Alle Jahre wieder, so heißt es seit neun Jahren auf dem Münchner Olympiagelände. Alle Jahre wieder findet dann nämlich Lilalu, das größte Kinderzirkusfestival im süddeutschen Raum statt. Alle Jahre wieder können hier Kinder als Ferienprogramm eine Woche lang Zirkus nicht nur bestaunen, sondern selbst am Zirkusleben als Clown, Ziegendompteur oder Zauberin teilnehmen und schließlich in einer großartigen Galavorstellung ihre in dieser Woche erlernten Künste darbieten. Alle Jahre wieder … Die Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung lässt anderes vermuten: „Sozialreferat kippt Kinderzirkus Lilalu“. Auch wenn hier nicht auf die dafür Ausschlag gebenden Gründe eingegangen werden soll, bringt dieser Zeitungsbeitrag ins Bewusstsein, dass Zirkus ein Mittel sein kann, kindliche Freizeit thematisch zu gestalten. Doch handelt es sich bei diesen Angeboten lediglich um Ablenkungs- und Feriengestaltungsmöglichkeiten? Oder könnte man im pädagogischen Sinne auch von bildenden Aspekten dieser Arbeit sprechen?
Tatsächlich etabliert sich seit den frühen 1980er Jahren ein Praxisfeld, das unter dem Stichwort Zirkuspädagogik zusammengefasst werden kann. Im Wesentlichen geht es hier darum, mit den Mitteln des Zirkus bestimmte pädagogische Ziele zu erreichen. Dies könnte auch als der kleinste gemeinsame Nenner bezeichnet werden, denn sowohl in Bezug auf die Mittel als auch auf die Ziele finden sich äußerst unterschiedliche Vorgehensweisen. So wollen beispielsweise die einen allein das Ziel Spiel erreichen und nutzen dazu die dem Zirkus inne wohnende Faszination zur Motivation von Kindern, um dann mit Hilfe von diversen, den Zirkusdisziplinen entsprechenden Spielmaterialien und -angeboten dieses Spiel anzuregen. Andere bieten Zirkus entsprechend dem einleitend genannten Lilalu - als Ferienprogramm an, bei dem innerhalb kurzer Zeiträume intensiv zirzensisches Leben nachempfunden werden kann. Und wieder andere arbeiten mit komplexen Settings, die denen des professionellen Zirkus nicht unähnlich sind: Zirkuskünste werden über längere Zeiträume konzentrierttrainiert,um später zu einer qualitativ hochwertigenAufführungzu gelangen; die pädagogische Zielsetzung richtet sich dementsprechend völlig anders aus als im davor genannten Fall. Zwischen diesen Polen existieren darüber hinaus eine Vielzahl von Formen zirkuspädagogischer Projekte.
INHALT
1. Einleitung
2. Vom Zirkus zur Zirkuspädagogik
2.1. Zum Phänomen Zirkus
2.1.1. Historischer Überblick
2.1.2. Die Zirkuskünste
2.2. Die Entdeckung des Zirkus durch die Pädagogik
2.3. Die aktuelle Situation der Zirkuspädagogik
2.3.1. Organisation und Struktur in Deutschland
2.3.2. Formen und Anwendungsfelder
2.3.2.1. Zirkus in der Schule
2.3.2.2. Außerschulischer Kinder- und Jugendzirkus
2.4. Zusammenfassung
3. Bildung
3.1. Zu Entstehungszusammenhang und Begriffsgeschichte
3.1.1 Von der Hinführung zur Gottesähnlichkeit zur Selbstgestaltung des Menschen
3.1.2 Von Verfallsgeschichte und Begriffskritik zur pädagogischen Grundkategorie
3.2 Dimensionen des Bildungsbegriffs
3.3 Zusammenfassung
3.4. Bildungsaspekte der Zirkuspädagogik?
4. Die Qualitative Untersuchung
4.1. Das Erhebungsverfahren
4.1.1. Überlegungen zum Methodischen Vorgehen
4.1.2. Das ExpertInneninterview
4.1.2. Der Leitfaden
4.1.3. Die Stichprobe
4.1.4. Beschreibung der Untersuchungssituation – Vorstellung der GesprächspartnerInnen
4.2. Die Datenauswertung
4.2.1. Überlegungen zum Auswertungsverfahren
4.2.2. Das Vorgehen
4.3. Darstellungsform der Ergebnisse
5. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
5.1. Die Praxis der Zirkuspädagogik und ihre grundlegenden Konzepte und Ziele
5.1.1. Das Training
5.1.2. Trainer/ Trainerin
5.1.3. Individuelle Ausrichtung
5.1.4. Die Gruppe
5.1.5. Selbstständigkeit und Verantwortung
5.1.6. Körperlichkeit
5.1.7. Partizipation und Gespräch
5.1.8. Bedeutung der Aufführung
5.1.9. Leistung und Scheitern
5.1.10. Zirkus im Alltag
5.1.11. Auseinandersetzung mit Extra-Zirzensischem
5.1.12. Institutionelle Perspektive – Zirkus in der Schule
5.2. Zwischenbilanz
5.3. Dimensionen von Bildung in der Zirkuspädagogik
5.3.1. Motorisch (handwerklich-technisch)
5.3.2. Sozial
5.3.3. Emotional
5.3.4. Politisch und ethisch-religiös
5.3.5. Kognitiv
5.3.6. Ästhetisch
6. Zusammenfassung
7. Ausblick
8. Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang in seperatem Band
1. Einleitung
„Versucht das zu finden,
was euch möglich ist.
Macht’s euch nicht bequem.“
(GP2, S. 26, Z. 5)
Alle Jahre wieder, so heißt es seit neun Jahren auf dem Münchner Olympiagelände. Alle Jahre wieder findet dann nämlich Lilalu, das größte Kinderzirkusfestival im süddeutschen Raum statt. Alle Jahre wieder können hier Kinder als Ferienprogramm eine Woche lang Zirkus nicht nur bestaunen, sondern selbst am Zirkusleben als Clown, Ziegendompteur oder Zauberin teilnehmen und schließlich in einer großartigen Galavorstellung ihre in dieser Woche erlernten Künste darbieten. Alle Jahre wieder …
Die Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung lässt anderes vermuten: „Sozialreferat kippt Kinderzirkus Lilalu“[1]. Auch wenn hier nicht auf die dafür Ausschlag gebenden Gründe eingegangen werden soll, bringt dieser Zeitungsbeitrag ins Bewusstsein, dass Zirkus ein Mittel sein kann, kindliche Freizeit thematisch zu gestalten. Doch handelt es sich bei diesen Angeboten lediglich um Ablenkungs- und Feriengestaltungsmöglichkeiten? Oder könnte man im pädagogischen Sinne auch von bildenden Aspekten dieser Arbeit sprechen?
Tatsächlich etabliert sich seit den frühen 1980er Jahren ein Praxisfeld, das unter dem Stichwort Zirkuspädagogik zusammengefasst werden kann. Im Wesentlichen geht es hier darum, mit den Mitteln des Zirkus bestimmte pädagogische Ziele zu erreichen. Dies könnte auch als der kleinste gemeinsame Nenner bezeichnet werden, denn sowohl in Bezug auf die Mittel als auch auf die Ziele finden sich äußerst unterschiedliche Vorgehensweisen. So wollen beispielsweise die einen allein das Ziel Spiel erreichen und nutzen dazu die dem Zirkus inne wohnende Faszination zur Motivation von Kindern, um dann mit Hilfe von diversen, den Zirkusdisziplinen entsprechenden Spielmaterialien und –angeboten dieses Spiel anzuregen. Andere bieten Zirkus – entsprechend dem einleitend genannten Lilalu – als Ferienprogramm an, bei dem innerhalb kurzer Zeiträume intensiv zirzensisches Leben nachempfunden werden kann. Und wieder andere arbeiten mit komplexen Settings, die denen des professionellen Zirkus nicht unähnlich sind: Zirkuskünste werden über längere Zeiträume konzentriert trainiert, um später zu einer qualitativ hochwertigen Aufführung zu gelangen; die pädagogische Zielsetzung richtet sich dementsprechend völlig anders aus als im davor genannten Fall. Zwischen diesen Polen existieren darüber hinaus eine Vielzahl von Formen zirkuspädagogischer Projekte.
Inwieweit kann nun in dieser vielfältigen pädagogischen Praxis eine bildende Wirkung identifiziert werden? Diese Arbeit möchte möglichen Bildungsaspekten der Zirkuspädagogik nachgehen. Dazu sollen im einzelnen mehrere Fragen zu beantworten versucht werden. Einerseits geht es darum zirkuspädagogische Arbeit, ihre Ziele, ihre Grundannahmen, ihre Arbeitsformen zu beschreiben. Andererseits soll deutlich werden, inwieweit eben diese Praxis eine bildende Wirkung hat.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang bilden? Bildung bezeichnet einen – vielleicht sogar den zentralen – Grundbegriff in der deutschen Pädagogik. Dabei ist die Diskussion um seine Bedeutung und seinen Inhalt nahezu ungebrochen; zwar zieht sich durch viele Bildungstheorien der Gedanke eines anthropologischen Konzepts, das den für den Menschen charakteristischen Prozess der Aneignung der Welt bezeichnet, doch bei einer Betrachtung des ganzen Feldes zeigt sich auch diese Definition sehr unbestimmt. Es kann allein von einem Grundthema gesprochen werden, das sich durch die Gesamtheit der Bildungstheorien zieht: Die Relation des Subjekts zur Welt.
