„Kirche, die bereit ist, den ihr aufgetragenen Ort anzunehmen, hat die Verheißung, mit der
ihr aufgetragenen Botschaft und ihrer Lebensart ´Salz der Erde‘ zu sein.“
Die Landeskirche hat in den vergangenen vier Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Durch
die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen der Wende und der
Wiedervereinigung hat sie eine neue Rolle in der pluralistischen Gesellschaft übernehmen
müssen. Dabei stand sie oft unter hohem zeitlichem und inhaltlichem Anpassungsdruck und
hatte kaum Spielraum, zuerst eine grundsätzliche, theologische Stand ortbestimmung zu unternehmen
und dann daraus Konsequenzen für ihre Gestalt und Struktur zu ziehen.
Die Landeskirche hat sich sowohl aus pragmatischen als auch aus inhaltlichen Gründen weitgehend
dafür entschieden, den Weg der westdeutschen Landeskirchen mitzugehen. Sie hat
deren Modell von „Volkskirche“ übernommen. Da sie die flächendeckende, personalintens ive
geistliche Versorgung der Bevölkerung nach dem Parochialprinzip beibehalten und gleichzeitig
vielfältige neue Aufgabenfelder (Diakonie, Religionsunterricht, Seelsorge an speziellen
Gruppen) übernehmen wollte, mußte sie sich auch für das entsprechend effektive Finanzierungsmodell
entscheiden. Dazu gehörte die Einführung des neuen Kirchensteuerabzugsverfahrens
(s.u. Kapitel 1) und der Abschluß des Staat-Kirchen-Vertrages (u.a. Finanzierung
zweier theologischer Fakultäten, jährlicher Zuschuß zu Pfarrerbesoldung von 13 Mio. DM
für Mecklenburg-Vorpommern). Die Kirche hat sich damit aus der Marginalisierung herausgelöst
und ist eine gesellschaftlich relevante Gruppe geworden.
In Spannung dazu steht, daß der zu DDR-Zeiten begonnene Prozeß der Minorisierung weiter
fortschreitet: Die Kirche ist zwar nun wieder mit allen rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten
ausgestattet, die sie sich wünschen kann, aber sie steht vor dem Problem, daß immer
weniger Menschen sich zu ihr halten. Weniger als 300.000 Glieder zählt die Landeskirche bei
sinkender Tendenz. Immer öfter taucht die Frage auf, ob die Kirche, die Strukturen, die sie
sich gegeben hat, überhaupt mit Menschen füllen kann und ob es noch sinnvoll ist, von Volkskirche
im Sinne einer Kirche zu sprechen, die die „umfassende Durchchristlichung des Volkes“
oder flächendeckende „pfarramtliche Versorgung“ verfolgt. ´[...]
Inhalt
0. Einführung
Ziel und Aufbau der Arbeit
1. Kirche und Geld - das neue Kirchensteuerabzugsverfahren
1.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.90
1.2. Nach der Synodaltagung
1.3. Die Synodaltagung vom 1.-4.11.90
1.4. Weiterer Verlauf
1.5. Thesen über die ekklesiologische Relevanz des Kirchensteuerabzugsverfahrens
2. Kirche und Vergangenheit - die Aufarbeitung der Stasi-Belastung
2.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.1990
2.2. Synodaltagung vom 1.- 4.11.1990
2.3. Synodaltagung vom 13.-17.3.1991
2.4. Sondersynode vom 22.6.1991
2.5. Weiterer Verlauf bis zur Synodaltagung vom 17.-20.3.1994
2.6. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung der innerkirchlichen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit
3. Kirche im Einheitsprozeß - der Abschied vom Bund, die Vereinigung mit der EKD und der Beitritt zur VELKD
3.1. Von der „Loccumer Erklärung“ bis zur Synode vom 15.-17.3.1990
3.2. Synodaltagung vom 1.-4.11.1990
3.3. Die „dramatischen“ Synodaltagungen im März und November 1991
3.4. Die Synodaltagung vom 12.-15.3.1993
3.5. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung der Vereinigung mit der EKD und des Beitritts zur VELKD
4. Kirche und die Diskussion um Frieden, Krieg und „Seelsorge an Soldaten“
4.1. Vorgeschichte
4.2. Die Synoden im Jahr 1990
4.3. Die weitere Entwicklung von 1991 bis 1993
4.4. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung dieser Entwicklung
5. Kirche und geistliches Leben in der Gemeinde - Gemeindeaufbau
5.1. Vor dem „Herbst ´89“
5.2. Nach dem „Herbst ´89“
5.3. Thesen zur ekklesiologischen Relevanz dieser Entwicklung
Literaturverzeichnis
0. Einführung
„Kirche, die bereit ist, den ihr aufgetragenen Ort anzunehmen, hat die Verheißung, mit der ihr aufgetragenen Botschaft und ihrer Lebensart ´Salz der Erde‘ zu sein.“[1]
Die Landeskirche hat in den vergangenen vier Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Durch die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen der Wende und der Wiedervereinigung hat sie eine neue Rolle in der pluralistischen Gesellschaft übernehmen müssen. Dabei stand sie oft unter hohem zeitlichem und inhaltlichem Anpassungsdruck und hatte kaum Spielraum, zuerst eine grundsätzliche, theologische Standortbestimmung zu unternehmen und dann daraus Konsequenzen für ihre Gestalt und Struktur zu ziehen.
