Eine Reihe von Ereignissen in den Jahren 1989/90/91 hat die politische Landschaft
Deutschlands und der Welt enorm geändert. Im November 1989 fiel die Berliner Mauer, die
die zwei deutschen Staaten physisch und symbolisch voneinander getrennt hatte, somit auch
das kommunistische Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der
Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Im Jahre 1990 gingen die Ereignisse so weit,
dass die vier ehemaligen Besatzungsmächte Deutschlands – die Sowjetunion, die Vereinigten
Staaten, Großbritannien und Frankreich – die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik
Deutschland (BRD) und damit der Transfer des DDR-Gebiets weg vom Warschauer Pakt hin
zum Nordatlantischen Bündnis gebilligt hatten. Diese Vereinbarung war ein Vorbote der
Einstellung des Kalten Krieges im Jahr 1991. Wenige Monate nach dem formellen Ende des
Kalten Krieges löste sich die Sowjetunion auf. Als ‚Nachbeben’ dieses imperialen
Zusammenbruchs gingen in den darauf folgenden Jahren die konstitutiven Nationalitäten
der Tschechoslowakei und Jugoslawiens auseinander. Auf der politischen Landkarte
Europas entstanden mehrere neue Staaten auf den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion,
der Tschechoslowakei und Jugoslawiens. Und parallel dazu fusionierten die ehemalige DDR
und die BRD zu einem Staat.
Trotz dem gegensätzlichen Ausmaße, liegen diesen Ereignissen dieselben Ursachen
zugrunde, nämlich: der Wegfall der Ost-West-Konfrontation, das Scheitern des
kommunistischen Experiments und die Wiederbelebung des ethnischen
Zusammengehörigkeitsgefühls. Unter diesen Umständen kristallisiert sich der souveräne
Nationalstaat als eine attraktive Lösung heraus. Tatsächlich haben seit 1989 viele politische
Kräfte und Bewegungen in Europa dieses altherkömmliche Rezept als Ziel angestrebt, da sie
darin die Lösung ihrer politischen Problemen gesehen haben. Zahlreiche Kommentatoren
sind überzeugt, dass ein Großteil der politisch Aktiven in Europa weiterhin an der Idee des
souveränen Nationalstaates, vielleicht bis zu den nächsten fatalen Konsequenzen oder auch
trotz denen, halten. Aufgrund solcher Einschätzungen haben diese Kommentatoren für das
vereinigte Deutschland vorhergesagt, dass es im Gegensatz zu der noch nicht
vollsouveränen Bundesrepublik in der Periode zwischen 1949 und 1990 mehr Autonomie
und Souveränität im klassischen Sinne anstrebt und einen eher machtpolitisch gefärbten
außenpolitischen Stil annimmt. [...]
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Das Konzept der Großstrategie
2.1 Aus den Fehlern des Realismus lernen
2.2 Eine kurze Geschichte der Großstrategie
2.3 Was ist Großstrategie?
3 Visionen für Deutschland
3.1 Begründung der Auswahl
3.2 „Zivilmacht Deutschland“
3.3 „Zentralmacht Europas“
3.4 „Kerneuropa“ und „europäischer Föderalismus“
3.5 „Finalität Europas“ und „Staatsräson Deutschlands“
4 Bilanz und Perspektiven
Literatur
1 Einleitung
Eine Reihe von Ereignissen in den Jahren 1989/90/91 hat die politische Landschaft Deutschlands und der Welt enorm geändert. Im November 1989 fiel die Berliner Mauer, die die zwei deutschen Staaten physisch und symbolisch voneinander getrennt hatte, somit auch das kommunistische Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Im Jahre 1990 gingen die Ereignisse so weit, dass die vier ehemaligen Besatzungsmächte Deutschlands - die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich - die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und damit der Transfer des DDR-Gebiets weg vom Warschauer Pakt hin zum Nordatlantischen Bündnis gebilligt hatten. Diese Vereinbarung war ein Vorbote der Einstellung des Kalten Krieges im Jahr 1991. Wenige Monate nach dem formellen Ende des Kalten Krieges löste sich die Sowjetunion auf. Als ‚Nachbeben’ dieses imperialen Zusammenbruchs gingen in den darauf folgenden Jahren die konstitutiven Nationalitäten der Tschechoslowakei und Jugoslawiens auseinander. Auf der politischen Landkarte Europas entstanden mehrere neue Staaten auf den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens. Und parallel dazu fusionierten die ehemalige DDR und die BRD zu einem Staat.
