Betrachtet man die historische Entwicklung der Soziologie, so kommt man an Emile Durkheim (1858-1917) nicht vorbei, der wesentlich zu ihrer Etablierung als eigenständige Wissenschaft beitrug. Dies gelang ihm unter anderem dadurch, dass er als erster methodische Regeln für die Soziologie entwickelte und soziale Tatsachen wie Gegenstände betrachtete, wodurch die Soziologie Ähnlichkeiten mit Naturwissenschaften aufwies und so als „echte“ Wissenschaft anerkannt wurde.
Durkheim lebte in der Zeit der Dritten Republik in Frankreich und vertrat auch deren Ideale, wie Demokratie, soziale Solidarität und nationale Einheit. Dies ist auch in seinen Werken zu spüren, in denen vor allem die Solidarität eine große Rolle spielt (vgl. Mikl-Horke 1997, S. 52-53).
Diese Arbeit soll Durkheims Anomietheorien behandeln, welche er erstmals in seinem 1893 erschienenen Werk „De la division de travail sociale“ in die Soziologie einführte. Grob skizziert verstand er darunter einen Zustand, bei dem die Normen und Regeln innerhalb einer Gesellschaft ihre Verbindlichkeit verloren haben (vgl.
Brock/Junge/Krähnke 2002, S. 120). Dieser Mangel an Regeln wirkt sich auf die sozialen Systeme und deren Individuen aus. Indem er das vom Normalen abweichende Verhalten erfasste, wollte Durkheim die Struktur des „Normalen“ bestimmen (vgl. Mikl-Horke 1997, S.55). Wie es überhaupt zu diesem Zustand kommt und was genau die Folgen davon sind, soll in dieser Arbeit erläutert werden. Auch die Indikatoren der pathologischen Zustände werden vorgestellt. Zum Schluss soll noch aufgezeigt werden, welche Rolle die Anomie aus der Sicht Durkheims in seiner damaligen Gesellschaft spielt. Um die Entstehung eines anomischen Zustandes in einer Gesellschaft erläutern zu können, muss man erst einmal die Vorstellungen Durkheims von der Gesellschaft im allgemeinen und von ihrer Entwicklung nachvollziehen. Darum werde ich nun zuerst auf die Betrachtung Durkheims von der Gesellschaft als moralischer Zusammenhang und ihre Entwicklung eingehen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Gesellschaft als moralischer Zusammenhang
2.1 Die Gesellschaftsentwicklung
2.2 Pathologische Erscheinungen der Arbeitsteilung
2.2.1 Anomische Arbeitsteilung
2.2.2 Erzwungene Arbeitsteilung
2.2.3 Falsch koordinierte Arbeitsteilung
3. Der Selbstmord als Indikator für Anomie
3.1 Der egoistische Selbstmord
3.2 Der altruistische Selbstmord
3.3 Der anomische Selbstmord
3.4 Der fatalistische Selbstmord
4. Schlussfolgerungen
5. Lösungsvorschläge
6. Fazit
1. Einleitung
Betrachtet man die historische Entwicklung der Soziologie, so kommt man an Emile Durkheim (1858-1917) nicht vorbei, der wesentlich zu ihrer Etablierung als eigenständige Wissenschaft beitrug. Dies gelang ihm unter anderem dadurch, dass er als erster methodische Regeln für die Soziologie entwickelte und soziale Tatsachen wie Gegenstände betrachtete, wodurch die Soziologie Ähnlichkeiten mit Naturwissenschaften aufwies und so als „echte“ Wissenschaft anerkannt wurde.
Durkheim lebte in der Zeit der Dritten Republik in Frankreich und vertrat auch deren Ideale, wie Demokratie, soziale Solidarität und nationale Einheit. Dies ist auch in seinen Werken zu spüren, in denen vor allem die Solidarität eine große Rolle spielt (vgl. Mikl-Horke 1997, S. 52-53).
Diese Arbeit soll Durkheims Anomietheorien behandeln, welche er erstmals in seinem 1893 erschienenen Werk „De la division de travail sociale“ in die Soziologie einführte. Grob skizziert verstand er darunter einen Zustand, bei dem die Normen und Regeln innerhalb einer Gesellschaft ihre Verbindlichkeit verloren haben (vgl. Brock/Junge/Krähnke 2002, S. 120). Dieser Mangel an Regeln wirkt sich auf die sozialen Systeme und deren Individuen aus. Indem er das vom Normalen abweichende Verhalten erfasste, wollte Durkheim die Struktur des „Normalen“ bestimmen (vgl. Mikl-Horke 1997, S.55). Wie es überhaupt zu diesem Zustand kommt und was genau die Folgen davon sind, soll in dieser Arbeit erläutert werden. Auch die Indikatoren der pathologischen Zustände werden vorgestellt. Zum Schluss soll noch aufgezeigt werden, welche Rolle die Anomie aus der Sicht Durkheims in seiner damaligen Gesellschaft spielt.