Darüber hinaus besteht im Vergleich diverser Bildungstheorien Uneinigkeit wie diese Relation gestaltet sein könne: Ist Bildung ein Prozess? Bezieht sich Bildung aus (bestimmten) Inhalten? Ist Bildung eine Fähigkeit? ...
Wie diesen Fragen nachgegangen werden wird, soll nun skizziert werden: Ausgehend von einem kurzen Überblick zur historischen Entwicklung von den Gauklerkünsten zum heutigen Zirkus (Kapitel 2.1.), werden daher zum einen relevante gesellschaftliche Bedingungen und zum anderen die (pädagogischen) Beweggründe dargestellt werden, um aufzuzeigen, wie es zur Entstehung einer Zirkuspädagogik gekommen ist (Kapitel 2.2.). Im Folgenden wird schließlich die Organisation und die Struktur des untersuchten Gegenstandes dargestellt werden; die Vorstellung verschiedener Felder und Formen in der konkreten Praxis werden das Bild der Entwicklung von den Wurzeln des Zirkus zu einer heutigen Zirkuspädagogik abrunden (Kapitel 2.3.).
Das dritte Kapitel wird sich aus theoretischer Perspektive dem in der Fragestellung enthaltenen Begriff der Bildung nähern. Es wird hier also darum gehen, diesen in seiner Vielschichtigkeit nicht zu verkürzen und ihn dabei dennoch – als theoretische Grundlage der späteren qualitativen Untersuchung – greifbar zu machen. Nach einer Skizzierung der Begriffsgeschichte (Kapitel 3.1.), wird zu diesem Zweck vorgeschlagen, Bildung nicht zu definieren, sondern zu dimensionieren (Kapitel 3.2.).
Die qualitative Untersuchung wird sich der Praxis und den Bildungswirkung der Zirkuspädagogik nähern, indem auf Aussagen und Erzählungen von direkt in diesem Feld Tätigen zurückgegriffen wird. In diesem Zusammenhang soll im vierten Kapitel geklärt werden, was die Wahl der Erhebungsmethode – dem ExpertInneninterview – bedingte, wie ihre Grundzüge beschaffen sind, welche Form der Leitfaden hatte und wie sich die Stichprobe zusammensetzt. Des weiteren sollen an dieser Stelle die GesprächspartnerInnen vorgestellt und die Gesprächssituation geschildert werden (Kapitel 4.1.) und schließlich das Auswertungsverfahren (Kapitel 4.2.) transparent gemacht werden.
Das fünfte Kapitel wird schließlich die Ergebnisse in möglichst dichter Form beschreiben. Dabei wird es zunächst darum gehen die Praxis anhand ihrer Konzepte, Ziele und Besonderheiten darzustellen. In dieser Beschreibung werden die bildenden Aspekte zirkuspädagogischer Arbeit bereits deutlich hervortreten (Kapitel 5.1.). Letztere sollen dann nochmals anhand der im theoretischen Teil vorgestellten Dimensionen von Bildung systematisiert werden (Kapitel 5.2.).
Die Zirkuspädagogik ist ein Feld, das sich im wesentlichen auf konkreten praktischen Projekten beruht. Literarische Auseinandersetzung findet sich dementsprechend allein in Form von Vorstellungen einzelner Projekte oder aber Ratgeberwerken wieder, dort aber in einer großen Vielfalt. Sucht man dagegen nach wissenschaftlicher Literatur, muss man feststellen, dass es sich hier um einen nahezu unbearbeiteten Bereich pädagogischer Praxis handelt. In diesem Sinne möchte ich mit dieser Arbeit einen Beitrag leisten, dass die Zirkuspädagogik auch von dieser Seite her eine größere
Beachtung erfährt.
2. Vom Zirkus zur Zirkuspädagogik
2.1. Zum Phänomen Zirkus
2.1.1. Historischer Überblick
Bühnen- und Vorführungskünste, die gleichwohl als Ahnen des Zirkus angesehen werden können, stellen Kulturleistungen dar, die schon früh in der Menschheitsgeschichte in verschiedensten Regionen der Erde eine Rolle spielten. Die ersten Zeugnisse lassen sich auf das 3. Jahrtausend v. Chr. datieren; aus dieser Zeit finden sich Wandreliefs, die Tänzerinnen (und Tänzer?), MusikantInnen und Ballkunststücke vollführende Frauen darstellen; ebenso wurden in anderen Regionen frühgeschichtliche Objekte gefunden, die unzweifelhaft auf das Bestehen verschiedener Gaukelkünste schließen lassen.
Es lässt sich davon ausgehen, dass diese spätestens in der griechischen und römischen Antike eine weite Verbreitung gefunden haben. So existiert eine Vielzahl von Belegen, die ein ‚etabliertes’ Auftreten von Gauklern und ihre große Beliebtheit vermuten lässt.[2] Auch wenn der Stand der Gaukler prinzipiell damals schon als unterprivilegiert angesehen werden muss, konnte die Zurschaustellung ihrer Kunst durchaus auch in öffentlichen Spielorten stattfinden, z.B. im Theater, im Gymnasion oder im Amphitheater[3]. Der Circus Maximus in Rom stellte zwar den ersten namentlich so genannten Circus dar, dem heutigen Zirkus entsprechende Darbietungen wurden hier allerdings nicht präsentiert. Dennoch hatten die Ereignisse des Circus Maximus mit dem heutigen Zirkus etwas gemein: Die volkstümliche Atmosphäre.[4]
Die Volkstümlichkeit des Marktplatzes war es auch, die den Fortbestand der Zirkuskünste durch Mittelalter und frühe Neuzeit ermöglichte und neue Künste hervorbrachte. Einerseits öffentlich als fahrendes Gesindel verpönt und von der Obrigkeit für rechtlos erklärt, verbreiteten die Gaukler andererseits die Magie ihrer Künste auf den belebten Plätzen der Städte und Dörfer, wo sie sich trotz ihrer geringen sozialen Stellung größter Beliebtheit erfreuten.[5]
Wieder salonfähig wurden zum einen Teile der komödiantischen Gaukelkünste in Form der Hofnarren[6]. Zum anderen gründete Philipp Astley 1772 eine „Riding School“, die er kurze Zeit später überdachen ließ und „Amphitheater“ nannte. Hier hatten Gaukelkünste das erste Mal ein eigenes Haus gefunden.[7] Anfangs stand dort die Darbietung von Reitkunststücken im Vordergrund. Andere Disziplinen – wie z.B. Seiltanz und Dressur – dienten lediglich der Pausenüberbrückung. Diese reine Vorführung von Kunstfertigkeiten wicht im Laufe der ersten Jahre des Zirkus[8] einer stärkeren Gewichtung von Choreographie, Dramatisierung und Mimesis[9], und auch die Aufführungsästhetik wandelte sich:
„Man sieht nicht mehr die Tüchtigkeit und athletische Strenge der alten Kunstreiter. Bestimmend ist jetzt die Schönheit der menschlichen Geste, das Leichte, Elegante, fast Schwebende der Körperhaltung.“[10]
Mit den Pferdedarbietungen im Mittelpunkt zielte der Zirkus dieser Zeit v. a. auf Publikum aus dem (wohlhabenden) Bürgertum und dem Adel ab (Astley nannte seine Menagerie ja auch Theater, welches beim Bürgertum Ende des 18. Jahrhundert äußerst en vogue war).
War dieser pantomimische, so genannte ‚französische Zirkus’ das Vorbild entstehender Zirkusunternehmungen, fand in der Zeit nach 1830 ein Wandel der Publikumsstruktur hin zu niedrigeren Bürgerschichten statt, sodass die Nummern immer seltener in eine (Gesamt-) Dramaturgie eingebettet wurden und die Reitdarbietungen den Ablauf nicht mehr dominierten; stattdessen traten die heute bekannten Zirkuskünste gleichberechtigt hinzu: Clownerie, verschiedene Akrobatik, Äquilibrilistik, Jonglerie, (Raubtier-) Dressur, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Messerwerfen, Lassoschwingen und Zauberei.[11]
Nachdem sich die Zirkusse, Astleys Vorbild entsprechend, auf feste Häuser beschränkt hatten, wurden sie Ende des 19. Jahrhunderts wieder mehr und mehr zu fahrenden Einrichtungen – in der Zeit davor waren sie auf feste, Astleys Vorbild entsprechende Häuser beschränkt, die sich besonders in den europäischen Metropolen befanden: Die Zeit der Großzirkusse war angebrochen. Unternehmen wie Renz, Krone, Sarassani hatten damals – bis zu Beginn des 2. Weltkrieges – ihre Blüte, es war ein „goldenes Zeitalter“ für den Zirkus.[12]
Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer letzten Hochphase, in der darauf folgenden Zeit wurde der Zirkus jedoch mehr und mehr vom Niedergang erfasst, was sich im Bankrott vieler traditioneller großer wie kleiner Zirkusunternehmen zeigte. Die Gründe hierfür lassen sich zum einen in der rasant wachsenden Bedeutung des Mediums Fernsehen sehen; zum anderen haben es die Zirkusse vorerst verpasst, sich auf neue Publikumsbedürfnisse einzulassen[13]. Während aber das Sterben kleiner (Familien-) Zirkusbetriebe bis heute anhält[14] und auch zahlreiche Neugründungen rasch wieder von der ‚Zirkus-Landkarte’ verschwinden[15], sorgt u. a. der „neue Zirkus“ dafür, dass Zirkuskunst bestehen bleibt und darüber hinaus weiterentwickelt wird.