Trotz dem gegensätzlichen Ausmaße, liegen diesen Ereignissen dieselben Ursachen zugrunde, nämlich: der Wegfall der Ost-West-Konfrontation, das Scheitern des kommunistischen Experiments und die Wiederbelebung des ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühls. Unter diesen Umständen kristallisiert sich der souveräne Nationalstaat als eine attraktive Lösung heraus. Tatsächlich haben seit 1989 viele politische Kräfte und Bewegungen in Europa dieses altherkömmliche Rezept als Ziel angestrebt, da sie darin die Lösung ihrer politischen Problemen gesehen haben. Zahlreiche Kommentatoren sind überzeugt, dass ein Großteil der politisch Aktiven in Europa weiterhin an der Idee des souveränen Nationalstaates, vielleicht bis zu den nächsten fatalen Konsequenzen oder auch trotz denen, halten. Aufgrund solcher Einschätzungen haben diese Kommentatoren für das vereinigte Deutschland vorhergesagt, dass es im Gegensatz zu der noch nicht vollsouveränen Bundesrepublik in der Periode zwischen 1949 und 1990 mehr Autonomie und Souveränität im klassischen Sinne anstrebt und einen eher machtpolitisch gefärbten außenpolitischen Stil annimmt. 1 Bezüglich der Autonomie und Souveränität lassen sich bislang diese Prognosen jedoch nicht bestätigen.2
Ein Grund für das (zwar nicht vollständige) Scheitern der eben erwähnten Prognosen ist das Übersehen einer anderen Tendenz, des Strebens nach europäischer Integration. Oft verknüpft sich im mittelosteuropäischen Raum die Sehnsucht nach einem eigenen Nationalstaat mit der Hoffnung, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Fast alle postkommunistischen Staaten haben sich langfristig nach einem Anschluss an die westeuropäische Gemeinschaft ausgerichtet.3 Die neutralen Staaten Schweden, Finnland und Österreich sind mittlerweile bereits der Union beigetreten.
Vor dem Hintergrund der scheinbar widersprüchlichen Tendenzen der nationalen Staatsbildung und der europäischen Integration auf der einen Seite sowie des unvollständigen Scheiterns der realistischen Prognosen auf der anderen Seite lautet die interessante Forschungsaufgabe wie folgt: Wir müssen einen alternativen Theorieansatz konstruieren, der die Lehre aus den Fehlern des Realismus gelernt hat und damit in der Lage ist, die Außenpolitik einzelner Staaten zu erklären und vorherzusagen.4
Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Schritt auf der Suche nach jenem alternativen Theorieansatz. Das Ziel dieser Arbeit isterstensein Raster herauszuarbeiten, das für die Analyse langfristiger außenpolitischer Handlungsprogramme geeignet ist, undzweitensdie langfristigen außenpolitischen Handlungsprogramme in einigen für die Jahre nach dem Epochenwechsel 1989/90/91 ersonnenen Visionen der deutschen Eliten über die Grundorientierung künftiger deutscher Außenpolitik herauszufinden.
Der methodische Rahmen dieser Arbeit ist das Konzept der Großstrategie. Dieses wird im Kapitel 2 dargestellt. Großstrategie ist eine besondere Art des außenpolitischen Handlungsprogramms, woran sich auf lange Sicht das außenpolitische Handeln orientiert. Großstrategien sind unter anderen in visionären Texten (hiernach: Visionen) zum Ausdruck gebracht worden. So kann die Analyse einer Menge von Visionen der außenpolitischen Elite den Möglichkeitsraum außenpolitischen Handelns ausloten. Im Kapitel 3 werden exemplarisch zwei Visionen aus der Reihe der deutschen Politiker und zwei Visionsgruppen aus der Reihe der deutschen Intellektuellen näher betrachtet:
- Die Vision der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, formuliert in den sogenannten Schäuble/Lamers-Papieren über das „Kerneuropa“ (1994) und über den „europäischen Föderalismus“ (1999).
- Die Vision des Grünen-Außenministers Joschka Fischer, in Ausdruck gebracht bei seiner Rede in der Humboldt-Universität (2000) über die „Finalität Europas“ und in seinem Interview mit derZeit(2001) über die „Staatsräson“ Deutschlands;
- Das Rollenkonzept Deutschland als „Zivilmacht“ von Professor Hanns W. Maull (1992) und die verwandte außenpolitische Vision von Professor Ernst-Otto Czempiel (1999, 2000);
- Das Rollenkonzept Deutschland als „Zentralmacht Europas“ von Professor Hans Peter Schwarz (1994) und die verwandte Vision von Professor Gregor Schöllgen (1992: bes. Kap. 9, Teil III; 1997).
