Die vorliegende Semesterarbeit beschäftigt sich mit einem, dem Umfang der Literatur nach zu urteilen, bisher wenig erforschten Thema: "Bilder von Homosexualität(en) und ihre Realisierung im öffentlichen (Un-) Bewusstsein, 1986 bis 1994".
Ich gehe davon aus, dass Beschreibungen von Sexualitäten nicht nur Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen symbolisieren, sondern auch gesellschaftliche Strukturen beeinflussen. Damit bieten sie eine Grundlage für die Institutionalisierung von Moral-, politischen und ideologischen Vorstellungen, nicht nur in Form von Gesetzen, sondern z.B. auch Verhaltenskodizes.
Meine Arbeit beschäftigt sich mit 4 Konnotationen von Homosexualität im (Un-) Bewusstsein der Öffentlichkeit: Arbeitslager, Psychiatrie, AIDS und Feminismus. Ich halte gerade diese vier Punkte für wesentlich, da sie das allgemeine Bild und Vorstellungen von Homosexuellen und deren Leben in der Gesellschaft prägen und bestimmen. So wird z.B. deutlich, dass Arbeitslager und Psychiatrie oft zum Alltag Homosexueller gehörten und somit auf Stereotypen wirkten. Die Frage nach der Frauenbewegung und die Diskussion um AIDS hingegen stellen einen Bezug zu Homosexualität her, der eher von Klischees und Ideen ausgehend auf Realitäten wirkt.
Ich versuche zu illustrieren, wie Stereotype und Diskurse in mindestens zweierlei Hinsicht wirken. Einerseits können sie aus Realitäten abgeleitet und zu positiven oder negativen Vorurteilen werden. Andererseits wiederum können sie so große Wirkungsmacht erlangen, dass sie Lebensrealitäten bestimmen. In beiden Fällen finden eine Verallgemeinerung und diskursive Loslösung vom ursächlichen Phänomen statt.
Den zeitlichen Rahmen für die Arbeit bildeten folgende Überlegungen: Erst mit dem Durchsetzen von Glasnost′ (1985 - 1986) wurde es möglich, sich mit Phänomenen wie Straflagern oder dem Missbrauch von Psychiatrie zu beschäftigen. 1993 wurde der Paragraph 121, die Strafbarkeit einvernehmlichen homosexuellen Verkehrs zwischen erwachsenen Männern, aus dem Russischen Strafgesetzbuch entfernt. Es ist zu vermuten, dass seit der Entkriminalisierung 1993 Homosexuelle öffentlich sichtbarer auftraten und begannen, sich auf legalem Wege politisch zu betätigen, sich zu organisieren. Das wiederum legt auch eine größere Aufmerksamkeit der Gesellschaft gegenüber Homosexuellen und deren Forderungen nahe. Dabei bedeutet "Aufmerksamkeit" nicht zwangsläufig mehr Toleranz, wie sich zeigen wird.
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Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Geschichte der Homosexualität in Russland
- Bilder von Homosexualität(en)
- Strafgefangenenlager
- Psychiatrie
- AIDS
- Feminismus
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Semesterarbeit untersucht die wenig erforschten Bilder von Homosexualität in Russland zwischen 1986 und 1994 und deren Auswirkungen auf das öffentliche Bewusstsein. Die Arbeit analysiert, wie Darstellungen von Sexualität gesellschaftliche Strukturen beeinflussen und zur Institutionalisierung von moralischen, politischen und ideologischen Vorstellungen beitragen.
- Die historische Verfolgung von Homosexualität in Russland
- Die Rolle von Stereotypen und Diskursen in der Konstruktion von Bildern von Homosexualität
- Die Darstellung von Homosexualität in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten (Straflager, Psychiatrie, AIDS-Diskussion, Feminismus)
- Der Einfluss von Geschlechterstereotypen auf die Wahrnehmung von Homosexualität
- Die Entwicklung einer homosexuellen Bewegung in Russland im Kontext der Perestroika und der Entkriminalisierung homosexueller Handlungen.
