Obwohl der Verfassungsentwurf darauf abzielt die Europäische Union innen- und außenpolitisch handlungsfähiger zu machen und die demokratische Legitimation durch gleichberechtigte Beschlüsse von Europäischem Rat und Europäischen Parlament und zusätzlich durch ein Europäisches Bürgerbegehren zu stärken, wurde er im Mai/Juni von den Bürgern Frankreichs und der Niederlande abgelehnt. „Bei allen unterschiedlichen und zum Teil sogar widersprüchlichen und vielfach innenpolitischen Gründen, die in den Niederlanden wie in Frankreich zur Ablehnung der EU-Verfassung geführt haben, ist eines deutlich geworden: Ein großer Teil der EU-Bürger will sich nicht mehr im Namen Europas vor vollendete Tatsachen stellen lassen, bei deren Durchsetzung der Wille des Volkes als lästiges Hindernis oder notwendiges Alibi gilt.“1
Vor allem die mangelnde Information über das Wirken der europäischen Institutionen ruft bei den Bürgern das Gefühl hervor, dass über ihren Köpfen entschieden wird und lässt sie mit Ablehnung reagieren. Zwar ist die wirtschaftliche Union in Europa schon weit fortgeschritten, aber die Reaktion der Bürger zeigt, dass sie sich noch nicht als Teil einer europäischen Gesellschaft fühlt. Somit erwächst aus der fehlenden europäischen Kultur ein Integrationsproblem und daraus resultierend ein Legitimationsproblem, das zwingend gelöst werden muss um eine politische Union zu erzielen.
Nachfolgend soll erörtert werden, wie sich zunächst Legitimations- und Integrationsproblem auf der nationalen Ebene darstellen und wie diesen am Beispiel des Modells der deliberativen Demokratie nach Habermas begegnet werden kann. Im Anschluss daran soll die Diskussion um das Demokratiedefizit der Europäischen Union die aktuelle Situation auf der postnationalen Ebene aufzeigen, um daran anknüpfend darzulegen, wie sich Habermas vorstellt, den Weg in eine politischen Union der EU zu ebnen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Legitimations- und Integrationsproblem
3. Deliberative Politik
3.1. Das liberale und das republikanische Demokratiemodell im Vergleich
3.2. Das Modell der deliberativen Demokratie
3.2.1. Verfahren der Meinungs- und Willensbildung
3.2.2. Die Umsetzung deliberativer Politik
4. Diepostnationale Konstellation
4.1. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
4.2. Die politische Union nach Habermas
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Obwohl der Verfassungsentwurf darauf abzielt die Europäische Union innen- und außenpolitisch handlungsfähiger zu machen und die demokratische Legitimation durch gleichberechtigte Beschlüsse von Europäischem Rat und Europäischen Parlament und zusätzlich durch ein Europäisches Bürgerbegehren zu stärken, wurde er im Mai/Juni von den Bürgern Frankreichs und der Niederlande abgelehnt.
„Bei allen unterschiedlichen und zum Teil sogar widersprüchlichen und vielfach innenpolitischen Gründen, die in den Niederlanden wie in Frankreich zur Ablehnung der EU-Verfassung geführt haben, ist eines deutlich geworden: Ein großer Teil der EU-Bürger will sich nicht mehr im Namen Europas vor vollendete Tatsachen stellen lassen, bei deren Durchsetzung der Wille des Volkes als lästiges Hindernis oder notwendiges Alibi gilt.“[1]
Vor allem die mangelnde Information über das Wirken der europäischen Institutionen ruft bei den Bürgern das Gefühl hervor, dass über ihren Köpfen entschieden wird und lässt sie mit Ablehnung reagieren.
Zwar ist die wirtschaftliche Union in Europa schon weit fortgeschritten, aber die Reaktion der Bürger zeigt, dass sie sich noch nicht als Teil einer europäischen Gesellschaft fühlt. Somit erwächst aus der fehlenden europäischen Kultur ein Integrationsproblem und daraus resultierend ein Legitimationsproblem, das zwingend gelöst werden muss um eine politische Union zu erzielen.