2 Das Konzept der Großstrategie
2.1 Aus den Fehlern des Realismus lernen
Zwei Hauptfehler des Realismus werden hier erwähnt. Der erste bezieht sich auf die Identität/Interesse-Problematik. Realistische Ansätze behandeln die Identität der Akteure oft als modellexogen gegeben und leiten daraus einen quasi objektiven Katalog ihrer Interessen ab. Dieses Modell hindert den Realismus daran, die Phänomene zu erklären, wenn es zu Wandel oder Transformation in der Identität und den Interessen des Akteurs kommt (siehe z.B. Wendt 1992, Koslowski/Kratochwil 1995, Lapid/Kratochwil 1997). Die Kontroverse um die Einführung des Euro zum Beispiel lassen sich am besten durch die Unterschiede in der Bildung nationaler kollektiver Identitäten und ihren Verhältnissen zur europäischen Ordnung erklären (Risse 1998). Dass „the French and German political elites from the center-right to the center-left - have incorporated ‘Europe’ into their nationally defined collective identities” (ebd.) haben die rigiden realistischen Modelle kaum erwartet. Der rigide Identitätsbegriff des Realismus ist eng verbunden mit seiner rein materiellen Auffassung der Interessen des Akteurs. Auch dieser Materialismus hat sich als unzulänglich erwiesen. Identitätstransformationen können auf ideelle Faktoren zurückgeführt werden und Akteure können durchaus nichtmaterielle Interessen haben (vgl. z.B. Wendt 1995, Ruggie 1998) So hat es Alexander Wendt zum Ausdruck gebracht: „Ideas always matter, since power and interest do not have effects apart from the shared knowledge that constitutes them as such“ (ebd.: 74).
Der zweite Mangel des Realismus besteht darin, dass er dem Unterschied zwischen Ziel und Mittel sowie ihrer Verflechtung und der daraus resultierenden Problematik nicht genügende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Realistische Modelle leiten aus ihren Annahmen beispielweise folgende Prognosen ab: (1) Deutschland wird seine Autonomie und Souveränität vergrößern, weil es nach der Wiedervereinigung die Chance dafür hat; und (2) die deutsche Außenpolitik wird in diesem Falle eine Führungsrolle mit viel Einfluss in Europa anstreben. Die zweite Aussage wird intuitiv an die erste angeschlossen. Doch logisch ist dieser Anschluss nicht. Erstens können Autonomie und Einfluss miteinander konkurrieren. In diesem Falle müssen die Entscheidungsträger, ob bewusst oder unbewusst, zugunsten einer Seite, somit auf Kosten der anderen Seite entscheiden (vgl. Baumann/Rittberger/Wagner 1999). Zweitens ist Souveränität nicht immer der einzige oder beste Weg zur Führungsrolle. Russland der Bolschewiki hatte auf Souveränität verzichtet, um unter den geänderten Umständen die Führungsrolle in der Sowjetunion zu behalten. Auch die Bundesrepublik in der Periode vor 1990, obwohl es nicht vollständig souverän war, hatte zusammen mit Frankreich eine Mit-Führungsrolle in dem europäischen Integrationsprozess gespielt. Verantwortlich für diese Verwirrung ist die Gestaltlosigkeit der Macht.5 Macht wird allzu oft als ein Instrument zur Durchsetzung von Interessen eingesetzt, doch Macht selbst steht viel zu sehr im Mittelpunkt eben der Interessen. Darüber hinaus gilt in der Strategie das Imperative, Macht indirekt durch Nichtmacht oder durch ‚sanfte’ Macht zu erlangen.
Das in diese Arbeit eingeführte Konzept der Großstrategie soll die beiden erwähnten Unzulänglichkeiten des Realismus nicht wiederholen. Es soll in der Lage sein, erstens den Zusammenhang zwischen Außenpolitik, ‚nationaler’ Identität und ‚nationalem’ Interesse auch in ihrer Dynamik zu analysieren und zweitens dem Ziel-Mittel-Komplex gerecht zu werden.