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung: Die Arbeit untersucht die Konnotationen von Homosexualität im öffentlichen Bewusstsein Russlands zwischen 1986 und 1994, fokussiert auf Arbeitslager, Psychiatrie, AIDS und Feminismus. Diese Kontexte prägen das Bild von Homosexuellen und deren Leben in der Gesellschaft, wobei Stereotype und Diskurse sowohl aus Realitäten abgeleitet als auch diese beeinflussen können. Der Zeitraum wurde aufgrund der Glasnost-Politik und der Entkriminalisierung homosexueller Handlungen gewählt. Primärquellen sind Artikel und Leserbriefe in russischen Medien, ergänzt durch Erinnerungen eines ehemaligen Häftlings und Texte russischer Wissenschaftler und der Frauenbewegung.
Geschichte der Homosexualität in Russland: Dieses Kapitel beleuchtet die historische Verfolgung von Homosexualität in Russland, beginnend mit der frühchristlichen Verurteilung als Todsünde, über die Strafen unter Peter I. bis hin zum Artikel 121 des Strafgesetzbuches der Sowjetunion. Es wird die relative Nachlässigkeit der zaristischen Regierung bei der Durchsetzung der Gesetze hervorgehoben, die das Aufblühen homoerotischer Kunst ermöglichte. Die scheinbare Toleranz der 1920er Jahre wird mit der späteren, stark ideologisierten Kriminalisierung unter Stalin kontrastiert, wobei Homosexualität zur Verfolgung politischer Gegner instrumentalisiert wurde. Das Kapitel endet mit der Aufhebung des Artikels 121 im Jahr 1993 und der darauffolgenden Gesetzesänderungen.
Bilder von Homosexualität(en): Dieses Kapitel analysiert vier Aspekte, in denen Homosexualität im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist: Straflager, Psychiatrie, AIDS und Feminismus. Es wird die geschlechtsspezifische Bedeutung dieser Assoziationen betont, wobei Straflager eher mit männlicher und Psychiatrie mit weiblicher Homosexualität verbunden werden.
Strafgefangenenlager: In den Straflagern wurde die erzwungene Homosozialität nicht unbedingt zu einer Zunahme von tatsächlichen homosexuellen Beziehungen, sondern diente der Etablierung einer Hierarchie. „Homosexualität“ wurde als Schimpfwort verwendet, um Häftlinge zu erniedrigen, wobei der passive Part im homosexuellen Akt als besonders abwertend galt. Dies spiegelte bestehende Geschlechterstereotype wider und zeigt, wie Vorurteile aus der Außenwelt in die Lagerrealität transportiert und für die Machtstrukturen genutzt wurden. Die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen hatte auf diese Lagerhierarchien keinen direkten Einfluss.
Psychiatrie: Der Zusammenhang zwischen Homosexualität und Psychiatrie betraf vorwiegend Frauen. Die Quellenlage ist hier schwieriger, da hauptsächlich anonyme Interviews verwendet wurden, die ein wiederkehrendes Motiv aufweisen: die Zwangseinweisung von Lesben. Diese Pathologisierung von Homosexualität wird auf die Vorstellung der Frau als Mutter und die damit verbundenen biologischen Erwartungen zurückgeführt. Die Geschlechterstereotype spielen hier eine entscheidende Rolle in der Stigmatisierung lesbischer Frauen. Trotz eines neuen Psychiatriegesetzes, das PatientInnen mehr Rechte zuspricht, besteht die Pathologisierung von Homosexualität weiterhin fort.
AIDS: Die öffentliche Wahrnehmung von AIDS in Russland ist von stark ausgeprägter Homophobie geprägt. Anfangs wurde Homosexualität als Hauptursache der Epidemie dargestellt. Später verschob sich der Fokus auf die Herkunft des Virus aus dem Ausland, wobei die USA als Quelle des Übels genannt wurden. Es wird gezeigt, wie zwei Feindbilder (Ausland und Homosexuelle) miteinander verbunden wurden. Trotz einer Anti-AIDS-Kampagne, die sich auf unschuldige Opfer konzentrierte, blieb die Stigmatisierung von Homosexuellen bestehen. Die mangelnde Informationspolitik verdeutlicht den Unwillen, sich mit Sexualität auseinanderzusetzen.
