Ein zentrales Problem von Musils´ Schaffen war das des „anderen Zustands“, der nur in bestimmten Ausnahmezuständen, wie zum Beispiel in Traum, Trance, Rausch und Ekstase, erfahrbar ist. In seinen Lektüren sucht Musil eine Bestätigung dieser Grunderfahrung. Das Suchen nach diesem Zustand kommt in zahlreichen Variationen im Werk zum Ausdruck, denn es ist ein Hauptanliegen Musils das in diesem Zustand auftretende Verhalten herauszufinden. Dies ist auch in seinem Triptychon der „Drei Frauen“ der Fall, weshalb wir uns zu Beginn mit dem Thema des anderen Zustands an sich beschäftigen und die Frage klären, was der andere Zustand überhaupt bedeutet. Weiterführend wird dann der Zusammenhang zur Dichtung und zur Weiblichkeit herausgearbeitet.
Die sinnlichen und leiblichen Erfahrungen sind eng verbunden mit dem Bereich der Weiblichkeit, denn die Frau scheint durch ihre Kreatürlichkeit und Unintellektualität näher am Ursprung und am Zustand der Schöpfung als der Mann, der den Bereichen von Logos und Zweckrationalität näher steht. So stellen die Frauenfiguren in Musils´ Werk oft Positionen gesellschaftlicher Unverdorbenheit dar und bezeichnen somit den Raum außerhalb des männlich-rationalen Zugriffs. Besonders in seiner Novellensammlung der „Drei Frauen“ stellen diese den letzten Rest einer verlorengegangenen Ganzheitlichkeit dar, die allein in Tod und Erotik, als die letzten Residuen verdrängter Natur, noch erfahrbar sind. Musil argumentiert hier in der Tradition übernommener Geschlechterklischees, die im Gegensatz zum Männlichen, positiv besetzt sind. Die weiblichen Eigenschaften wie Passivität und Distanz bilden eine ideale Vorraussetzung für das Erlebnis des anderen Zustands. Sie bedeuten nicht ein Unbeteiligtsein des Ichs, sondern die unmittelbare Bezogenheit auf die Dinge, wobei nur „durch das Fehlen der Gebärden des Zupackens die Distanz aufrecht erhalten wird.“ Auch in „Grigia“ verkörpert die Frau das „Andere“, Ursprüngliche und führt den Mann hin zu seinem ureigensten Sein.
Inhaltsverzeichnis
- Der „,andere Zustand“
- Musils' Erläuterungen über den normalen und den „anderen Zustand“, über das ratioide und nicht-ratioide Gebiet
- Die Dichtung als Vermittlungsebene
- „Anderer Zustand“ und Weiblichkeit
- „Grigia“
- Entstehung, Erzählform und Zeitgestaltung des Textes
- Thematik des Textes
- Homos' innere Verfassung zur Ankunft im Fersental
- Die mystisch-ekstatische Offenbarung der Wiedervereinigung
- Grigia- die Verkörperung des „Anderen“
- Der Höhepunkt zur Zeit der Heuernte
- Homos' Tod
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht das Konzept des „anderen Zustands“ in Robert Musils Novelle „Grigia“ und beleuchtet dessen Bedeutung für die philosophischen und ästhetischen Ansichten des Autors.
- Die Unterscheidung zwischen dem „normalen“ und dem „anderen Zustand“
- Die Rolle der Dichtung als Vermittlungsmedium für den „anderen Zustand“
- Die Verbindung des „anderen Zustands“ mit Weiblichkeit
- Die Darstellung des „anderen Zustands“ in der Figur Grigia
- Die Auswirkungen des „anderen Zustands“ auf die Handlung und Charakterentwicklung in „Grigia“
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet das zentrale Problem des „anderen Zustands“ in Musils Schaffen. Musils' Unterscheidung zwischen dem „normalen Zustand“ und dem „anderen Zustand“ im ratioiden und nicht-ratioiden Gebiet wird anhand seines Essays „Ansätze zu einer neuen Ästhetik, Bemerkungen über die Dramaturgie des Films“ erläutert. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Novelle „Grigia“, ihrer Entstehung, Erzählform, Zeitgestaltung und Thematik. Es werden Homos' innere Verfassung bei der Ankunft im Fersental sowie die mystisch-ekstatische Offenbarung der Wiedervereinigung mit Grigia untersucht. Auch Grigia als Verkörperung des „Anderen“ und der Höhepunkt der Geschichte zur Zeit der Heuernte werden behandelt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die zentralen Begriffe des „anderen Zustands“, der dualistischen Unterscheidung von ratioidem und nicht-ratioidem Gebiet, der Vermittlungsfunktion der Dichtung, der Verbindung von Weiblichkeit mit dem „anderen Zustand“ und der Darstellung dieser Konzepte in Robert Musils Novelle „Grigia“.
- Quote paper
- Anna-Katharina Seemann (Author), 2004, Das "Andere" in Robert Musils Novelle "Grigia", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67336