2.2 Eine kurze Geschichte der Großstrategie
Obwohl der deutschsprachige Raum die Heimat für einen der größten strategischen Denker aller Zeiten war, nämlich Carl von Clausewitz, haben Begriffe wie „Großstrategie“ oder „Gesamtstrategie“ oder ähnliche noch nie an Popularität gewonnen. Dagegen im englischsprachigen Raum erfährt der Termgrand strategyin vielen Bereichen eine Verwendung, was auch zu Missbrauch des Begriffes führt. Nach einer extensiven Suche in Büchern, Zeitschriften und im Internet nach dem Wortgrand strategyfinde ich in dem „Mission Statement“ des Projekts „Grand Strategy“ (Leiter: Paul Kennedy) an der Yale University eine der besten Definitionen des Begriffs (siehe International Security Studies 2000: 1):
A ‚grand strategy’ is a comprehensive plan of action, based on calculated relations of means to large ends. Never an exact science, grand strategy requires constant reassessment and adjustment. Flexibility is key.
Andere Kurzdefinitionen des Wortes sind z.B. „an overall framework for action“ oder „a comprehensive, general approach for achieving the strategic goals“ oder „a broad economic/security agenda.” Der Begriffgrand strategyist vor allem in den Bereichen der Internationalen Beziehungen, der Außenpolitikforschung, der Unternehmensführung und der gaming community wohlbekannt. Eine elegante Definition dergrand strategyim Unternehmensmanagement hebt drei Aspekte hervor (siehe Baker 2000):
- An overall plan of how the organization’s mission will be accomplished.
- A vision of the organization’s direction, philosophy.
- Situational analysis:
- Organization’s strength and weakness;
- Environment’s threats and opportunities.
Ein course syllabus fasst die in der amerikanischen Politikwissenschaft gängige Bedeutung des Begriffsgrand strategyebenfalls in drei Aspekten zusammen (siehe Saideman 1999):
- A country’ theory of how to provide security for itself.
- Definition of security - What is a threat?
- Matching means and goals: Do capabilities and commitments match?
Bei dieser Definition ist das ‚security bias’ der Politikwissenschaftler deutlich geworden: Das oberste Ziel des Staates ist auf seine Sicherheit reduziert.6 In einem ausdrücklich der grand strategy gewidmeten Buch (Rosecrance/Stein 1993, Titel des Aufsatzes: „Beyond Realism:
The Study of Grand Strategy,“ und des Buchs: „The Domestic Bases of Grand Strategy“) findet man folgende Definition: „(...) grand strategy considersallthe resources at the disposal of the nation (not just military one), and it attemps to array them effectively to achieve security in both peace and war” (S. 4). DieDictionary of Military and Associated Terms,herausgegeben von dem amerikanischen Department of Defense (1987: 350-51), definiert grand strategy als “the coordination of all elements of national power (economic, political, and military) to accomplish ‘national goals,’ primarily security against external threats” (zusammengefasst von Johnston 1995: 36). Ein anderes Merkmal der meisten politikwissenschaftlichen Definition der grand strategy besteht darin, dass sie die ‚nationalen Ziele’ als gegeben, oder modern ausgedrückt, dem Modell exogen, behandelt haben.
In der Disziplin „Grand Strategy“ dagegen umfasst der Großstrategiebegriff bereits den Prozess der Bestimmung nationaler Ziele:
By “grand strategy” we mean the science (and art) of bringing all major disciplines into the process of defining a nation’s goals, the structural elements needed in the attainment of those goals, and the principal methods of achieving those goals. (Copley 2000: 2)
Auch in dieser Disziplin erkennt man, dass “the process of defining a nation’s place in the international environment [can] only be achieved by understanding what that environment [is]” (ebd.). Die Verknüpfung der Bestimmung nationalerZieleoder nationalerInteressenmit der Bestimmung einerRolleoder einesPlatzes in der Weltund der Bestimmung der internationalenUmweltoder derWeltordnungerscheint selbstverständlich. Ich möchte dies illustrieren am Beispiel eines in derNew York Timeserschienenen Artikels (Miller 1999) über „grand strategy: round and round on American interests.“ In diesem Artikel wird berichtet, wie die verschiedenen amerikanischen Akademiker versucht haben, die strategischen Interessen der USA zu formulieren. In den Worten von John J. Mearsheimer geht es dabei um die Frage, „what areas of the world and causes are worth Americans fighting and dying for?“ Und dies nennen Experten, laut dem Artikel, “grand strategy.” Um diese Frage beantworten zu können, muss man feststellen, „how this new world should be structured and what role the United States should play in it.“ Die Frage der Großstrategie führt zwangsläufig zu einer anderen Frage, welche zu beantworten es eine Vision der Weltordnung und ein Konzept über die Rolle der Nation in der Welt bedarf. Die Bestimmung des nationalenInteressesist also eng verbunden mit dem nationalenSelbstverständnis. Jedes strategische Interesse „goes to the very heart of who we are and what we think our role in the world is all about“ (Leslie H. Gelb).