Feminismus: Die Gleichsetzung von Feministinnen und Lesben wird analysiert. Die Geschichte der Frauenbewegung in Russland wird kurz skizziert, wobei die Spannungen zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen hervorgehoben werden. Die Unterdrückung unabhängiger Frauenorganisationen und der Rückzug zu traditionellen Werten werden thematisiert. Die Schwierigkeit der Zusammenarbeit zwischen Feministinnen und lesbischen Aktivistinnen aufgrund bestehender Vorurteile und die damit verbundene Stigmatisierung werden beleuchtet.
Schlüsselwörter
Homosexualität, Russland, Stereotype, Diskurse, Straflager, Psychiatrie, AIDS, Feminismus, Geschlechterstereotype, Glasnost, Perestroika, Artikel 121, Homosexuellenbewegung, Identitätsbildung, Pathologisierung, Diskriminierung, russische Geschichte, Sowjetzeit.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur Semesterarbeit: Bilder von Homosexualität in Russland (1986-1994)
Was ist der Gegenstand dieser Semesterarbeit?
Die Arbeit untersucht die wenig erforschten Bilder von Homosexualität in Russland zwischen 1986 und 1994 und deren Auswirkungen auf das öffentliche Bewusstsein. Sie analysiert, wie Darstellungen von Sexualität gesellschaftliche Strukturen beeinflussen und zur Institutionalisierung von moralischen, politischen und ideologischen Vorstellungen beitragen.
Welche Zeitspanne wird untersucht?
Die Arbeit konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen 1986 und 1994. Dieser Zeitraum wurde aufgrund der politischen Veränderungen unter Gorbatschow (Glasnost und Perestroika) und der darauf folgenden Entkriminalisierung homosexueller Handlungen gewählt.
Welche Quellen wurden verwendet?
Die Arbeit basiert auf Primärquellen wie Artikeln und Leserbriefen in russischen Medien, ergänzt durch Erinnerungen eines ehemaligen Häftlings und Texte russischer Wissenschaftler und der Frauenbewegung.
Welche Themenschwerpunkte werden behandelt?
Die Arbeit behandelt die historische Verfolgung von Homosexualität in Russland, die Rolle von Stereotypen und Diskursen in der Konstruktion von Bildern von Homosexualität, die Darstellung von Homosexualität in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten (Straflager, Psychiatrie, AIDS-Diskussion, Feminismus), den Einfluss von Geschlechterstereotypen auf die Wahrnehmung von Homosexualität und die Entwicklung einer homosexuellen Bewegung in Russland im Kontext der Perestroika und der Entkriminalisierung homosexueller Handlungen.
Wie wird Homosexualität in den verschiedenen Kontexten dargestellt?
Die Arbeit analysiert die Konnotationen von Homosexualität in vier Schlüsselbereichen: Straflagern (erzwungene Homosozialität und Hierarchiebildung), Psychiatrie (Pathologisierung, vor allem bei Frauen), AIDS (Verbindung mit Homosexualität und ausländischer Bedrohung) und Feminismus (Gleichsetzung von Feminismus und Lesbenschaft).
Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype?
Geschlechterstereotype spielen eine entscheidende Rolle in der Konstruktion und Wahrnehmung von Homosexualität. Sie beeinflussen die Assoziation bestimmter Kontexte (z.B. Straflager mit männlicher, Psychiatrie mit weiblicher Homosexualität) und tragen zur Stigmatisierung bei.
Wie hat die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen die Situation beeinflusst?
Die Aufhebung des Artikels 121 des Strafgesetzbuches im Jahr 1993 hatte zwar einen rechtlichen Einfluss, jedoch nicht zwangsläufig einen unmittelbaren Wandel in gesellschaftlichen Einstellungen oder Praktiken wie z.B. in den Straflagern.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit am besten?
Homosexualität, Russland, Stereotype, Diskurse, Straflager, Psychiatrie, AIDS, Feminismus, Geschlechterstereotype, Glasnost, Perestroika, Artikel 121, Homosexuellenbewegung, Identitätsbildung, Pathologisierung, Diskriminierung, russische Geschichte, Sowjetzeit.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit gliedert sich in eine Einleitung, ein Kapitel zur Geschichte der Homosexualität in Russland, ein Kapitel zu den Bildern von Homosexualität in den Kontexten Straflager, Psychiatrie, AIDS und Feminismus sowie eine Zusammenfassung.
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- Ilka Borchardt (Author), 2001, Homosexualität(en) in Russland am Ende des 20. Jahrhunderts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6667