Dem New Circe ist es auch zu verdanken, dass der Zirkus heute in einigen Staaten Europas, wie z.B. Frankreich, Italien und Portugal, als „kulturelle Aktivität“[16] gilt.
Das klassische Zirkusprogramm hatte sich seit seinen Anfängen dahingehend entwickelt, dass seine Betreiber letztendlich nahezu ausschließlich auf die individuelle Wirkung der einzelnen Nummern setzten, welche – dem klassischen Varieté entsprechend – in keinerlei dramaturgischem, inhaltlichem oder sonstigem Zusammenhang mehr standen. Im Laufe der Zeit wurde das Programm reduziert auf eine Präsentation von Sensationen, Superlativen und ‘noch nie da Gewesenem’. Die Ästhetik der Nummern, also sowohl die Ausstattung als auch die Performance der Artisten, war weitestgehend durch Normen festgelegt[17].
Bernhard Paul, André Heller (die Gründer des Zirkus Roncalli) und später auch andere hatten Visionen vom Zirkus, die mit diesen Superlativen nichts gemein hatten, und suchten nach Formen, die den Zirkus künstlerisch weiterentwickeln und damit aus der Krise befreien könnten.
Auch wenn hierbei nicht von einer homogenen Gattung gesprochen werden kann, werden diese neuen Formen unter Bezeichnungen wie New Circe, Neuer Zirkus oder Alternativer Zirkus zusammengefasst[18]. Die verschiedenen Genres der Zirkuskünste tauchen zwar auch hier auf, die Form der Präsentation, v. a. aber die Philosophie, die hinter dem „Projekt“ Zirkus steht, hat sich grundlegend gewandelt. Zirkus soll nicht mehr das dynastisch gewachsene Unternehmen darstellen, sondern ein künstlerisches Projekt, das gerade auch KünstlerInnen aus dem nicht circensischen Umfeld offen steht. Überhaupt wollen die MacherInnen ein Hauptaugenmerk auf Kunst und Poesie[19] richten; was nicht bedeutet, dass die typischen zirzensischen Kunstfertigkeiten im Gesamtkunstwerk an Qualität verlieren. Aber, um zur neuen Präsentation zurückzukommen: Der Blick und das Erleben des Publikums steht wieder deutlich im Vordergrund. Es geht in den Nummern nicht um die Leistung an sich, sondern um eine dramatisch fesselnde Präsentation. Und zu diesem Zweck werden im Neuen Zirkus alle Möglichkeiten angewandt, die man aus den anderen Künsten, besonders dem Theater, kennt: Die Nutzung moderner Lichttechnik, bildende Künste (Flic Flac), die Bedeutung von Musik und Komposition und deren visuelle und schauspielerische Einbindung in das Geschehen in der Manege (Gosh), fiktive Biographien (Roncalli) oder sogar Rollen für alle Artisten (Cirque du soleil), hohe Bedeutung der Gesamtinszenierung und Nummerndramaturgie, Einbindung des Programms in und um den Zirkus herum in ein Thema (Flic Flac) bis hin zur Einbindung der gesamten Show in eine Geschichte (Cirque du soleil).[20]
Schulz und Ehlert fassen zusammen:
„Die Verbindung aus neuen und traditionellen Elementen, auch die Einbeziehung von Jahrmarktkünsten und fast vergessenen Gaukeleien, lassen die Verfasser für die gegenwärtige Epoche den Begriffsvorschlag «Postmoderne Circuskunst» als angemessen erscheinen.“[21]
Diese neuen Formen des Zirkus und die damit einhergehende Wiederentdeckung und erneute Begeisterung trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass viele PädagogInnen überlegten, wie das „Material“ Zirkus in die Kinder- und Jugendarbeit einfließen könnte.
2.1.2. Die Zirkuskünste
Es sei noch kurz vorgestellt, um welche Künste es sich denn nun tatsächlich handelt, die im Zirkus vorgeführt werden.
Diese Künste bzw. die Zirkusdisziplinen lassen sich in diverse Kategorien einteilen, Grabowiecki unterscheidet folgende sechs „Großbereiche“[22], die – von Punkt 4. und 5. abgesehen – noch kurz erläutert werden sollen:
1. Äqulibristik
2. Akrobatik
3. Jonglieren
4. Clownspielen
5. Tiere - Dressur
6. Diverse andere Manegenkünste
7. Kleinkunstunterhaltung
1. Äquilibristik bezeichnet prinzipiell die Kunst etwas zu balancieren. Dabei kann wiederum genauer differenziert werden, ob etwas (Gegenstände) z.B. mit einem Körperteil im Gleichgewicht gehalten wird, oder ob der/die ArtistIn sich selbst in einem solchen Zustand hält. Dies wird mit unterschiedlichen Geräten und Arrangements erreicht, die den Kitzel sowohl für die Ausführenden als auch die Zusehenden ausmachen: z.B. Einrad, Drahtseil, Rola, Laufkugel, usw.
2. Akrobatik wird ebenso auf unterschiedlichste Weise durchgeführt, und kann teilweise in die Nähe der Äquilibristik führen (z.B. die Adagioakrobatik). Darüber hinaus kann Akrobatik die verschiedensten Schwerpunkte setzen haben; grundsätzlich lassen diese sich anhand ihrer Dynamik (statisch vs. beweglich) oder der Quantität der durchführenden Personen (Solo-, Partner-, Gruppenakrobatik) voneinander abgrenzen. Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl von Formen, die durch das Einbeziehen besonderer Merkmale (z.B. speziellen Geräten wie dem Trapez) eine eigenständige akrobatische Form darstellen.
3. Jonglieren beinhaltet über die klassischen Formen (mit Bällen oder Keulen) hinaus eine Vielzahl weiterer Subdisziplinen: Angefangen mit der Jonglage unüblicher Gegenstände (z.B. Eier, Banjos), über das Contact-Juggling[23], bis hin zu Handgeschicklichkeitskünsten im weiteren Sinne (Cigarboxes, Diabolo, Teller, Hut, Lasso, u.ä.).
6. Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl von Manegenkünsten, die ein zirzensisches Programm bereichern können: Zaubern, Fakirnummern, Tänze, Stockfechten, Bauchredner, usw.
7. Kleinkunstunterhaltung „lebt oder besteht eigentlich aus der künstlerisch-freiheitlichen Kombination aller Disziplingruppen“[24]. Insofern handelt es sich hier nicht um eine eigene Disziplinkategorie, sondern hier soll verdeutlicht werden, dass die Einbeziehung mehrerer Disziplinen durchaus möglich (mitunter sogar üblich) ist und hier ein besonderer künstlerischer Reiz gesehen werden kann.
2.2. Die Entdeckung des Zirkus durch die Pädagogik
Wurzeln einer Zirkuspädagogik lassen sich allerdings schon wesentlich früher, vor dem Neuen Zirkus ausmachen. So findet sich bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts das Projekt ‚Boys Town’, deren Gründer Pater Flangan Zirkuskünste nutzte, um verwahrlosten Straßenkindern ein Betätigungsfeld zu eröffnen[25]. Aus einem ähnlichen Hintergrund heraus ist 1949 der Circus Elleboog (die älteste bestehende zirkuspädagogische Institution) und in den 1950er Jahren die Gruppe „Los Muchachos“ entstanden, beides Projekte, die sozusagen in einen sozialpädagogischen Kontext zu stellen wären.
In Deutschland lässt der freizeitpädagogische Ratgeber „Der unsterbliche Zirkus“[26] darauf schließen, dass vereinzelt auch hierzulande PädagogInnen Mitte des 20. Jahrhunderts „Zirkus“ in ihre Arbeit einbezogen.