Die Landeskirche hat sich sowohl aus pragmatischen als auch aus inhaltlichen Gründen weitgehend dafür entschieden, den Weg der westdeutschen Landeskirchen mitzugehen. Sie hat deren Modell von „Volkskirche“ übernommen. Da sie die flächendeckende, personalintensive geistliche Versorgung der Bevölkerung nach dem Parochialprinzip beibehalten und gleichzeitig vielfältige neue Aufgabenfelder (Diakonie, Religionsunterricht, Seelsorge an speziellen Gruppen) übernehmen wollte, mußte sie sich auch für das entsprechend effektive Finanzierungsmodell entscheiden. Dazu gehörte die Einführung des neuen Kirchensteuerabzugsverfahrens (s.u. Kapitel 1) und der Abschluß des Staat-Kirchen-Vertrages (u.a. Finanzierung zweier theologischer Fakultäten, jährlicher Zuschuß zu Pfarrerbesoldung von 13 Mio. DM für Mecklenburg-Vorpommern). Die Kirche hat sich damit aus der Marginalisierung[2] herausgelöst und ist eine gesellschaftlich relevante Gruppe geworden.
In Spannung dazu steht, daß der zu DDR-Zeiten begonnene Prozeß der Minorisierung weiter fortschreitet: Die Kirche ist zwar nun wieder mit allen rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten ausgestattet, die sie sich wünschen kann, aber sie steht vor dem Problem, daß immer weniger Menschen sich zu ihr halten. Weniger als 300.000 Glieder zählt die Landeskirche bei sinkender Tendenz. Immer öfter taucht die Frage auf, ob die Kirche, die Strukturen, die sie sich gegeben hat, überhaupt mit Menschen füllen kann und ob es noch sinnvoll ist, von Volks kirche im Sinne einer Kirche zu sprechen, die die „umfassende Durchchristlichung des Volkes“ oder flächendeckende „pfarramtliche Versorgung“ verfolgt.[3]
Die Kirche hat nun die rechtlichen Möglichkeiten, in Schulen zu unterrichten, Kirchensteuer durch staatliche Stellen einzuziehen und Seelsorge an Soldaten zu vollziehen (u.a.m.). Dennoch ist nicht entschieden, ob sie auch in ihrer Verkündigung frei ist bzw. bleibt.
D. Bonhoeffer schreibt über die Freiheit der Kirche: „Freiheit der Kirche ist nicht dort, wo sie Möglichkeiten hat, sondern allein dort, wo das Evangelium sich wirklich und in eigener Kraft Raum auf Erden verschafft, auch und gerade wenn ihr keine solche Möglichkeiten angeboten sind. Die wesentliche Freiheit der Kirche ist nicht eine Gabe der Welt an die Kirche ... Wo der Dank für die institutionelle Freiheit durch ein Opfer der Freiheit der Verkündigung abgestattet werden muß, dort ist die Kirche in Ketten, auch wenn sie sich frei glaubt.“[4]
Es zeichnet sich ab, daß sich die Freiheit der Kirche dort beschränkt, wo Erwartungen, die der Staat gegenüber der Kirche hat, von ihr vermehrt gehört und aufgenommen werden. Dies geschieht nun seit der Wende: „Wir sollten ebenso darauf achten, die Erwartungen von Staat und Gesellschaft an die Kirche wahrzunehmen. Daß dieser Staat der Kirche zugesteht, Körperschaft öffentlichen Rechts zu sein, ist Ausdruck solcher Erwartungen.“[5]
So hat die Kirche z. B. ab 1990 erklärt, Seelsorge an Soldaten ausdrücklich zu befürworten, obwohl sie sich gleichzeitig hinter die Aussagen von ‘Bekennen in der Friedensfrage’ von 1987 stellt, worin der Dienst mit der Waffe als „Wagnis“ bezeichnet wird, und der Soldat prüfen soll, „ob seine Entscheidung mit dem Evangelium des Friedens zu vereinbaren ist“ (s.u. Kapitel 4).