Nachfolgend soll erörtert werden, wie sich zunächst Legitimations- und Integrationsproblem auf der nationalen Ebene darstellen und wie diesen am Beispiel des Modells der deliberativen Demokratie nach Habermas begegnet werden kann. Im Anschluss daran soll die Diskussion um das Demokratiedefizit der Europäischen Union die aktuelle Situation auf der postnationalen Ebene aufzeigen, um daran anknüpfend darzulegen, wie sich Habermas vorstellt, den Weg in eine politischen Union der EU zu ebnen.
2. Legitimations- und Integrationsproblem
Sowohl das Integrationsproblem als auch das Legitimationsproblem sind keine neuen Phänomene. Jedwede Herrschaft muss durch die Beherrschten akzeptiert und damit legitimiert sein, um fortbestehen zu können. Gleichzeitig ist gesellschaftliche Integration, die schon allein bei der Kindererziehung anfängt, notwendig, um diese Legitimation auch für die Zukunft sicherzustellen.
Zur seit des Absolutismus stellten sich diese beiden Probleme für Habermas wie folgt dar:
„Das Legitimationsproblem ergab sich, grob gesagt, daraus, daß die Konfessionsspaltung zur Privatisierung des Glaubens führte und damit der Herrschaft allmählich auch die religiöse Grundlage des Gottesgnadentums entzog: Der säkularisierte Staat musste sich aus anderen Quellen rechtfertigen. Das Problem der gesellschaftlichen Integration hing, ebenso vereinfacht, mit Urbanisierung und wirtschaftlicher Modernisierung, mit der Ausdehnung und Beschleunigung des Waren-, Personen- und Nachrichtenverkehrs zusammen: die Bevölkerung wurde aus den ständischen Sozialverbänden der frühneuzeitlichen Gesellschaft herausgerissen und damit zugleich mobilisiert und vereinzelt.“[2]
Das Legitimationsproblem entstand also aus der okzidentalen kulturellen Rationalisierung, nämlich der Differenzierung der Religion. Währenddessen das Integrationsproblem das Resultat der gesellschaftlichen Rationalisierung wirtschaftlichen Handelns war, nämlich der Entstehung des rationalen Kapitalismus, aufgrund einer neuen rationalen (protestantischen) Lebensführung. Der kulturelle war damit die notwendige Bedingung für den gesellschaftlichen Rationalisierungsschub, wie Habermas mit Max Weber argumentiert.[3]
Auf diese beiden Herausforderungen gibt der demokratische Verfassungsstaat die Antwort. Zum einen legitimiert er sich durch die im Zuge der Ausweitung von Menschen- und Bürgerrechten möglich gewordene Selbstgesetzgebung der Staatsbürger. Zum anderen übernimmt das so entstandene nicht nur legale sondern auch legitime Recht die sozialintegrative Funktion, die vorher die Religion innehatte.[4] Nun stellt sich die Frage wie das Recht diesen legitimen, sozialintegrativen Charakter erhält.
Im Mittelalter konnten Recht und Ordnung durch religiöse Argumente begründet und daher akzeptiert werden. Durch den festen Glauben an die Existenz eines allwissenden Gottes gab es keinen Grund diese in Frage zu stellen. Faktizität (Legalität) und Geltung (Legitimität) waren miteinander verschmolzen. Da im Zuge der Säkularisierung das geltende Recht seine normative Grundlage verloren hatte, war die Begründung des Rechts „nur noch argumentativ, d.h. durch Überzeugungskraft guter Gründe möglich“.[5] Für die Staatsbürger können somit nur jene Rechtsnormen Geltung erhalten, die beanspruchen können vernünftig zu sein. Solche Rechtsnormen können sie einerseits verständigungsorientiert, also aufgrund rational motivierter Überzeugungskraft, oder andererseits erfolgsorientiert, d.h. aufgrund von negativen Sanktionen bei Rechtsbruch, befolgen. Im ersten Fall werden Normen befolgt, weil sie legitim sind, im zweiten, weil sie legal sind. Doch in einer zunehmend komplexer werdenden Lebenswelt treten Legalität und Legitimität immer weiter aus einander, folglich „muß die Gesellschaft letztlich über kommunikatives Handeln integriert werden“.[6]
Nun muss jedoch geklärt werden, wie sich das positive Recht durch kommunikatives Handeln Geltung verschaffen kann und wie dadurch Normen zustande kommen, die „gleichzeitig durch faktischen Zwang und durch legitime Geltung Folgebereitschaft gewähren“.[7] Habermas schlägt hierfür ein Verfahren der Rechtssetzung vor, indem das Diskursprinzip eingebettet ist. Dieses besagt, dass „genau die Handlungsnormen [gültig sind], denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“.[8] Dieses Prinzip bildet denn auch die Grundlage für Habermas Vorstellungen für eine deliberative Demokratie.