Einen breiteren Zugang findet die Zirkuspädagogik schließlich seit dem Beginn der 1980er Jahre, was sich auf Entwicklungen sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf pädagogischer Seite zurückführen lässt:
Zirkus rückt wieder stärker in das Interesse der Menschen. Dies spiegelt sich sowohl in den künstlerischen Entwicklungen, die der Zirkus (als Neuer Zirkus, vgl. Kap. 2) erfährt, als auch in steigenden Zuschauerzahlen wider. Zum anderen beginnen diverse Gaukelkünste in den Freizeit- und Alltagsbereich Einzug zu halten, ja, es kann sogar davon gesprochen werden, dass diese sich (v.a. in subkulturellen Milieus) weiterentwickelten bzw. neue entwickelt wurden[27]. Dieses Phänomen zeigt, dass Zirkus- und Straßenkünste langsam aber sicher gesellschaftlich salonfähig werden, wobei gleichzeitig die Grenze zwischen erwerbsmäßiger Zirkus- bzw. Straßenkünstlerin und Hobbyartist immer mehr verwischt.[28]
Von pädagogischer Seite her wurde der Zirkuspädagogik durch zwei Bewegungen Vorschub geleistet. Auf außerschulischer Seite durch die neue Kulturpädagogik; auf schulischer Seite durch Reformbestrebungen innerhalb der Sportpädagogik.
Im weiteren Sinne lassen sich beide als Folge der gesellschaftlichen Umbrüche der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ansehen, als viele PädagogInnen mit den starren Vorstellungen von Bildung und Erziehung unzufrieden waren und nach Wegen suchten, sich von dem Korsett, das die klassischen Erziehungsinstitutionen sowohl den ihnen anvertrauten Heranwachsenden, als auch den Erziehenden selbst aufzwang, zu befreien. Einige versuchten dabei, außerhalb der (klassischen) Institutionen ihre Vorstellungen von fortschrittlicher Pädagogik zu verwirklichen, wobei unter anderem eine Richtung entstand, die sich unter „Neue Kulturpädagogik“ subsumieren lässt.[29]
Innerhalb der Schule finden sich ebenfalls vielseitige kritische Stimmen, entscheidend für die vorliegende Arbeit ist der seit den späten 1970er Jahren innerhalb der Sportwissenschaft und der Sportpraxis vermehrt auftretende Wunsch, den (Sport)Unterricht vom allgegenwärtigen Leistungsaspekt und der damit einhergehenden Konformität zu befreien. Einen entscheidenden Impuls erhielten reformfreudige LehrerInnen durch den Zirkus, insbesondere dem bereits erwähnten neuen Zirkus: Die Verbindung artistischer, sportlicher Leistung mit Kunst. In diesem Sinne erkannten sie die Zirkuskünste als eine Möglichkeit, sportliches Können mit ästhetisch-spielerischen Elementen zu verbinden. Und was so oftmals als spielerisches Experiment begonnen hatte, gewann nach und nach an Bedeutung und wurde in vielen Schulen zum festen Bestandteil schulischen Lebens.[30]
2.3. Die aktuelle Situation der Zirkuspädagogik
Seit den Anfängen sind nun einige Jahre vergangen, und die Zirkuspädagogik scheint sich mit ca. 200 aktiven Kinderzirkussen in Deutschland[31] etabliert zu haben[32]. Dabei unterliegt sie keiner stringenten Entwicklung; die Gründe dafür wurden in Kapitel 2.2. bereits angedeutet: Analog zu anderen kulturpädagogischen Feldern entstand die Zirkuspädagogik nicht aus einer Institution – mit der/den entsprechenden zentralen Gründungsfigur(en) – heraus, sondern geht auf die Initiative vieler PädagogInnen zurück. Dementsprechend zeigt sich das Feld heute in seiner Struktur sehr heterogen.
Zum einen ist das Netz an Kinderzirkussen sehr dicht, zum anderen unterscheiden diese sich sehr stark in Ausrichtung und Zielsetzung und sind unterschiedlichsten Institutionen angegliedert (vgl. Kapitel 2.3.2.).
2.3.1. Organisation und Struktur in Deutschland
Die Zirkuspädagogik organisiert sich von unten nach oben – engagierte Personen aus den Kinder- und Jugendzirkussen selbst oder deren Umfeld gestalten in eher informellen Strukturen und kommunaler Vernetzung und Verbandsarbeit[33] das Geschehen in Deutschland[34]. Diese Vernetzung hängt, abgesehen vom regionalen Aspekt, von der inhaltlichen und institutionellen Ausrichtung des Zirkus ab (vgl. Kapitel 2.3.2.1.).
Erst im Herbst 2005 wurde ein bundesweiter Dachverband gegründet. Davor existierte keine zentrale Organisation, die sich um überregionale Belange, wie Lobbyarbeit, Vernetzung, Aus- und Fortbildungsfragen, Kongresse usw. kümmerte; die Kinder- und Jugendzirkusse waren vielmehr anderen thematisch nahe stehenden Verbänden zugeordnet (z.B. dem Bundesverband Theaterpädagogik e.V. (BuT), dem Kreisjugendring (KJR), usw.). Abzuwarten bleibt, inwieweit dieses neue Gremium diese Aufgabe übernimmt bzw. übernehmen kann.
Es ist also nicht überraschend, dass es sich bei dem Ausdruck „ZirkuspädagogIn“ um keine geschützte Berufsbezeichnung handelt, und folglich auch kein übergreifendes Ausbildungscurriculum besteht. ZirkuspädagogInnen haben ihr Wissen und Können (um eben nicht von Qualifikation zu sprechen) meist aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen; diese reichen von der autodidaktischen Aneignung, dem Besuch von Workshop- und Wochenendkursen, Wahlfachbelegung in der Berufsausbildung[35] bis hin zu umfangreichen Weiterbildungen[36], die mit mehreren hundert Unterrichtsstunden eine stärkere Vertiefung ermöglichen. Einige dieser Fortbildungen ermöglichen den TeilnehmerInnen eine offizielle Anerkennung. Bezeichnend für die etwas diffuse Struktur in Deutschland ist, dass diese Anerkennung durch einen Theaterverband, den BuT vergeben wird, nämlich als „Zirkus- und TheaterpädagogIn“ und nicht durch eine Institution, die sich nur auf den/die „ZirkuspädagogIn“ bezieht.
2.3.2. Formen und Anwendungsfelder
Zirkuspädagogik findet sich dabei in den unterschiedlichsten Feldern wieder und wird diesen und dem (Ausbildungs-)Hintergrund des Zirkuspädagogen entsprechend, umgesetzt. Eine Differenzierung ist auf vielfältige Weise möglich, z.B. anhand der Hauptakzentuierung: Zirkustheater – Bewegungskunst; zielorientiert (Sozialpädagogischer Ansatz) – ergebnisorientiert (kulturpädagogischer, künstlerischer Ansatz)[37]. Ich möchte mich im Folgenden auf eine institutionelle Unterscheidung konzentrieren[38], und Schulzirkus auf der einen Außerschulische Zirkusarbeit auf der anderen Seite betrachten, da hier eine Trennschärfe am klarsten gegeben ist.
2.3.2.1. Zirkus in der Schule
Zirkus hat vielfältigen Eingang in die Schule gefunden. Es kann regelrecht von einer Schulzirkusszene gesprochen werden[39].
In Grundschulen ist “Zirkus” als Bestandteil von Projektwochen zu finden: Über einen festgelegten (eher kurzen) Zeitraum wird von allen beteiligten SchülerInnen eine Zirkusvorstellung vorbereitet; manchmal wird “Zirkus” dabei zum umfassenden Thema, das einem roten Faden gleich in dieser Zeitraum den gesamten Unterricht durchzieht (Geschichten zum Zirkus erzählen und schreiben, Requisiten basteln, Kostüme schneidern, usw.).
In der Sekundarstufe I und II werden inzwischen an Schulen vermehrt Zirkuskünste unter der Bezeichnung “Bewegungskünste” den SchülerInnen vermittelt. In zwei Bundesländern sind diese dabei in den Lehrplänen für Sportunterricht zu finden (z.B. Bayern, Hessen; vgl. Stillger 1993) und können somit – zumindest optional – Teil des regulären Sportunterrichts werden; in Hessen können “Bewegungskünste” in der Kollegstufe als Teil des Sportunterrichts auch in die Abiturnote einfließen.
An einigen wenigen Schulen werden “Bewegungskünste” sogar als eigenes Wahlpflichtfach[40] angeboten, was allerdings weniger auf Lehrplanänderungen oder vom Kultusministerium angeregte Pilotprojekte als vielmehr auf das Engagement vor Ort zurück zu führen ist.
Die häufigste Form in der Zirkus in die Schule (v.a. in der Sekundarstufe) Eingang findet sind die Zirkus-AGs. Diese haben zugleich die größte Außenwirkung und prägen somit das Bild der bereits oben erwähnten Schulzirkusszene am entscheidendsten. Hier wird am intensivsten geprobt[41], denn die Bewegungskünste, die im regulären Unterricht meist nur ansatzweise zum Tragen kommen können, werden hier vertieft, auf ein größeres Ensemble abgestimmt und schließlich auf eine Vorstellung hin verfeinert[42].
Auch in diesen Bereich scheint also Bewegung zu kommen, denn mit der Aufnahme der Bewegungskünste in den Lehrplan durch Bayern und Hessen ist zu vermuten, dass auch in anderen Kultusministerien über eine solche Institutionalisierung diskutiert wird.