Durch die Wende und die politische Vereinigung hat sich die Identität der Kirche mitverändert. Die „Weg- und Arbeitsgemeinschaft des Bundes“[6] mußte zugunsten einer neuen gesamtdeutschen Kircheneinheit aufgegeben werden. Die Vereinigung mit der EKD und der Beitritt zu VELKD wurde von der Landeskirche auf unterschiedliche Weise vollzogen (s.u. Kapitel 3).
Die Spannungen, die dabei auftraten, sind in Zusammenhang mit dem Abschiednehmen vom Bund zu sehen. Was man zu DDR-Zeiten in der Gemeinschaft des Bundes als wahr und richtig erkannt, an Schönem erlebt und an Schwierigem erlitten hatte, ist mit dem Ende der DDR zwar nicht verloren gegangen, aber es konnte nicht einfach weiter mittransportiert werden. In der neuen Situation mußte das Vergangene, ohne es nostalgisch zu verklären, auf seine aktuelle Gültigkeit hin überprüft werden. Dazu gehörte die Einsicht, daß es den Bund-Kirchen nicht gelungen war, ein tragfähiges Finanzierungsmodell, das ohne Hilfe von außen funktionierte, zu entwickeln.
In diesen Bereich fällt auch die Aufarbeitung der Stasi-Belastung in der Kirche. Die Kirche hat in einem längeren Prozeß die Tatsache angenommen, daß auch sie, wie jeder andere gesellschaftliche Bereich, von der Stasi durchsetzt war. Sie hat sich der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gestellt und sich um einen Neuanfang bemüht. Dabei hat es auch beträchtliche Spannungen gegeben (s.u. Kapitel 2).
Der Abschied von der ‘Kirche im Sozialismus’ brachte auch die Einsicht und die Erfahrung mit sich, daß die Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft selbst auch dem Pluralismus ausgesetzt ist. Dies wurde bei manchen mit Enttäuschung, bei anderen mit Dank aufgenommen. Das einmütige Reden, der frühere Konsens in gesellschaftspolitischen Fragen, wie z.B. in der friedensethischen Diskussion, löste sich in Einzelmeinungen und -haltungen auf: Eine Neuformulierung von ‘Bekennen in der Friedensfrage’ konnte nicht mehr als gemeinsamer Beschluß getragen werden (s.u. Kapitel 4).
Die Landeskirche hat in den vergangenen vier Jahren viele ihrer Bereiche neu geordnet. Ein zentraler Bereich wurde jedoch permanent ausgeklammert: Die Frage nach dem Leben der Gemeinde. Es gab zwar Betrachtungen, die sich an dem statistischen Zahlenmaterial orientierten, aber der Frage, wie eine tragende und lebendige Gemeinschaft in den Gemeinden - immer wieder neu - entstehen kann, wurde zuletzt vor der Wende nachgegangen. Hier besteht ein großer Nachholbedarf (s.u. Kapitel 5).
Ziel und Aufbau der Arbeit
1. Die vorliegende Arbeit versucht, den Weg der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in den vergangenen vier Jahren seit der Wende nachzuzeichnen. Sie untersucht diesen Weg vor allem aus der Perspektive von Landessynode, Landesbischof und Kirchenleitung und stützt sich dabei vorwiegend auf deren Verlautbarungen. Als „Verlautbarungen“ im weiteren Sinn sollen hier aber nicht nur Berichte, Gesetze, Beschlüsse, und andere Dokumente, sondern auch Diskussionsprozesse, die zur Erfassung des Hintergrundes einer wichtigen Entscheidung dienen, verstanden werden.
