Seit den 1990er Jahren wird innerhalb der Geisteswissenschaften das Thema transgenerationaler Traumataweitergabe intensiver diskutiert. Den Hintergrund dieser Diskussionen bildet die Erkenntnis, dass Menschen mit schweren psychischen Traumata-Erfahrungen, insbesondere Überlebende des Holocaust, ihre Traumata ungewollt und unbewusst auf ihre Kinder übertragen. Es stellt eine besondere Tragik dar, dass der lebensbejahende und dem schmerzhaften Trauma-Geschehen trotzende Akt der Kinderzeugung und -erziehung von unbewussten Prozessen überlagert wird, die zu einem Weiterleben der Traumata-Inhalte in den Kindern führt. Die nächste Generation ist so gezwungen, den innerpsychischen Kampf ihrer Eltern gegen die Trauma-Erfahrung in der eigenen Psyche fortzusetzen – ohne dass sie selber die Trauma-Erfahrung gemacht hätten, die für sie daher auch nur eine mit vielen Phantasien ausgeschmückte Realität bekommt.
Ulrich Treichel hat 1998 mit Der Verlorene einen novellistischen Roman vorgelegt, der aus der Sicht des namenlosen kindlichen Ich-Erzählers eine Kindheit in den 1950er und 60er Jahren in einer Kleinstadt beim Teutoburger Wald darstellt, die von einer traumatischen Erfahrung seiner Eltern maßgeblich geprägt wird. Nur mühsam erschließt sich durch die Erzählungen der Mutter, dass sie mit ihrem Mann und ihrem erstgeborenen Baby in den Wirren der letzten Monate des zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee aus den deutschen Ostgebieten floh und dabei ihren erstgeborenen Sohn Arnold verlor als sie von russischen Soldaten aufgegriffen und vergewaltigt wurde. Schuldgefühle über den Verlust Arnolds vermischen sich bei ihr mit dem Trauma der Vergewaltigung. Wie der erst nach dem Krieg geborene Ich-Erzähler darunter leidet und wie das Trauma für ihn selbst zu einer Realität wird, vermag Treichel eindringlich, einfach und bisweilen seltsam humorvoll zu erzählen.
Diese im Jahr 2005 entstandene Hausarbeit von Bert Grashoff interpretiert Treichels Roman mit Hilfe theoretischer Konzepte, die von der psychologischen und psychoanalytischen Forschung erarbeitet wurden. Er arbeitet dabei die untergründigen und unbewussten Prozesse heraus, mit denen das Trauma der Mutter die Generationenschranke überschreitet und sich in der Psyche des kindlichen Erzählers einnistet und die von Treichel nur detailliert beschreibend, niemals aber analytisch dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Inhalt von Treichels Der Verlorene
Traumatisierung der Mutter
Die Last des Ich-Erzählers
Das Introjekt
Allegorie des Verlustes
Literaturverzeichnis
Einleitung
Diese Hausarbeit befasst sich mit dem 1998 erschienenen Roman Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel (Treichel 1998) unter Zuhilfenahme einiger psychoanalytischer Konzepte für die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen. Grundannahme dieser Arbeit ist, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen dem Roman und den angesprochenen psychologischen Konzepten in einem doppelten Sinne gibt: Einerseits sind die psychischen und somatischen Störungen, die der kindliche Ich-Erzähler des Romans in offensichtlicher Reaktion auf das Trauma vor allem seiner Mutter entwickelt, ein wesentliches Thema der Erzählung. Der Roman lässt sich in diesem Sinne als literarisches Material verstehen, auf das die psychologischen Konzepte bezogen werden können und an dem ihre Stichhaltigkeit dargestellt werden kann. Andererseits ist der Roman nicht einfach ein konkret-biografisches Fallbeispiel, sondern selbst künstlerisch geformte Reflexion auf das Thema transgenerationaler Traumataweitergabe. So werde ich beispielsweise dafür argumentieren, dass sich die architektonischen Veränderungen, die die Eltern des Ich-Erzählers an ihrem gemeinsamem Zuhause vornehmen, als allegorische Darstellung dessen verstehen lassen, was im psychologischen Diskurs den Fachterminus »Introjekt« bekommen hat. Erzählung und psychoanalytische Theoriebildung ergänzen sich mit anderen Worten wechselseitig und sind so in der Lage, ein plastisches Bild einer spezifischen Weitergabe traumatischer Erfahrungen an die nächste Generation zu zeichnen, sowie die damit einhergehenden Problemgehalte.