2.3.2.2. Außerschulischer Kinder- und Jugendzirkus
Dieser Bereich scheint bei der Betrachtung der existierenden Literatur und sonstiger Informationsquellen ein in solcher Weise ausdifferenziertes Feld zu sein, dass bisher noch nicht der Versuch unternommen wurde, eine systematische Übersicht zu den verschiedenen zirkuspädagogisch arbeitenden Institutionen zu erarbeiten. Die bestehende Literatur begnügt sich damit, entweder diese lediglich vorzustellen[43], einzelne exemplarisch für bestimmte Schwerpunkte zu beschreiben – ohne diese Einordnung zu thematisieren[44] – oder aber Zirkuspädagogik unter bestimmten Aspekten wie z.B. “Sportpädagogisch“, “Spielkulturell”[45], usw. zu betrachten, allerdings auch hier ohne übergeordnet zu systematisieren.
Im Folgenden soll dieses Feld anhand seiner extremsten Ausprägungen umrissen werden – tatsächlich ist es häufig nicht möglich die einzelnen Kinder- und Jugendzirkusse eindeutig einer Kategorie zuzuordnen.
Um mit der ursprünglichen Konnotation von Zirkus zu beginnen, seien an erster Stelle die Zirkusschulen[46] genannt, die am nächsten an der Tradition des Zirkus zu verorten sind. Ihre Ausrichtung ist dementsprechend v.a. auf den künstlerischen Bereich gerichtet, so dass pädagogische Fragen auch hauptsächlich in Bezug auf die Bewegungskünste gestellt werden: Die Fragen Wie wird (am besten) gelernt und Was sind die Lerninhalte spielen eine größere Rolle als Warum wird etwas gelernt. Den Zirkusschulen ist damit gemein, dass sie ergebnisorientiert arbeiten: Es geht nicht darum, übergeordnete pädagogische Ziele zu erreichen, sondern eben die Zirkuskünste zu lernen und bestmögliche Aufführungen zu erarbeiten. Der Kunst wird so ein zweckfreies Terrain eingeräumt.
Konträr dazu existiert eine Vielzahl von Kinder- und Jugendzirkussen, die die Zirkuskünste und das Flair des Zirkus nutzen, um bestimmte Ziele zu erreichen.
In der Sonder- und Heilpädagogik wird versucht mit Zirkusprojekten besonders vom Spielcharakter der Zirkuspädagogik zu profitieren. Das Spiel soll helfen, bestehende Barrieren (physische und psychische Einschränkungen, Krankheit; besonders starke Unterschiede im Können der einzelnen TeilnehmerInnen), die ein normales Agieren erschweren, zu überwinden.[47][48]
Auch in sozialpädagogischen Kontexten wird versucht mit den Mitteln des Zirkus z.B. Drogenpräventionsarbeit zu leisten[49], die Sozialisationsbedingungen von Kindern aus sozialschwachen Milieus zu verbessern[50], Integration von Kindern mit Migrationshintergrund zu erreichen[51] u.v.m. Wenn auch (oft) nicht mit der eben genannten eindeutigen Zielsetzung, sind temporäre, teilweise langfristige Zirkusprojekte häufig in der (verbandlichen) Kinder- und Jugendarbeit zu finden. Hier wird es schließlich auch immer müßiger eine Festlegung zu finden, ob es sich jeweils um eine ergebnis- oder zielorientierte Form handelt.
Eine letzte Form stellt die Zirkusanimation dar. Zentral ist hier der Spiel-, Erlebnis- und Partizipationscharakter: Die Offenheit und Zugänglichkeit zur Zirkusaktion, in der das Spiel an sich im Vordergrund steht. Weiter lässt auch diese Form sich nicht eindeutig umreißen, da sie in unterschiedlichsten Kontexten auftaucht: von der Spielbusaktion im Stadtteil bis zum Kinderbetreuungsangebot auf Firmenfesten. Schwer zu sagen ist dann auch, wie weit hier von einer (pädagogischen) Zielorientiertheit[52] gesprochen werden kann und sollte. Denn einerseits steht hier ganz eindeutig das Spiel im Vordergrund und dessen Charakter kann man nur gerecht werden, wenn man es frei von jeglicher Zweckhaftigkeit stellt, die außerhalb des Spiels selbst liegt[53]; andererseits werden diese Aktionen von Menschen ausgeführt die zumindest der Zunft der Pädagogik als nahe stehend bezeichnet werden können, und denen somit unterstellt werden kann, auch ein pädagogisches Anliegen, ein pädagogisches Ziel im Blick zu haben.
2.4. Zusammenfassung
Im vorangegangenen Kapitel sollte vorerst versucht werden, sich dem Phänomen Zirkus zu nähern, begonnen mit einer kurzen Darstellung seiner Allgegenwärtigkeit in verschiedensten Kulturkreisen in Form der Gaukelkünste bis hin zu seiner heutigen Erscheinung, in der das Element dieser Künste zwar noch wesentlich ist, die Zirkuskultur sich aber ansonsten gegenüber anderen Künsten – insbesondere dem Theater – geöffnet hat. Um darzustellen, wie das konkrete zirzensische Handlungsfeld tatsächlich beschaffen ist, wurden im Anschluss die Zirkuskünste kurz skizziert.
Der nächste Schritt veranschaulichte die Rahmenbedingungen der Entstehung einer Zirkuspädagogik. Über erste vereinzelte pädagogische Projekte leisteten dieser besonders zwei Bedingungen Vorschub: Zum einen die Öffnung der Gesellschaft gegenüber zirzensischer Kultur (Zirkuskunst als Hobby). Zum anderen die Bestrebungen von PädagogInnen nach alternativen Lehr- und Lernformen.
Der Blick auf die Zirkuspädagogik, wie sie sich heute präsentiert, lässt diese grundsätzlich als etabliert erscheinen. Jedoch konnte festgestellt werden, dass sich zum einen die Praxis äußerst heterogen zeigt und zum anderen, dass sich eine übergeordnete Struktur erst im Aufbau befindet. Ein Blick auf die Praxisfelder in der Schule und die verschiedenen Formen von außerschulischen Kinder- und Jugendzirkusprojekten verdeutlichten die Diversität des Feldes.
Dass nun PädagogInnen aus den unterschiedlichsten Bereichen, also auch solche, die vor der Etablierung der Kulturpädagogik arbeiteten, oder solche, die nicht unmittelbar der Kulturpädagogik zuzurechnen sind, den Zirkus als pädagogisches Instrument entdeck(t)en, lässt vermuten, dass sie dem Arbeiten mit Zirkus eine bildende Wirkung zuschreiben – in der einschlägigen Literatur finden sich durchaus auch immer wieder (eher knapp gehaltene) Auflistungen zu den „erzieherischen Werten“[54], wie z.B. Konzentrationssteigerung, Ausbau sozialer Fähigkeiten, Improvisationsfähigkeit, Persönlichkeitsbildung und Kreativität. Dieser ‚Zuschreibung’ will ja auch diese Arbeit fragend nachgehen: In welcher Weise ist die Arbeit im und mit Zirkus bildend?
Bevor dies geschehen kann, soll nun erst noch der Frage nachgegangen werden was denn überhaupt unter Bildung zu verstehen sei.
3. Bildung
„Bildung ist etwas,
das wachsen muss, Zeit braucht
und am Ende keinen rechten
überzeugenden Ausweis
zu haben scheint.“[55]
„Bildung ist ein, wenn nicht der Grundbegriff der Pädagogik in Deutschland“ – so erfahren wir zu Beginn des Artikels zum Stichwort im Wörterbuch der Pädagogik[56]. Der Begriff ist damit einer der wenigen, die in der Tradition der Erziehungswissenschaft dauerhaft und leitend auftreten. Trotz vielfältiger Kritik[57] und diversen Versuchen, ihn durch andere Begriffe zu ersetzen, ist der hohe Stellenwert des Bildungsbegriff bis heute im pädagogischen Diskurs ungebrochen.
Da sich im Begriff der Bildung das jeweilige Selbst- und Weltverständnis des Menschen widerspiegelt, ist es nicht möglich, ihn zeitlos zu definieren. Wenn man ihn also erschließen will, muss man ihn unter seiner historischen und systematischen Vielschichtigkeit betrachten[58].
Dass der Begriff somit im historischen Verlauf eine Vielzahl von sprachlichen Elementen und Konnotationen in sich aufgenommen hat, führt außerdem dazu, dass seine Verwendung immer mit einem gewissen „semantischen Überschuss“[59] einhergeht, der zum einen bei präzisen wissenschaftlichen Begriffen nicht gegeben ist – das scheint, wie Ehrenspeck[60] vermutet, gerade seine Attraktivität und Unersetzbarkeit auszumachen. Zum anderen wird in dieser breiten Bedeutungspalette eine Grund dafür gesehen, dass der Bildungsbegriff somit kaum übersetzbar ist bzw. ein typisch deutscher Begriff ist, für den es in vielen anderen Sprachen kein Äquivalent gibt[61].