2. Die schriftlichen Quellen bestehen vorwiegend aus den „Drucksachen“ der Landessynode, Eingaben, Briefen, Kurzprotokollen und Zeitschriften einschließlich der Mecklenburger Kirchenzeitung. Die mündlichen Quellen sind die Tonbänder und Tonbandcassetten der Synode. Der Zugang besonders zu diesen Quellen ist beschwerlich. Da es keine Wortprotokolle, sondern nur Kurzprotokolle gibt, die nur die Namen der Redner/innen mit Stichpunkten enthalten, war es erforderlich, die Bänder (pro Tagung meist 20) abzuhören. Diese sind nur mangelhaft beschriftet, so daß der Zeitaufwand, das richtige Band und die richtige Stelle zu finden, erheblich war. Angesichts ihres hohen rechtlichen und historischen Wertes bedarf die Dokumentation der Synoden langfristig einer anderen Lösung!
3. In der Umbruchszeit seit 1989 sind in und von den Leitungsorganen der Kirche Hunderte von Diskussionen geführt, Berichte entgegengenommen, Themen behandelt, Entscheidungen gefällt und Regelungen und Gesetze produziert worden. An fünf ausgewählten Themenkomplexen, die m. E. besonders aussagekräftig für den Weg der Landeskirche waren, soll die Entwicklung im einzelnen nachvollzogen und verstanden werden. Daher war es nötig, die Prozesse, die zu den Entscheidungen führten, mit in die Betrachtung einzubeziehen. Die Darstellungsteile der einzelnen Kapitel sind bewußt ausführlich gehalten. Am Ende eines jeden Kapitel stehen „ekklesiologische Thesen“, also Betrachtungen, die die jeweilige Entwicklung bzw. Entscheidung in Bezug auf das Selbstbild und die Gestalt von Kirche zu deuten versuchen.
4. Die Themenkomplexe beschäftigen sich mit dem neuen Kirchensteuerabzugsverfahren, der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit, der Vereinigung mit der EKD und dem Beitritt zur VELKD, der friedensethischen Diskussion im Zusammenhang mit der Seelsorge an Soldaten und schließlich mit Gemeindeaufbau. Ich bin mir bewußt, daß dies nur ein Ausschnitt des gesamten Bildes ist. Viele andere wichtige Bereiche mußten ausgeklammert werden: Staats-Kirchen-Vertrag, Christenlehre und Religionsunterricht, Diakonie, kirchliches Bauen u.v.a.m. Dafür hätten weder Zeit noch Platz ausgereicht.
5. Da die Akten und Bänder der Synode z.T. nicht öffentlich sind, habe ich keine Daten in der Arbeit verwertet, die nicht auch öffentlich zugänglich sind. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber den Mitarbeiter/innen des OKR aussprechen, die mir den Zugang zu den Dokumenten ermöglicht und mir auch sonst weitergeholfen haben, wenn ich etwas brauchte.
Ich bin erst seit 1992 in Mecklenburg und habe die Wende hier nicht miterlebt. Für die Zeit vor 1992 kann ich mich nur auf die im OKR zugänglichen Dokumente und Informationen beziehen. Deshalb ist es möglich, daß ich bestimmte Dinge zu einseitig wahrnehme und beurteile.
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Kirche und Geld - das neue Kirchensteuerabzugsverfahren
„Wenn es stimmt, daß das Geld das wesentliche Steuerungsmittel der Gesellschaft ist und daß im Medium des Geldes das in der Gesellschaft allein Denkmögliche beschrieben wird, dann entscheidet sich auch am Geld, ob die christliche Gemeinde von dieser oder von jener Welt ist.“[7]
1.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.90
Das bisherige Kirchensteuersystem, das faktisch ein Beitragssystem auf Freiwilligkeitsbasis war, soll aus ökonomischen Gründen abgelöst werden. Der Oberkirchenrat (OKR) bringt eine Vorlage über das Kirchensteuerabzugsverfahren ein (Drucksache 64). Darin wird davon ausgegangen, „daß in Zukunft das Recht der Kirchensteuererhebung im Steuerabzugsverfahren durch staatliche Dienststellen wieder möglich wird“. Aufgrund der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der Währungsunion würden auch die Kosten in der Kirche (v.a. Personalkosten) stark ansteigen. Das „gegenwärtige Kirchensteuersystem“ sei dem aber „nicht gewachsen“. Daher müsse „unverzüglich“ geprüft und entschieden werden, ob nicht von dem Steuerabzugsverfahren durch die Finanzämter Gebrauch gemacht werden soll. Die OKR-Vorlage nimmt dabei Bezug auf die KKL-Tagung (Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes) vom 9.-11.3.90, die „diesen Weg für unausweichlich“ hält (vgl. KKL-Bericht, Mitteilungsblatt S.49) und gleichzeitig zu einem „gemeinschaftlichen Handeln“ der Gliedkirchen aufruft.