Für die Darstellung der psychologischen Konzepte rekurriere ich auf drei Aufsätze, die im Rahmen eines Symposiums zur transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Holocausterfahrungen entstanden und in einem Sammelband veröffentlicht wurden: Ira 2000, Hirsch 2000, Kogan 2000. Auch wenn Untersuchungen über die Kinder von (traumatisierten) Nazis mit zum Gegenstand von Symposium und Sammelband gehörten, bedarf es doch einer Begründung dafür, dass ein Bezug zu Treichels Erzählung sinnvoll hergestellt werden kann, in der es keinen Hinweis darauf gibt, dass die Eltern des Ich-Erzählers das nationalsozialistische Regime anders denn als bäuerliche Wirtschaftssubjekte und ideologisch konforme Volksgenossen unterstützt hätten, und erst recht keinen darauf, dass sich so etwas wie die Shoah vollzogen haben könnte.
Ein solcher Bezug kann meines Erachtens aus zwei guten Gründen hergestellt werden. Erstens ist der Erkenntnisanspruch der psychologischen Theoriebildung über transgene-rationale Traumataweitergabe ein allgemeinerer als die Bedeutung der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden für diese Theoriebildung vermuten läßt: Ihr geht es um die transgenerationale Traumataweitergabe unabhängig vom, wenn auch nicht unsensibel gegenüber dem spezifischen Inhalt der Traumata. Zweitens gibt es einen eindeutigen historischen Zusammenhang, der selbst dann von großer Bedeutung ist, wenn er nur als Parallelität gefasst werden kann. So heißt es z. B. in einem einleitenden Aufsatz des Sammelbands über die Gruppe der Initiatoren des genannten Symposiums:
„Diese Gruppe begann als eine zwanglose Zusammenkunft von Psychotherapeuten, die bei der Erörterung ihrer Fälle festgestellt hatten, daß Patienten, die etwa in ihrem Alter (um 1950 geboren) waren, bezeichnenderweise ein gemeinsames Problem hatten.“ (Volkan 2000, S. 23)
Nämlich das Problem der Sprachlosigkeit über alles, was mit dem NS zusammenhing. Nicht nur, dass der Ich-Erzähler aus Treichels Roman ‚um 1950 geboren’ sein muss und Treichel selbst 1952 das Licht der Welt erblickte, und nicht nur, dass die Sprachlosigkeit über den NS eine Darstellung zwischen den Zeilen der Erzählung findet, auch der Gehalt der traumatischen Erfahrungen der Mutter ist im Ursprung des Kriegs- und Fluchtgeschehens unmittelbare Folge des NS.
Inhalt von Treichels Der Verlorene
Die Handlung setzt ein, als der Ich-Erzähler alt genug ist, mit seiner Mutter Fotos im Fotoalbum zu betrachten. Die erzählte Zeit umfasst einige Jahre, später geht der Ich-Erzähler selbstverständlich zur Schule und bleibt zum Ende der Erzählung um einige Jahre jünger als sein noch nicht ganz volljähriger und im Zweiten Weltkrieg geborener Bruder Arnold. Abgesehen von diesen wenigen Indizien zur erzählten Zeit bleibt die Erzählung seltsam zeitlos, ohne klare Bestimmungen des spezifischen Alters des Erzählers zu bestimmten Episoden der Handlung und ohne prägnant-historisierende Andeutungen, wenn man vielleicht von den Auto-Erwerbungen des Vaters absieht oder dem kurzen Diskurs über den sogenannten Lastenausgleich. Lokal fällt die Zuordnung der Handlung leichter: Sie spielt in einem Ort oder einer Kleinstadt in der Nähe des Teutoburger Waldes.