Vorangegangenes macht deutlich, dass sich der Begriffsgehalt von Bildung nicht einfach in einer einzelnen Definition einfangen lässt. Somit kann und soll also auch das Ziel dieses Kapitels nicht sein, den Begriff eindeutig zu definieren; vielmehr soll versucht werden, zuerst eine knappe Skizzierung des historischen Entstehungszusammenhang und des Verlaufs der Begriffsgeschichte zu erstellen und sodann die systematische Vielfalt des Begriffs sowohl inhaltlich als auch formal zu dimensionieren, um auf diese Weise fassbar zu machen, auf was die folgende qualitative Untersuchung fokussiert, wenn sie nach „Bildungsaspekten“ der Zirkuspädagogik fragt.
3.1. Zu Entstehungszusammenhang und Begriffsgeschichte
3.1.1 Von der Hinführung zur Gottesähnlichkeit zur Selbstgestaltung des Menschen
Der Bildungsbegriff in seiner pädagogischen bzw. geisteswissenschaftlichen Fassung hat seine Wurzeln und Vorläufer in theologischen und antiken Denktraditionen. Als wichtige Quellen sind in diesem Zusammenhang die jüdisch-christliche Vorstellung von der „imago dei“ – als Spannung zwischen der zugleich bereits gegebenen und erst zu verwirklichenden Gottesebenbildlichkeit des Menschen[62] –, die griechisch-hellenistische Idee des „plattein“ – „gestalten“, d. h. der Möglichkeit, die Seele analog zum Leib zu bilden, sowie die römisch-antiken Denkfigur der „cultura animi“ zu nennen[63].
In der deutschen Mystik des 14. Jhd., in der sich Bildung ebenfalls als Aktualisierung der Gottesähnlichkeit verstanden findet, taucht zum ersten Mal der Terminus „Bildung“ selbst auf (in Form des spätalthochdeutschen „bildunga“)[64].
Ausgehend von diesem theologischen Sinngehalt der Bildungsidee, der sich bis weit in die Neuzeit erhält, gewinnt Bildung mit der Aufklärung und im politischen Zusammenhang der Emanzipation des dritten Standes eine neue Dimension in einer säkularisierten Form. Bildung bezeichnet nun die kritische Distanz des aufgeklärten Menschen gegenüber der Fremdbestimmung durch Theologie, Metaphysik sowie durch die herrschende Klasse. Der Mensch ist Dank seiner ihm eigenen Vernunft autonom – d.h. er kann sich durch Bildung aus den überkommenen Verhältnissen befreien. Dabei tritt neben die Ausbildung zum Bürger die allgemeine Menschenbildung (Rousseau). Ein wichtiger Impuls für die Idee von Bildung in dieser Zeit ist die Leibnizsche Sicht des Menschen als Monade und seiner Deutung der Substanz als Kraft. In der (psychologisierten) Fassung dieser Gedanken kann Bildung nun verstanden werden als die Entfaltung der naturgegebenen Kräfte der Seele[65].
Die Aufklärung sah diesen Prozess als einen Vorgang an, der durch planmäßiges erzieherisches Einwirken von außen verursacht wird. Im Zeitalter des deutschen Humanismus und Idealismus hingegen wird Bildung dann zur Selbstformung und Selbstgestaltung des Menschen. Nach Fichte ist es nicht ein von außen herangetragenes Bild, sondern die Bestimmung des Menschen selbst, die zum Bezugspunkt von Bildung wird – Humboldt beschreibt diese Ausformung von Individualität des Menschen als „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (zit. nach Böhm 2000, S. 76). Bildung geschieht in seiner Sicht als ein Prozess der andauernden Welterweiterung, der nach Objektivität strebend dieses Ziel niemals erreichen kann, weil sich dann die Subjektivität/Individualität auflösen würde[66].
Infolge des Neuhumanismus und dessen Bildungsverständnis wurde der Bildungsbegriff zu Beginn des 19. Jhd. in die Geisteswissenschaften und in die Fachsprache der geisteswissenschaftliche Pädagogik übernommen und hat hier bis in die frühen 60erJahre des 20.Jhd. eine Weiterentwicklung erfahren[67].
3.1.2. Von Verfallsgeschichte und Begriffskritik zur pädagogischen Grundkategorie
In der ersten Hälfte des 20. Jhd. prägten Theoretiker wie Nohl, Litt und Spranger u. a. unter dem Vorzeichen seiner vorangegangenen bürgerlichen „Verfallsgeschichte“[68] – der äußere Verfall des humanistischen Bildungsideals zur Vielwisserei und seine ideologische Instrumentalisierung zur Sicherung sozialer Privilegien im sogenannten Bildungsbürgertum hatten schon um die Jahrhundertwende zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen[69] – den Bildungsbegriff neu. Nach 1945 wurde dabei in Abgrenzung zur harmonisierenden Sicht des Neuhumanismus v. a. die Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden und das Aushalten von Widersprüchen und Spannungen als wesentliche Bestandteile von Bildung unterstrichen[70].
Während der Bildungsbegriff nach 1945 noch viel gebraucht wurde geriet er in den 60er und 70er Jahren dann erneut unter heftige Kritik.
Zum einen erschien der Terminus aus der Perspektive verschiedener gesellschafts- und ideologiekritische Positionen mit Recht ideologieverdächtig; bedeutsam war hier etwa Adornos 1959 veröffentlichter Aufsatz „Theorie der Halbbildung“, in dem er zeigt, wie der auf Selbstbestimmung und Herrschaftsfreiheit zielende neuhumanistische Bildungsbegriff in der Folgezeit mit dem aufsteigenden Bürgertum und dessen kapitalistischer Gesellschaftsordnung völlig deformiert worden war (vgl. Schütze 1993, S.11).
Zum anderen ging mit der sogenannten „realistischen Wende“ und der Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sowie mit der Neuausrichtung der Disziplin auf eine auch empirisch forschende Sozialwissenschaft eine Infragestellung des Bildungsbegriffs unter empirisch-analytischer Perspektive einher. Bildung wird als ein zu ungenauer und nicht operationalisierbarer Begriff abgelehnt; es wird versucht, seine Bedeutungskomponenten in der empirischen Untersuchung zugängliche Prozesse zu zerlegen und Ersatzbegriffe zu finden (z.B. Qualifikation, Lernen, Identität, Sozialisation…)[71].
Der Bildungsbegriff an sich verlor gegenüber diesen Begriffen an Bedeutung, fand aber als Terminus und in der Bedeutung von „Human Development“ Eingang in die damals entstehende empirische Bildungsforschung[72]. Nach Ehrenspeck enthalten aber auch andere erziehungswissenschaftliche Begriffe – wie etwa Emanzipation oder „life-long-learning“ – Momente der klassischen Bildungsidee[73].
Gegen Ende der 70er Jahre warf die gesellschaftliche Entwicklung mit ihrer zunehmenden Zersplitterung der Lebensbereiche die Frage nach einem Leitbegriff „als Versuch einer zusammenbindenden Sinnfindung für das pädagogische Geschäft“[74] auf und es begann eine erneute, jetzt kritische Aneignung klassischer bildungstheoretischer Grundpositionen (vgl. Schütze 1993, S. 14f)[75]. Im Bemühen um eine Neuformulierung des Bildungsbegriffs entstand so bis heute eine äußerst facettenreiche Diskussion in einem beeindruckenden Umfang[76].
Diese hier darzustellen bzw. in ihrer Relevanz für eine zukünftige Bildungstheorie zu analysieren, würde die thematische Begrenzung dieser Arbeit bei weitem sprengen[77].
Festhalten kann man an dieser Stelle aber zweierlei:
Verbindend bleibt bei aller Vielfalt der Diskurse das „Thema“ von Bildung offensichtlich nach wie vor jenes, das schon Humboldt interessierte, nämlich die Subjekt-Welt-Relation[78]. Und: Die festzustellende Dauerhaftigkeit des Bildungsdenkens und des Bildungsbegriffs scheint nicht zuletzt darauf zu beruhen, dass dieser Begriff wie kein anderer wichtige Probleme und Grundannahmen der Pädagogik hervorhebt und dabei
„offen genug ist, um problemlos mit zeitgemäßen Bedeutungen beladen zu werden, spezifische genug, um die disziplinäre Identität zu zentrieren und kontrollieren zu können und umfassend genug, um bei Bedarf die Gegenwart im Blick auf mögliche Zukünfte extensiv auslegen zu können.“[79]
3.2. Dimensionen des Bildungsbegriffs
Diese eben ausgeführte erste Annäherung an den Bildungsbegriff hat verdeutlicht, dass es unmöglich ist, Bildung hier in einer präzisen Form zu definieren. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs im alltäglichen, gegenwärtig wieder einmal auch gern und häufig im politischen Diskurs, ebenso aber in der Wissenschaft, sowie seine Verwendung in zahlreichen Komposita (Bildungspolitik, Bildungswesen, Bildungsplanung etc.) weist zumeist mehrdeutigen und „in einer spezifischen Überdeterminiertheit unbestimmt“(en)[80] Charakter auf.
