorativem Verhalten nachgehen. Bei Gefahr aktiviert sich das Bindungssystem, woraufhin es zu einer Einschränkung des Explorationstriebes kommt. Der Säugling sucht dann den Rückhalt und die Nähe zu seiner Bezugsperson. Aber auch ein übermäßiges Maß an Bindung kann Frustrationen auf Seiten des Kindes hervorrufen, weil ihm hierdurch der nötigte Raum zum Explorieren verweigert wird (vgl. Brisch 2003a, S. 38f.).
Das Explorationsverhalten bildet die Grundlage für die wachsende Aktivität des Kindes. Das sensorische Feld wird durch den Spieltrieb und das Erkundungsverhalten zunehmend erweitert, wodurch das Kind lernt selbstständig zu agieren. Säuglinge richten ihre Aufmerksamkeit auf vertraute Dinge, die sie wieder erkennen. Der Übergang zum Kleinkindalter ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Interesse für die gewohnte Umgebung entwickelt wird, was sich bis zum Kindergartenalter auf die Erkundung fremder und unvertrauter Bereiche ausweitet (vgl. Baacke 1999, S. 140).
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- Quote paper
- Diplom- Sozialpädagogin Stephanie Herrmann (Author), 2006, Postpartale Depressionen und ihre Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69725
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