3. Deliberative Politik
Habermas leitet seine Grundüberlegungen zur deliberativen Demokratie aus dem liberalen und dem republikanischen Konzept ab. Daher soll im Folgenden, bevor das Konzept der deliberativen Demokratie näher erläutert wird, die beiden Demokratiemodelle gegenübergestellt und anhand der unterschiedlichen Begrifflichkeiten des Staatsbürgers, des Rechts und des politischen Prozesses erläutert.
3.1. Das liberale und das republikanische Demokratiemodell im Vergleich
Nach liberalem Verständnis wird der Status des Staatsbürgers durch seine subjektiven Rechte bestimmt, wobei die Bürger durch den Staat geschützt werden, „solange sie ihre privaten Interessen innerhalb der durch Gesetze gezogenen Grenzen verfolgen“.[9] Mit seinem gesetzlich festgeschriebenen Wahlrecht kann der Bürger die Zusammensetzung von parlamentarischen Körperschaften beeinflussen und somit kontrollieren, „ob die Staatsgewalt im Interesse der Gesellschaftsbürger ausgeübt wird.“[10] Das republikanische Demokratiemodell gewährt ihren Staatsbürgern dagegen politische Teilnahme- und Kommunikationsrechte, die sie zu „politische verantwortlichen Subjekten einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen“[11] werden lässt, wobei das gemeinsame Interesse vor dem privaten Interesse des Einzelnen stehen soll.
Auch der Begriff der Rechtsordnung wird von den beiden Demokratiemodellen sehr unterschiedlich aufgefasst. Während das liberale Modell von einem subjektiven Rechtsverständnis ausgeht, das auch im Einzelfall feststellen lässt, welche Individuen mit welchen Rechten ausgestattet sind, ist das Recht im republikanischen Modell objektiven Charakters. Es hat hier vor allem eine integrierende Funktion und besitzt für alle Gültigkeit.
Die Unterschiede im politischen Prozess sind auf die Natur der beiden Demokratiemodelle zurückzuführen. In einer liberalen Demokratie hat die Politik die Funktion der Bündelung gesellschaftlicher und privater Interessen, die im demokratischen Prozess gegenüber dem Staatsapparat durchgesetzt werden sollen.
[...]
[1] Beste/ Dohmen/ Leick u.a., Europa im Jahr null, Der Spiegel 23/2005, S. 98.
[2] Habermas, Jürgen, 1995: Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt a.M., S. 176.
[3] Vgl. Habermas, Jürgen, 1999: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M., S. 225-320.
[4] Diese „rechtlich-politische Umgestaltung“ war nach Habermas aber nur durch die Antriebskraft des nationalen Bewusstseins möglich: „Erst das nationale Bewusstsein, das sich um gemeinsame Abstammung, Sprache und Geschichte kristallisiert, erst das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einem Volk macht die Untertanen zu Bürgern ein und desselben politischen Gemeinwesen, die sich füreinander verantwortlich fühlen.“ Erst dieses Zusammengehörigkeitsgefühl schafft die Grundlage für eine kollektive Organisation. Vgl. Habermas, 1995, S. 177 f.
[5] Habermas, Jürgen, 1991: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M., S. 178.
[6] Vgl. Habermas, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M., S. 41-45, S. 109, S. 145-146.
[7] Ebd., S. 44 f.
[8] Ebd., S. 138.
[9] Habermas, Jürgen, 1996: Drei normative Modelle der Demokratie, in: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M., S. 278.
[10] Ebd., S. 279.
[11] Ebd.
- Arbeit zitieren
- Julia Wiedersich (Autor:in), 2005, Die deliberative Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66944
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