Der Handlung voraus geht der Verlust Arnolds in einem deutschen Flüchtlingstreck gen Westen: Russische Soldaten tauchen aus dem Nichts auf und greifen sich wahllos Menschen aus der flüchtenden Masse, in der auch die Eltern des Ich-Erzählers mit ihrem Erstgeborenen Arnold unterwegs sind. Die Mutter fürchtet um das Überleben der Familie und drückt das kleine Kind, ohne ein Wort sagen zu können, einer anderen Frau in die Hände. Nicht die Liquidation, sondern eine vermutlich vielfache Vergewaltigung durch russische Soldaten folgt.
Der Ich-Erzähler ist offensichtlich nach dem Krieg geboren. Ihm wird in seinen ersten Lebensjahren von den Eltern erzählt, Arnold sei tot, dann aber die Wahrheit eröffnet, dass der vermutlich doch lebende Arnold, Der Verlorene, von seinen Eltern über das Rote Kreuz gesucht werde. Diese Suche steht im Fokus des erzählten Geschehens.
Während der Vater darin aufgeht, sich erfolgreich – letztlich als Fleischgroßhändler – um das wirtschaftliche Wohlergehen der Familie zu kümmern, und mit dem Ich-Erzähler nur im Kommandoton umspringt, ist die Mutter, sofern sie sich nicht „im Hause zu schaffen macht[…]“ (Treichel 1998, S. 33), von Arnold und den mit seinem Verlust zusammenhängenden Ereignissen absorbiert: Sie neigt neben aller Arbeitsamkeit zum depressiven Grübeln, zur Apathie und zu krampfartigen Anfällen.
Die Perspektive der Erzählung ist neben aller stoisch-melancholischen Passivität des Erzählers – dessen Name der Leser wohl auch deshalb nicht erfährt, weil sein Name in der Familie nicht im Mindesten der Bedeutung nahe kommt, die der Name Arnold hat – von seiner trotzig-narzisstischen Abwehrposition geprägt: Er fürchtet, mit dem drohenden Auftauchen eines älteren Bruders familiäre Privilegien und Aufmerksamkeit einzubüßen. Dementsprechend schildert er die Ereignisse im Lichte seiner eigenen Gefühlswelt, die aber mit Ausnahme der klaren Abwehr gegen den unbekannten Bruder wenig entwickelt ist und sich oft nur diffus in agierter Symptombildung äußert wie z. B. im Erbrechen auf Wochenendspaziergängen mit den Eltern. Mitunter skurril ist diese Erzählperspektive, weil Arnold im Leben der Familie trotz seiner physischen Abwesenheit eine bedeutend wichtigere Rolle spielt als der zwar anwesende, aber nur wenig beachtete Ich-Erzähler.
Die tatsächliche Handlung des Romans ist nach einer ersten Phase, in der der Leser etwas über die Familiensituation in den ersten Lebensjahren des kindlichen Ich-Erzählers erfährt, im Wesentlichen auf die Bemühungen der Familie reduziert, die zuständigen Behörden von der Identität zwischen Findelkind 2307 und Arnold zu überzeugen, worauf einige Indizien von Anfang an hinweisen. Mehrere Untersuchungen zur Feststellung eines biologischen Verwandtschaftsverhältnisses folgen, deren Schilderung einen Großteil der Erzählung einnimmt. Je länger das sehr ungebrochen an Methoden einer ‚rassebiologischen’ NS-Wissenschaft anknüpfende Untersuchungsprozedere dauert, desto negativer werden die Bescheide. Am Ende steht für die Behörden ‚wissenschaftlich’ nahezu völlig gesichert fest, dass es sich bei dem Findelkind 2307 nicht um Arnold handeln kann.
Unterdessen erleidet der Vater einen doppelten Herzinfarkt und verstirbt. Herr Rudolph, ein befreundeter Polizist, kümmert sich um Ich-Erzähler und Witwe, übernimmt partiell die Vaterrolle und hofft auf eine Vermählung mit der Witwe. Die Erzählung endet damit, dass Herr Rudolph die Adresse des Findelkindes 2307 durch Missbrauch seiner Dienstprivilegien in Erfahrung bringt und gemeinsam mit Witwe und Ich-Erzähler einen Blick auf das Findelkind wirft. Die novellistische Pointe besteht darin, dass allen und sogar dem den Blick erwidernden Findelkind sofort klar ist, dass sie eine biologische Familie sind.