Als Argumente für das Abzugsverfahren werden vom OKR die „Erfahrungen der EKD“, fehlende effizientere Alternativen, niedrigere Kosten (3-4% gegenüber 8-10% bisher), monatlicher, direkter Einzug, und Einheitlichkeit in beiden deutschen Staaten genannt. Abgeschlossen wird die Argumentation mit dem Hinweis, daß die EKD-Überbrückungshilfe in der näheren Zukunft auslaufen werde.
In der Aussprache auf der Synode (15.3. 20.15 Uhr) wurde die Vorlage kontrovers diskutiert. Gegen das Abzugsverfahren wurden u.a. angeführt: die Gemeindenähe und der Charakter der Freiwilligkeit gingen verloren (Beck), die Trennung von Kirche und Staat sei in Frage gestellt (Dr. Hempel), ein „gemeinsames Handeln“ der Gliedkirchen sei wegen der Finanzhoheit der Länder nicht notwendig (Kiesow). Es würde ein Bruch im bisherigen Gemeindeverständnis vollzogen (Zarft). Die Frage nach alternativen Modellen wurde gestellt (Heydenreich).
Für das Abzugsverfahren spreche, daß es die „einzige Alternative“ sei (Labesius), daß es lediglich eine Dienstleistung des Staates sei und daher keine Abhängigkeit schaffe (Jenge).
Trotz der kontroversen Diskussion kommt es im Verlauf der Tagung zu folgendem, von einer deutlichen Mehrheit getragenen (M/4/3 d.h. 4 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen) Beschluß (DS 64-1):
„Die Synode stimmt vorbereitenden Schritten auf ein Kirchensteuerabzugsverfahren im Grundsatz zu. Dieser Beschluß und seine Hintergründe sind den Kirchgemeinden mitzuteilen, so daß von dort Stellungnahmen ermöglicht werden, die in die Vorbereitung einfließen können. Der OKR wird gebeten, das Erforderliche zu veranlassen.“
1.2. Nach der Synodaltagung
Die Reaktion der Kirchgemeinden erfolgt jedoch erst im Juni, denn es dauert bis zum 22.5., bis der OKR in seinem Brief die Gemeinden zu Stellungnahmen auffordert. Die Evangelische Studentengemeinde Rostock äußert in ihrem Brief vom 5.6. an die Synode dann auch Zweifel, „ob die angeforderten Stellungnahmen aus den Gemeinden überhaupt noch in den Meinungsbildungsprozeß einmünden können“. Propst Schäfer (14.6.) meint ebenfalls, daß die „Vorentscheidungen ohne genügende Beteiligung der Kirchgemeinden getroffen“ wurden. Pastor Martins aus Neubrandenburg (2.8.) hat den Eindruck, „als ob diese Frage längst entschieden sei“ und die Synode „nur noch längst beschlossene Dinge nachträglich bestätigen soll“. Außerdem mache das neue Verfahren „die durch die letzte Finanzierungsreform bewirkte Mündigkeit der Gemeinden und ihrer Eigenverantwortung wieder zunichte“ (Brief 21.6.) Die MKZ (Kirchenzeitung) druckt am 26.6. die Forderung der Gemeinde Lüttenklein nach einem „Gemeindeentscheid“ ab. Einige Synodale aus Sachsen (28.6) fordern die Synode sogar auf „den Beschluß (vom März, Vf.) für ein Jahr auszusetzen und auf breiter Basis Alternativen zu suchen“. Sie hätte Entscheidungen „im Eilverfahren gefällt, die den Charakter unserer Kirche verändern und ihre Gestalt für Jahrzehnte prägen“. Der KGR Rödlin (10.9.) äußert sein Befremden darüber, daß die Gemeinde „keine Information über die Entscheidung bekommen hat, die ... offensichtlich in den vergangenen Monaten und Wochen gefällt worden ist“.