Ehrenspeck schlägt angesichts dieser begrifflichen Unbestimmtheit anstelle einer Definition eine Dimensionierung des Begriffs Bildung vor. Sie selbst unterscheidet fünf Dimensionen, die sich in Bildungstheorien finden und von denen sich wesentliche, auch forschungsrelevante pädagogische Fragestellungen ableiten lassen[81]:
1. Bildung als individueller Bestand. Diese Dimension ist in nahezu allen Bildungstheorien identifizierbar und ebenso typisch für den Alltagsgebrauch des Begriffs. In der Verwendung des Terminus in diesem Sinne wird auf bestimmte Bestände an Wissen und/oder Kompetenzen abgehoben, über die verfügen zu können jemanden als „gebildet“ gelten lassen. Gemeint ist also ein Teilhaben an spezifischen, benennbaren Gütern der Bildung in Folge eines individuellen Erwerbens dieser Bildung[82]. Diese Perspektive kennzeichnet sogenannte „materiale Bildungstheorien“[83].
2. Bildung als individuelles Vermögen. Aufgrund des Scheiterns materialer Bildungsauffassungen wurden in der Erziehungswissenschaft immer wieder Theorien bevorzugt, die Bildung formal zu fassen versuchen, also unabhängig von konkreten Bildungsinhalten Bildung als ein individuelles Vermögen im Sinne von Kompetenz/Fähigkeit verstehen. Fokussiert wird hier ein für das Individuum erreichbarer Zustand der „Reife“[84] bzw. die Kräfte, Kompetenzen und Fertigkeiten, die es jemandem erlauben, sich zu bilden[85].
3. Bildung als individueller Prozess. Viele bildungsphilophische Ansätze der Tradition betonen den Prozesscharakter von Bildung[86], der auch im klassischen Begriff der „Bildsamkeit“ zu finden ist[87].
Lenzen identifiziert neben der Idee von Bildsamkeit als wesentliche Elemente dieser Dimension von Bildung u. a. die aus individuellen Anlagen gespeist innere Logik des Bildungsprozesses, das Maß an Freiheit bzw. innerer und äußerer Determination sowie die Rolle des Individuums als Handlungssubjekt seiner (Selbst)Bildung[88].
4. Bildung als individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung der Gattung. Mit dieser Dimension des Begriffs von Bildung ist die Vorstellung angesprochen, derzufolge das Individuum seinen Status jeweils überschreitet, ohne jedoch einen neuen Status (im Sinne einer „Statik“) zu erreichen; mit anderen Worten: „der Bildungsprozess ist nicht ziellos, aber auch nicht teleologisch“[89] und eben dadurch auf Dauer gestellt[90]. Diese paradoxale Struktur von Bildung als Selbstverwirklichung des Individuums hat – dieser Perspektive nach – ihre Entsprechung in der dadurch möglichen Höherbildung der Menschheit[91].
Durch den Plausibilitätsverlust der Fortschrittserzählungen als sogenannte „große Erzählungen“ (Lyotard) ist diese Idee allerdings problematisch geworden, da es im Eigentlichen kaum mehr ein gemeinsames verbindliches Ziel einer derartigen Höherbildung gibt[92].
5. Bildung als Aktivität bildender Institutionen oder Personen. Diese Bedeutungsdimension ist heute sprachlich dominant, indem Bildung wie in oben bereits erwähnter Weise in den verschiedensten Komposita Verwendung findet. Dabei ist hervorzuheben, dass von Bildung hier kaum im emphatischen Sinne gesprochen wird, d. h., dass die betreffenden Institutionen im Eigentlichen meist eher Ausbildung denn Bildung ermöglichen[93]. Lenzen sieht insofern in diesem Punkt einer institutionellen Bildungstätigkeit, die auf das Individuum einwirkt, bereits „den Beginn der Entsubstantialisierung des Bildungsbegriffs“[94].
Soweit die Skizze dieser m. E. nach zur Systematisierung der Vielfalt bildungstheoretischer Gedanken sehr fruchtbaren Möglichkeit der Dimensionierung des Bildungsbegriffs nach Ehrenspeck. Indem man beim Gedanken der Dimensionierung (statt Definition) des Bildungsbegriffs bleibt, lassen sich selbstverständlich andere und/oder weitere Dimensionierungen finden. Ausgehend vom dem Grundthema, das sich in bildungstheoretischen Überlegungen als dauerhaft zentral erwies – der Subjekt-Welt-Relation – soll nun noch eine „Mehrdimensionalität“ erörtert werden, die auch schon Thema klassischer Bildungstheorien war: die Vielfalt menschlicher Beziehungsmöglichkeiten zur Welt.
[...]
[1] Lokalteil der Süddeutschen Zeitung, 31.03.2006
An dieser Stelle möchte ich die Systematik der Quellenangaben erläutern: Quellenangaben in der Fußnote bieten den Vorteil einer angenehmeren Lesbarkeit; ein Komfort den ich meinen LeserInnen gewähren möchte und alle Literaturverweise (externe Quellen) mittels dieses Systems anführen werde.
Im späteren empirischen Teil bietet es m.E. nach allerdings deutliche Vorteile Quellenangaben zum Datenmaterial (interne Quelle) unmittelbar anzuführen: a) Hier kann das Interesse größer sein Zitate schneller und übersichtlicher auf ihre Urheber zurückzuführen; b) interessierten LeserInnen wird es erleichtert, während des Lesens der Auswertung auf die beiliegenden Quelltexte zurückzugreifen.
In diesem Sinne wird auf externe Quellen per Fußnote und auf interne Quellen per Angabe im Fließtext verwiesen.
[2] So wurde einem Zauberkünstler sogar eine Statue gewidmet und in der orchestra eines Theaters ausgestellt (Ziegler, 2002, S. 1003); Terentius beschreibt im Prolog eines Dramas wehklagend, wie das Publikum sich von der Darbietung einiger Neurobàtai (SeiltänzerInnen) mehr beeindruckt zeigt, als von seinem Theaterstück. (ebd.)
[3] vgl. Ziegler 2002, S. 1003
[4] vgl. Denis 1977, S.4ff
[5] vgl. Esrig 1985, S. 48ff
[6] vgl. Bose & Brinkmann 1978, S. 28f
[7] vgl. Bose & Brinkmann 1978, S. 35ff.
[8] vgl. Der Franzose Franconi übernimmt 1793 Astleys Theater in Paris und etabliert mit der Benennung Cirque Olympique die Bezeichnung Zirkus. (Bose S. 46f)
[9] vgl. Anfangs stellten die Künstler rein pantomimisch Figuren dar, später kamen durchaus auch gesprochene Worte hinzu.
[10] Bose & Brinkmann 1978, S. 50
[11] vgl. Brauneck 1978, S. 1201
[12] vgl. Günther & Winkler 1986, S. 115
[13] vgl. u.a. Schulz & Ehlert 1988, S. 31f
[14] vgl. Schmitt & Degener 1991, S. 13ff
[15] vgl. Günther & Winkler 1986, S. 200
[16] Pack 2005, S. 8
[17] vgl. Schulz & Ehlert 1988, S. 24f
[18] Hall problematisiert die Trennung und Unterteilung von Zirkus und schlägt allgemein die Bezeichnung „contemporary circus“ vor. (Hall 2002, S. 7)
[19] So formulierten Paul und Heller ihren programmatischen Grundsatz; auch wenn sie später unterschiedliche Wege ginge ist für beide der Grundgedanke „Poesie“ erhalten geblieben.
[20] vgl. Wali 2003, S. 45ff; Genaueres hierzu z.B. Heller 1976 (zu Roncalli); Heller 1981 (zu Flic Flac)
[21] Schulz & Ehlert 1988, S. 40; im Folgenden möchte ich allerdings den kompakteren Terminus Neuer Zirkus benutzen.
[22] Grabowiecki 1997, S. 38ff. Dabei stellt er diese auch gleich in Verbindung mit der Zirkuspädagogischen Praxis; also nennt besondere Erscheinungsweisen, Vorzüge, Ziele usw. der einzelnen Zirkuskünste im pädagogischen Kontext. Ich möchte es an dieser Stelle auf der Darstellung beruhen lassen.
[23] Eine Technik, bei der nicht Tricks, sondern das ästhetische Moment scheinbarer Schwerelosigkeit eines am Körper des Artisten entlang gleitenden Balles im Vordergrund steht.
[24] Grabowiecki 1997, S. 41
[25] vgl. Schnapp 1997 S. 40
[26] Budenz 1951
[27] So fällt gerade in diese Zeit um 1980 das Aufkommen von Skateboard, BMX-Fahrrad, Breakdance und eine Reetablierung von Rollschuhen (z.B. Grabowiecki 1997, S. 31); ob es sich bei diesen subkulturellen Erscheinungen um Weiterentwicklung oder Neuentwicklung handelt, mag an anderer Stelle diskutiert werden; Tatsache ist, dass heute manche dieser Künste Einzug in viele Zirkusprojekte gefunden haben (vgl. Kiphard 1991, S. 191; oder z.B. http://www.cabuwazi.de/cabuwazi/training.htm).
[28] vgl. Grabowiecki 1997, S. 30f.