Traumatisierung der Mutter
Trauer ist über weite Teile der Erzählung das vorherrschende Gefühl der Mutter. Gleich der vierte Satz stellt dies klar:
„Während die Mutter das Wort »Zuhaus« aussprach, begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war.“ (Treichel 1998, S. 7)
Und vom Bruder ist häufig die Rede. Im Unterschied zu ihrer sozialen Umgebung, die im Wiederaufbaudeutschland anscheinend keinen Gedanken mehr an die eigenen Erfahrungen im Krieg verschwendet, ist die Mutter an ‚das Schreckliche’ in dem Maße gebunden, in dem sie an ihrem vermutlich noch lebendigen und verlorenen Erstgeborenen hängt. Als sie den Ich-Erzähler darüber aufklärt, dass Arnold nicht tot, sondern verloren gegangen ist, verdichtet sich ‚das Schreckliche’ zur dunklen Chiffre dessen, was ihr an Schmerzhaftem zugefügt wurde:
„Doch war Arnold nicht verhungert, sondern abhanden gekommen, und es fiel der Mutter schwer, den Grund für Arnolds Verschwinden auch nur annähernd begreiflich zu machen. Irgendwann, soviel verstand ich, ist auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert. Was es war, sagte die Mutter nicht, sie sagte nur immer wieder, daß auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert sei und daß ihr auch der Vater nicht habe helfen können und daß ihr niemand habe helfen können.“ (Treichel 1998, S. 14)
Die singularisiert gedachten Soldaten der Roten Armee seien plötzlich leibhaftig erschienen und hätten sie und den Vater herausgegriffen, Arnold habe sie noch einer anderen Frau in die Arme legen können.
„Das Schreckliche, sagte die Mutter, sei dann insofern doch nicht passiert, als die Russen weder sie noch den Vater erschossen hätten. Denn das sei das erste gewesen, was sie befürchtet hatten, und darum habe sie auch den kleinen Arnold der fremden Frau in die Arme gedrückt. Andererseits aber, so die Mutter, sei das Schreckliche dann doch passiert. »Das Schreckliche aber«, sagte die Mutter, »ist dann doch passiert«.“ (Treichel 1998, S. 15f.)
Für den vorpubertären Ich-Erzähler wird nicht einmal ‚annähernd begreiflich’, um was es sich bei diesem Schrecklichen gehandelt haben könnte. Die Mutter kann ihrem Zweitgeborenen nicht präziser schildern, was Schreckliches ihr zugefügt wurde. Dem deutschen Leser wird hingegen in dem folgenden Zitat mit der zur Stereotype geronnenen Aussage, dass die Russen immer nur eines gewollt hätten, verdeutlicht, dass die Mutter von den Rotarmisten vergewaltigt wurde. ‚Das Schreckliche’ enthüllt sich in ihm aber nicht nur als sexueller Übergriff, sondern als Melange aus zugefügtem Schmerz und virulenten Schuldgefühlen: Arnolds Leben sei nicht bedroht und folglich sein Verlust auch unnötig und von ihr verursacht gewesen.
„Wohl sei ihr etwas Schreckliches zugefügt worden von den Russen, aber die Russen hätten es gar nicht auf ihr Leben oder das ihrer Familie abgesehen gehabt. Die Russen hätten es immer nur auf eines abgesehen gehabt. Aber sie habe voreilig Angst um ihr eigenes Leben und das Leben ihres Kindes gehabt, und in Wahrheit habe sie auch voreilig das Kind weggegeben.“ (Treichel 1998, S. 16)
Doppelt betont die Mutter die Voreiligkeit: Nicht nur ihr Empfinden, auch das daraus entspringende Handeln sei übereilt gewesen. Obwohl dies im Nachhinein triftig so bestimmt werden kann, wäre alles andere als diese Voreiligkeit fatal gewesen, wenn sie recht gehabt hätte. Dieses entlastende Argument streicht sie aber doppelt durch, so als wäre es ihr schon häufiger begegnet: Erstens hätten es die Russen eben ‚immer’ auf das eine und somit niemals auf etwas anderes abgesehen gehabt und zweitens bleibt es doch in jedem Fall so, dass sie ‚in Wahrheit’ das Kind voreilig weggegeben habe.