Der LB (Landesbischof) reagiert auf diesen Brief (24.9.): „Die Zeit nach der Entscheidung der Landessynode (im Herbst, Vf.) hätte nicht ausgereicht, um alle Dinge ordnungsgemäß zu regeln“. Es war also „notwendig, Vorbereitungen zu treffen“ - „unabhängig“ von der Entscheidung der Synode. Gleichzeitig teilt er mit: „Der OKR wird demnächst ein Informationsblatt herausgeben.“
Das im Oktober erscheinende Faltblatt informiert alle Haushalte in Mecklenburg, daß ab 1991 die Kirchensteuer über die Finanzämter eingezogen und das Kirchgeld von den Gemeinden erhoben wird. Die Bürger/innen möchten ihre Kirchenzugehörigkeit bei den Meldeämtern eintragen lassen.
Die MKZ (7.10.) berichtet über die Informationstagung der Synode am 1.10. zu diesem Thema. Darin heißt es, der Bischof sehe in dieser Frage nur noch „wenig Spielraum“. Anfragen, ob alle Möglichkeiten für ein Gespräch auf breiter Ebene“ genutzt worden seien, „blieben seitens des OKR ohne Antwort“.
Auf der Tagung plädiert der Kirchenjurist R. Rausch für die Einführung des sich auf Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs.6 WRV gründenden neuen Verfahrens, denn der Verzicht auf das Kirchensteuersystem stelle „letztlich die Volkskirche in ihrer heutigen Form in Frage, weil das Finanzaufkommen geringer werden würde und damit nicht mehr alle kirchlichen Aufgaben im bisherigen Umfang beibehalten werden könnten“ (Referat S.29). Er weist darauf hin, daß die „Frage nach der Ausgestaltung des Kirchensteuersystems ... auch eine Frage nach der Ausgestaltung der Kirche“ ist. „Es geht um die Entscheidung zwischen Volkskirche und Freiwilligkeitskirche.“(S.32). Dem kirchlichen Selbstverständnis entspreche ein öffentlich-rechtlicher Status eher als ein privat-rechtlicher und zu diesem Status „gehört ein öffentlich-rechtliches Finanzierungssystem“(S.31).
Der Synodale Beste faßt die Vorgänge der letzten Monate kritisch zusammen: „Sollte eine breite Debatte möglichst umgangen werden? Jetzt sind alle nötigen Schritte getan.“ Nun sei die Synode in „Zugzwang“(MKZ 23.9. S.2).
Eine Woche vor der Herbsttagung der Synode spricht sich OKR-Präsident Müller in einem Interview der SVZ (24.10., S.3) für die Übernahme des neuen Verfahren aus: „Wenn sich die Synode wirklich alle Konsequenzen vor Augen hält, wird sie sich wohl für diese Form des Kirchensteuereinzugs entscheiden.“
1.3. Die Synodaltagung vom 1.-4.11.90
Die Vorlagen über die Gesetze zur Kirchenmitgliedschaft (DS 76-b), zur Kirchensteuererhebung (DS 77-b), zur Höhe der Kirchensteuer (DS 78-a) und zum Kirchgeld (79-b) werden diskutiert. Dabei lassen sich vier Meinungsströme erkennen und zusammenfassen:
- Eine generelle Kritik am Verfahren: Man fühle sich „nicht ganz fair“ von EKD und OKR „unter Zugzwang gesetzt“, Präsident Müller hätte eine Entscheidung durch sein Interview vorweggenommen (Beste). Eine sinnvolle Diskussion wäre möglich gewesen, wenn es eine Sondertagung gegeben hätte (Vogt). Was hindere die Synode an einer anderen Entscheidung? Er vermutet, daß schon Vorentscheidungen in „anderen Gremien“ getroffen worden seien, möglicherweise auch in denen der westlichen Partnerkirchen (so auch Dr. Kuske). Jetzt aber hätte die Synode keine andere Option mehr und müsse ‘ja’ sagen (Vogt). Besser wäre es, beim alten, auf die Gemeinde bezogenen Finanzierungsgesetz zu bleiben (Vogt, Krug).
- Es fehle eine grundsätzliche geistlich-theologische Auseinandersetzung, v.a. hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche (Beste). Die „Obrigkeitskirche“ werde befestigt und zwischen Gemeindeglied und Kirche stehe nun die staatliche Institution (Vogt, Krug). Seelsorgerlich sei bedenklich, daß man den Gemeindegliedern zumute, sich vor den staatliche Stellen (Volkspolizei) zu offenbaren, die früher repressiv gegen Christen vorgegangen seien (Zarft, Rabe).