2. 3 Was ist Großstrategie?
Großstrategie bezieht sich auf die Formulierung bzw. Bildung oberster ‚nationaler’ Ziele (Interessen, Ambitionen) und dies bezieht zwangsläufig ein Selbstbild (Identität, Rolle, Platz in der Welt) und ein Weltbild (Weltordnung,geopolitics) mit ein. Großstrategie verbindet sich auch mit der Planung, wie man diese komplexen Ziele - subjektiv gemeint - am besten (am effektivsten, effizientesten, gerechtesten, fairsten, etc.) verwirklichen bzw. bewerkstelligen kann/soll/muss, sowie mit der Umsetzung des Plans in der Realität. Ziele oder Interessen leiten sich von Identität und Weltbild ab. Identität und Weltbild beziehen sich auf einander, da die Bildung des ‚nationalen’ Selbstverständnisses immer mit der Figuration der Welt einhergeht (Vuving 2001: 83). Großstrategie ist ein Weg (Plan), der Mittel mit Zielen verknüpft.7 Dieser Plan wiederum beruht sich auf Weltbild/Selbstbild. Einerseits gelten Identität und Weltbild als Prämisse für das Kalkül der Großstrategie, doch andererseits dient Großstrategie als Weg zur Verwirklichung der Identität und Weltordnung.
Diese wechselseitige Bezogenheit ist der Grund für die Verworrenheit bei der Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck sowie zwischen den Ist- und Soll-Zuständen. An dieser Verworrenheit leiden sowohl viele Entscheidungsträger als auch zahlreiche Analysten. In dergrand strategy-Literatur ist bislang zwischen politischen Zielen und großstrategischen Mitteln sehr selten eindeutig differenziert worden (siehe Johnston 1995: 110-16). Als Lösung für diese Ziel-Mittel-Problematik sollte man eine Hierarchie von Zielebenen analytisch einrichten.8 Für den Zweck der vorliegenden Arbeit beinhaltet diese Zielhierarchie drei Ebenen. Sie fängt mit den Urzielen („Aspirationen“) an, weitergeleitet durch die obersten Staatsziele („Ambitionen“), schließlich auf die strategischen Grundorientierungen („Großstrategien“) 9 (siehe Schaubild 1). So können die obersten Staatsziele als Mittel zum Erreichen der Urziele angesehen werden, obwohl sie gegenüber den strategischen Grundorientierungen als deren Ziele gelten. Die strategischen Grundorientierungen sind ihrerseits wiederum Oberziele anderer Politiken, z.B. der militärischen Doktrin oder der Außenwirtschaftspolitik. Großstrategie würde hier definiert als ein umfassendes Handlungsprogramm zur Erreichung strategischer Ambitionen. Großstrategien sind außenpolitische Handlungsprogramme des Staates, doch ihre Urquelle ist letztendlich bei den Individuen zu finden. Staaten denken nicht und können keine eigenen Wünsche haben.10Es sind Individuen, die denken und Aspirationen haben. Staaten sind Vehikel aber auch Zielobjekte für die Aspirationen der Individuen. An dieser Stelle sei auf den sprachlichen Doppelgebrauch des Worts „Großstrategie“ in dieser Arbeit hinzuweisen. Wenn Großstrategie von Ambition (d.h. oberstem Staatsziel), Identität, Rollenkonzept, Weltordnung oder Weltbild analytisch unterschieden wird, ist sie als strategische Grundorientierung zu verstehen. Wenn aber unter Großstrategie auch Ambition, Interesse, Selbstbild, Selbstverständnis, Weltbild und Weltordnung subsummiert werden, dient sie als ein organisierendes Konzept für die Analyse und Interpretation sowie gegebenenfalls auch für die Evaluierung außenpolitischer Handlungsprogramme: Sie ist eine umfassende Rubrik für mehrere Variablen und Prozessen.
[...]
1Diese Erwartungen greifen auf Annahmen der neorealistischen Denkschule in den Internationalen Beziehungen zurück. Prominente Beispiele sind Mearsheimer 1990, 1995; Pond 1992; Waltz 1993; Hacke 1993; Schwarz 1994; Arnold 1995.