[29] Zacharias 2001, S. 69ff. Die Kulturpädagogik fußt auf drei Säulen: Bereits der Name verweist darauf, dass sie sich mit Kultur (1. Säule), mit Kunst (2. Säule) und Ästhetik (3. Säule) auseinandersetzen will. Kultur, Kunst und Ästhetik sollen dabei nicht unter dem Aspekt der Hochkultur betrachtet werden, sondern sollen für jede/n Einzelne/n erfahrbar gemacht werden. Verkürzt ausgedrückt steht also nun nicht mehr das eben erwähnte Wissen um Hochkultur im Vordergrund, sondern vielmehr die eigene Handlung, die Teilhabe an Soziokultur. Ich fasse Zacharias Ausführungen unter die Werte Partizipation, Demokratie und Pluralisierung zusammen, welche zur Umsetzung dieses Ziels führen sollen. Nämlich dass jedeR an kulturschaffende und –bildenden Momenten unter dem Vorzeichen der Gleichwertigkeit teilnehmen kann, wobei die Gesellschaft in ihrer Pluralität anerkannt wird und Bestrebungen somit auf eine pluralistische Kultur gerichtet sind.
[30] vgl. Wopp, 2000, S. 28; vgl. 2.3.2.1.
[31] http://www.cabuwazi.de/cabuwazi/db.htm
[32] Und nicht nur dort: Einen internationalen Überblick bietet z.B. Pruisken, 2000.
[33] Es existieren nur drei Landesverbände für Kinder- und Jugendzirkus (LAG Niedersachsen, die LAG Berlin/Brandenburg und die LAG Baden-Württemberg).
[34] vgl. Schnapp 1997
[35] In der Sportlehrerausbildung wird inzwischen an einigen Sporthochschulen das Wahlfach „Bewegungskünste“ angeboten (Schneider, 2000).
[36] Diese werden vom Zirkus- und Artistikzentrum Köln (http//:www.zak-koeln.com), dem Theaterpädagogischen Zentrum Lingen (http://www.tpz-lingen.de) und JoJo – Zentrum für Artistik und Theater (Zülke, 2000) angeboten.
[37] vgl. z.B. Wali, 2003, S. 75ff
[38] Und dabei allerdings die eben genannten Aspekte durchaus als Beschreibungskriterien heranziehen.
[39] vgl. Ubben 2001
[40] Z.B. an der Gesamtschule Elsterwerda (http://www.gesamtschule-elsterwerda.de/start.htm) oder der Rotterdam-Schule in Hellerdorf (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2000/0114/lokales/0064/)
[41] vgl. Funke, 1987, S.
[42] vgl. Kiphard, 1997, S. 18
[43] vgl. Ziegenspeck 1997, S. 72
[44] vgl. Schnapp und Zacharias 2000 S. 129ff
[45] Schnapp & Zacharias 2000 S. 27ff
[46] Auch hier sei nochmals darauf hingewiesen, dass nicht für jede sich so nennende Einrichtung die hier genannte Beschreibung gilt.
[47] vgl. Claußen 2003b, S. 362 Ernst J.
[48] Ernst J. Kiephard kann als Vorreiter der zielorientierte Nutzung des Zirkus angesehen werden – v.a. in diesem Feld. Er schrieb als erster Autor von (sport-) wissenschaftlicher Seite über die pädagogischen Möglichkeiten des Zirkusspiels (z.B. Kiphard, 1982), entdeckte die therapeutischen Effekte des Zirkusspiels und nutzte sie besonders in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung (z.B. Kiphard 1979; 1997).
[49] vgl. Hülsken 2000
[50] vgl. Kiphard 1982
[51] vgl. Noll 2000
[52] Im Falle der Kinderbetreuung kann natürlich sehr deutlich von einer Zielorientierung gesprochen werden.
[53] vgl. Scheuerl 1977, 68ff
[54] Ballreich & Grabowiecki 1992, S.20f
[55] Gadamer 1970, S. 24, zit. nach Lenzen 1999, S. 146.
[56] Böhm 2000, S. 75
[57] Einen Überblick über die reichliche Kritik am Bildungsbegriff im Laufe seiner mehr als zweihundertjährigen Geschichte gibt Lenzen 1999, S. 141f.
[58] vgl. Böhm 2000, S. 75
[59] Ehrenspeck 2004, S. 65
[60] 2004, S. 64f
[61] vgl. Böhm 2000, S. 75; Ehrenspeck 2004. S. 65; Lenzen 1999, S. 141
[62] Benner & Brüggen 2004, S. 174ff
[63] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 66
[64] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 66, Serve 1996, S. 73f
[65] Benner & Brüggen 2004, S. 174ff
[66] vgl. Bock 2004, S. 94
[67] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 67
[68] Klafki kennzeichnet die „Verfallsgeschichte der klassischen Bildungsidee“ (1993, S. 46) seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Verweis auf drei wesentlichen Momente: die Ausscheidung der gesellschaftlich-politische progressiven Elemente, der politisch-gesellschaftliche Missbrauch der Idee von Bildung als Abgrenzungskriterium gegenüber arbeitenden und besitzlosen Volksklassen und die Verkürzung der ehemaligen Einheit von inhaltlicher Orientierung und Individualisierung hin zu einer Kanonisierung, die den Aspekt individuell ausgerichteter Bildung unmöglich machten (vgl. ebd, S. 46f).
[69] vgl. Böhm 2000, S. 76; Gudjons 1999, S. 202; Lenzen 1999, S. 141f
[70] vgl. Böhm 2000, S. 75f; Schütze 1993, S. 10
[71] vgl. Böhm 2000, S. 76; Gudjons 1999, S. 202; Ehrenspeck 2004, S. 64 & 67
[72] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 67; Schütze 1993, S. 10f
[73] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 67
[74] Preuss-Lausitz 1988, S. 401
[75] So formuliert etwa Heydorn sein Bildungsverständnis unter Rekurs auf die aufklärerisch-(neu)humanistische Bildungsphilosophie als Mündigwerden, Selbstfindung und -schöpfung und eine möglichst „gutartige“ autonome Entwicklung des Menschen, erörtert aber auch die Gefahr, die dieses vernunftgeleitete Bildungsverständnis impliziert (vgl. Schütze 1993, S. 26f).
[76] Nach Heymann & Lück (1990) umfasst die Diskussion allein in den Jahren 1978 bis 1988 über 300 Titel (zit. nach Gudjons 1999, S. 203)!
[77] Einen detaillierteren Überblick über die Begriffsgeschichte von „Bildung“ sowie auch über die breite Diskussion dieses Terminus´geben u. a. Dohmen 1964/1965, Hansmann & Marotzki 1888/1989 ,Pleines 1978 und Rauhut 1965.
[78] vgl. Tenorth 1997, S. 975
[79] Keiner 1998, S. 6, zit. nach Ehrenspeck 2004, S. 67
[80] Ehrenspeck 2004, S. 65
[81] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 68; vgl. ebenso Lenzen 1999, S. 143ff
[82] Lenzen merkt in diesem Zusammenhang kritisch an, dass das mit dieser Perspektive einhergehende Problem der Selektion von Bildungsinhalten (verwaltet von entsprechenden Institutionen) insofern keines ist, da diese Selektion durch die sich Bildenden selbst geschähe, eine Selektion von Seiten bildender Institutionen oder Personen (s. Dimension 5) daher tatsächlich eine Beschränkung und nicht eine Ermöglichung von Bildung darstellen würde und es insofern nur Bildungsprozesse, nicht aber Bildungsbestände gäbe (vgl. Lenzen 1999, S. 143f).
[83] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 68; Lenzen 1999, S. 143
[84] vgl. Lenzen 1999, S. 144
[85] Einen Ausweg aus ihrer im Eigentlichen verkürzenden Gegenüberstellung stellt Klafkis Vermittlung von materialen und formalen Bildungstheorien in seinem Begriff der kategorialen Bildung dar. Hier steht die wechselseitige Erschließung von Individuum und Welt im Mittelpunkt, d.h. Bildung wird konzipiert als „Erschlossenheit einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen“ (Klafki 1963, S. 43) und zugleich „ Erschlossensein dieses Menschen für seine Wirklichkeit“ (ebd.).
[86] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 69
[87] Insofern könnte man im Begriff der Bildsamkeit auch einen bildungsphilosophischen Vorläufer zum Terminus des „life-long-learnings“ der Bildungsforschung sehen (vgl. Ehrenspeck 2004, S. 69).
[88] vgl. Lenzen 1999, S. 145f
[89] Lenzen 1999, S. 146
[90] vgl. ebd., S. 147f
[91] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 69; Lenzen 1999, S. 146f
[92] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 70. Im Zusammenhang mit der angesprochenen postmodernen Kritik und Problematisierung dieser Bildungsdimension entstanden bildungstheoretische Konzeptionen, die die Idee von Bildung für die Zukunft durch eine Pluralisierung des Bildungsgedankens sichern wollen, vgl. z.B. Koch, Marotzki & Schäfer 1997.
[93] vgl. Ehrenspeck 2004, S. 70
[94] Lenzen 1999, S. 147
- Quote paper
- Jörn Killinger (Author), 2006, Bildungsaspekte der Zirkuspädagogik - Eine Studie zur Bildungsbedeutsamkeit der Zirkuspädagogik auf der Basis von ExpertInneninterviews, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67409
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