Die Mutter empfindet tragischerweise eine teilweise berechtigte, zumindest von ihr als berechtigt rationalisierte Schuld an dem Verlust ihres Erstgeborenen. Im Folgenden werde ich noch näher betrachten, wie diese Schuldgefühle die Generationenschranke überspringen. Vorerst bleibt jedoch festzuhalten, dass dem Ich-Erzähler wenig präzise oder anschaulich gemacht wird, worin ‚das Schreckliche’ besteht: Für ihn bleibt es eine dunkle Ahnung von etwas zwar sehr Bedeutsamem, jedoch nicht näher Spezifiziertem, daher Ungeheuerlichem.
30 Seiten Erzählzeit und vermutlich einige Jahre erzählter Zeit später klärt der Vater des Ich-Erzählers diesen noch einmal über die zentralen Ereignisse im Leben der Familie auf. Prägnant wird an dieser Stelle, wie viel Distanz zwischen den drei Familienmitgliedern und insbesondere zwischen Vater und Sohn vorhanden ist und welch konsequente Sprachlosigkeit über die zentralen Ereignisse vorherrscht. Denn der Vater weiß offenbar nichts davon, dass seine Frau seinen Sohn bereits über diese Ereignisse ins wenn auch verschommene Bild gesetzt hat. Und in dieser Situation bricht er den Bann der Sprachlosigkeit auch nur deshalb, weil die Mutter einen schweren Zusammenbruch erlitten hat und er sich der Unterstützung seines Sohnes für die anstehenden erbbiologischen Untersuchungen vergewissern möchte. Der „zum Jähzorn neigende Mann“ (Treichel 1998, S. 44) ist offenbar von dem Zusammenbruch seiner Frau hinreichend erschüttert, so dass er seinen Zweitgeborenen ins Vertrauen zieht und ihm offenbart, dass die Eltern ihren Erstgeborenen schon seit Jahren suchen und in Findelkind 2307 auch fündig geworden zu sein glauben würden.
Der Vater schildert dem Ich-Erzähler unter anderem, welche Indizien dafür sprechen, dass es sich beim Findelkind 2307 um Arnold handele. Bei der Erwähnung eines Indizes thematisiert er ohne Not die Vergewaltigung, zwar etwas klarer als die Mutter dies tat, aber für den Ich-Erzähler längst noch nicht hinreichend klar. Bei diesem Indiz handelt es sich darum, dass die Mutter genau wie die Mutter des Findelkindes 2307 bei der Weitergabe ihres Sohnes an eine andere Frau gänzlich mit einem Tuch verhüllt gewesen sei.
„Und dies nicht so sehr wegen der Kälte, vielmehr hätten sich alle jungen Frauen damals mit einem Tuch verhüllt, damit sie nicht sofort als junge Frauen erkannt würden. Auch die Mutter habe sich mit einem Tuch verhüllt. Das erste, worauf die Russen sich gestürzt hätten, sagte der Vater, seien junge Frauen gewesen. Wobei sie natürlich den Trick mit dem Tuch ziemlich schnell durchschaut und sich demzufolge gerade auf jene Frauen gestürzt hätten, die ihr Gesicht bedeckt hielten. Das konnten allerdings auch alte Frauen gewesen seien. Vor den Russen, sagte der Vater, sei im Prinzip keine Frau sicher gewesen, ob jung oder alt. Und auch die Mutter war vor den Russen nicht sicher gewesen, schloß ich daraus. Höchstwahrscheinlich hatten sich die Russen auch auf die Mutter gestürzt, wobei ich mir nicht gänzlich darüber im klaren war, was es im einzelnen zu bedeuten hatte, wenn die Russen sich auf jemanden stürzten.“ (Treichel 1998, S. 54)
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- Quote paper
- Bert Grashoff (Author), 2005, "Ich war nur das, was sie nicht hatte." Literarische Verarbeitung transgenerationaler Traumataweitergabe am Beispiel von Hans-Ulrich Treichels "Der Verlorene", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68650
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