2a) Baumann/Rittberger/Wagner 1999 argumentierten, dass der neorealistische Ansatz modifiziert werden muss, um dem Fall Deutschland nach der Vereinigung gerecht werden zu können. Eine empirische Überprüfung von drei Rollenmodellen, die sich jeweils auf Überlegungen einer ‚mainstream’-Denkschule in den Internationalen Beziehungen gründen - das Rollenmodell „Machtstaat“ auf Realismus, „Handelsstaat“ auf Liberalismus und „Zivilstaat“ auf Idealismus - hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass sich das vereinigte Deutschland nicht wie ein Machtstaat verhält sondern Aspekte sowohl eines handelsstaatlichen als auch zivilstaatlichen Verhaltens zeigt (vgl. Rittberger 1999, 2001). Allerdings handelt es sich dabei um theoriegeleiteteIdealtypen, nicht aber umDenktraditionen, in denen Einsichte noch nicht gesteinigt und Einschätzungen noch nicht beigemischt worden sind. Wie in der vorliegenden Arbeit unter anderen gezeigt wird, der Realismus sei anhand dem empirischen Fall des vereinigten Deutschlands nicht pauschal mitsamt seinen anthropologischen Einsichten abzuwerfen.
b) Die Testbarkeit der Machtpolitikprognose ist gering, da es nicht immer klargemacht wird, was man unter Machtpolitik versteht.
3Die einzige Ausnahme ist Weißrussland. Unter dem kommunistischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenka
bemüht sich das Land um eine Union mit Russland. Allerdings hatte Weißrussland nach seiner Unabhängigkeit 1991 bis 1994 unter den liberalen Präsidenten Stanislaw Schuschkewitsch noch eine Politik der Integration in die westliche Gemeinschaft geführt. Serbien hingegen hat nach dem Sturz des Präsidenten Slobodan Milosevic und der Machtübernahme der Demokratischen Opposition im Jahr 2000 sein langfristiges Interesse an einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union gemeldet.
4 Die vorgeschlagene Forschungsstrategie steht in der Tradition des raffinierten Falsifikationismus von Imre Lakatos (vgl. Lakatos 1970).
5 Macht kann als der zentrale Begriff des Realismus angesehen werden. Trotzdem musst der Realismus bislang mit einer Verschwommenheit des Machtbegriffs leben.
6 Sicherheit kann das erste unter den obersten Zielen eines Staates sein, nicht jedoch das einzige. Nach Gregory A. Raymond (1987) umfassen die obersten Staatsziele sechs Kategorien: „Security (physical survival, territorial integrity, political independence), welfare (prosperity, economic development, well-being), prestige (recognition, status, respect, honor), ideological self-extension (promotion of values, conversion), material self-extension (power, territorial expansion, exclusive access), self-abnegation (peace, rectitude, international solidarity)” (Auszüge aus einer “inventory of common foreign policy goals,” S.102-03, Hervorhebung von mir).
7Vgl. z.B. John Lewis Gaddis’ Definition der Strategie in seinem BuchStrategies of Containment: “By ‘strategy,’ I mean quite simply the process by which ends are related to means, intentions to capabilities, objectives to resources” (Gaddis 1982: viii).
8Alastair Johnston (1995: 114-15) hat eine ähnliche Idee gehabt: “Envision, for instance, a state’s security
problematiqueas a hierarchy of interrelated levels of behavior, moving from the basic political goals of the state down through grand strategic means, to military doctrines used to implement grand strategy, down to operational strategies available to put military doctrines into effect” (S.114).
9Peter Rudolf (1999: 69ff) hat beim Begriff „strategische Grundorientierung“ auf den amerikanischen Termgrand strategyverwiesen. Seine Definition des Begriffs ist nicht erheblich verschieden von meiner Auffassung der Großstrategie. Zum Vergleich: „Der Begriff strategische Grundorientierung bezieht sich auf den Einsatz von Instrumenten und Ressourcen im Hinblick auf die den Kerninteressen der amerikaischen Gesellschaft förderliche Gestaltung der internationalen Umwelt“ (S. 70).
10 Als Strukturen und Institutionen können Staaten aber das Handeln und Denken der Individuen steuern und als Organisationen können Staaten ‚handeln’ in dem Sinne, dass die Organisation Staat koordinierte Handlungen von Personen bewirkt.
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