- Eingeständnis des Scheiterns des alten Systems: Die Kirche sei mit der Finanzierung nicht klargekommen und konnte sich trotz des neuen Finanzierungsgesetzes nicht selbst erhalten (Zarft). Es gehe leider nicht anders, als das neue Verfahren zu akzeptieren (Hartig). Das Gemeindeverständnis von einer freiwillig opfernden Gemeinde sei eine „verkehrte Vorstellung bzw. eine Utopie“(Zarft). Er fragt, ob es nicht auch Alternativen zum staatlichen Abzugsverfahren gebe.
- Uneingeschränktes Begrüßen des neuen Systems: Es sei eine „offene Tür“, durch die wir einzutreten haben (Haack). Die Gemeindeglieder seien nach den Kirchensteuersprechtagen einverstanden und es herrsche „einhellige Zustimmung“. Die Glieder bräuchten sich „nicht mehr zu kümmern“, es sei gerecht und der monatliche Abzug sei „gut“(Dr. Kuske). Die Veranlagung bzw. Staffelung sei gerecht (Hartig, Jengel). Das neue Verfahren sei „zweckmäßig und praktisch“(Schuster) und neue Kräfte würden freigesetzt (Jenge). Nur das Eintreiben des Kirchgelds zusätzlich zur Kirchensteuer sei problematisch (Hartig).
Präsident Müller betont in der Diskussion noch einmal, daß ohne eine erhebliche Reduzierung der Personalkosten und eine Trennung von Kirchgebäuden das alte System nicht länger „tragfähig“ sei. R. Rausch ergänzt, daß das neue System die „Beste der vorhandenen Möglichkeiten“ sei. Die Zustimmung dazu sollte dringend vor dem 1.1.91 erfolgen, da der Staat nur bis zu diesem Termin anbiete, das Konfessionsmerkmal auf den Lohnsteuerkarten einzutragen. Danach sei dies nur noch über einen Nachweis möglich, was einen erheblichen Mehraufwand bedeute. Außerdem sei die terminliche Übereinstimmung mit der evangelisch-pommerschen und der katholischen Kirche zu beachten.
Der LB spricht sich in seinem Bericht vom 2.11. (DS 87) ebenfalls für das neue System aus: „... ohne erhebliche Stützungen aus dem Westen wäre die Kirche in den jetzigen Strukturen nicht überlebensfähig. Die finanzielle Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag, ... die Ausgaben steigen ständig, die Einnahmen sinken zunächst.“ (S. 10) Er weist gleichzeitig darauf hin, daß die Entscheidung für das Abzugsverfahren „in der Konsequenz die Entscheidung für die Volkskirche“ bedeute.
Die Synode beschließt die Vorlagen über die Kirchenmitgliedschaft, die aufgrund der Auskunftspflicht der Mitglieder gegenüber den staatlichen Meldeämtern über ihre Konfessionszugehörigkeit die Voraussetzung für die folgenden Gesetze über die Kirchensteuer bildet, mehrheitlich bei sechs Enthaltungen. Das „eigentliche“Kirchensteuergesetz und das über die Höhe der Kirchensteuer werden jeweils bei zehn und das Gesetz über das Kirchgeld bei dreizehn Gegenstimmen gebilligt. In einem Informationsbrief an die Kirchgemeinden (DS 79-1) teilt die Synode ihre Entscheidungen mit. Sie stellt dabei besonders die Bedeutung des Kirchgeldes für die Gemeinden heraus. Das Kirchgeld „bewahrt den Ansatz der Eigenverantwortlichkeit der Kirchgemeinden im Hinblick auf ihre Finanzen“.
[...]
[1] Bericht der Kirchenleitung zur Synodaltagung der Landeskirche vom 14.-17.11.91 (DS 127, S. 3).
[2] LB Stier verwendet die Begriffe Marginalisierung und Minorisierung in seinem jüngsten Bericht (Frühjahrssynode 1994, S. 14f.)
[3] Vgl. W. Huber, Kirche, München 1988, S. 170.
[4] Zitiert bei W. Huber, a.a.O., S. 143.
[5] LB Stier, a.a.O., S. 16f.
[6] W. Krusche, Rückblick auf 21 Jahre Weg- und Arbeitsgemeinschaft im Bund, ZDZ 1991/2, S.9
[7] R. Scherer, Die Kirche und das Geld, Vortrag auf der Mitarbeitertagung des Landesjugendpfarramtes, MKZ 23.1.94, S.5.
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