Um die Entstehung eines anomischen Zustandes in einer Gesellschaft erläutern zu können, muss man erst einmal die Vorstellungen Durkheims von der Gesellschaft im allgemeinen und von ihrer Entwicklung nachvollziehen. Darum werde ich nun zuerst auf die Betrachtung Durkheims von der Gesellschaft als moralischer Zusammenhang und ihre Entwicklung eingehen.
2. Die Gesellschaft als moralischer Zusammenhang
Emile Durkheim verstand die Gesellschaft als eine „Gesamtheit von Ideen, Überzeugungen und Gefühlen, unter denen jene, die er ‚Moral’ nennt, den ersten Rang einnehmen“ (Mikl-Horke 1997, S. 53). Wie aber definiert man Moral exakt?
Jedes Individuum hat seine eigenen Vorstellungen und Überzeugungen. Nach Durkheim verknüpfen sich im Laufe der Zeit diese Ansichten und Überzeugungen der Individuen miteinander, um zu kollektiven Vorstellungen zu werden. Sie entwickeln sich zu einem Bewusstsein, das über die Individuen hinaus besteht, dem Kollektivbewusstsein. Die kollektiven Vorstellungen nehmen die Form von Regeln an, das heißt, sie sind obligatorisch für alle Mitglieder. Verstöße gegen diese Regeln werden negativ sanktioniert. Dadurch wandeln sich die Kollektivvorstellungen zur Moral. Welche kollektiven Überzeugungen sich in einer Gesellschaft zur Moral entwickeln, hängt dabei von der entsprechenden Gesellschaftsstruktur ab (vgl. Mikl-Horke 1997, S. 54). Das bedeutet, die Form der Gesellschaft und die Art der Moral sind eng miteinander verbunden, es besteht ein moralischer Zusammenhang.
Die Gesellschaftsmitglieder eignen sich nach Durkheim die momentan gültigen Regeln und Normen über den Erziehungsprozess an. Durkheim belegte diese These zum Beispiel an dem Thema der Arbeitsteilung. Dabei stellt er fest, dass die Arbeitsteilung eine immer wichtigere Rolle im Leben seiner Gesellschaft einnimmt. Die Menschen müssen sich immer weiter spezialisieren, es gelten nicht mehr diejenigen als anerkannt, die sich allgemein in vielen Wissenschaften auskennen, sondern diejenigen, die sich in einem bestimmten Teilgebiet einer Wissenschaft sehr gut auskennen. Diese gesellschaftliche Einstellung macht sich auch bei der Erziehung bemerkbar: „dass die Erziehung immer spezieller wird. Immer mehr halten wir es für nötig, unsere Kinder nicht länger einer uniformen Kultur zu unterwerfen, (...) sondern sie im Hinblick auf die verschiedenen Funktionen, die sie einmal ausüben müssen, unterschiedlich zu bilden“ (Durkheim 1999, S.87). An diesem Zitat Durkheims kann man klar erkennen, dass schon den jüngsten Gesellschaftsmitgliedern beigebracht wird, sich die Norm der Arbeitsteilung anzueignen.
Dadurch, dass es moralische Regeln gibt, an die sich alle Mitglieder halten müssen, wird die Solidarität innerhalb der Gesellschaft aufrechterhalten, da man aufeinander Rücksicht nehmen muss und sich so seiner Verantwortung für den anderen bewusst ist.
Die Solidarität innerhalb einer Gesellschaft stellt die sozialen Bindungen zwischen den Individuen dar. Sie beschreibt, inwieweit die Gesellschaftsstruktur mit ihrem Wertesystem zusammenhängt. Die Solidarität ist hoch, wenn die sozialen Organisationen mit der gängigen Moralvorstellung übereinstimmen (vgl. Durkheim 1999, S. 490 ).
2.1 Gesellschaftsentwicklung
Um die Entstehung und Auswirkungen von Anomie besser nachvollziehen zu können, soll in diesem Abschnitt kurz auf die gesellschaftliche Entwicklung eingegangen werden, die Emile Durkheim in seinem Buch „über soziale Arbeitsteilung“ beschrieb.
In den Anfängen dieser Entwicklung herrscht die segmentär differenzierte Gesellschaft vor, eine sehr einfach strukturierte Form der Gesellschaft, in der die Menschen als eine homogene Masse sich sowohl physisch als auch psychisch sehr ähnlich sind. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten können sie auch nur ähnliche Tätigkeiten ausführen, das heißt die Mitglieder der segmentär differenzierten Gesellschaft können sich nur gering spezialisieren. Die Arbeitsteilung ist somit kaum ausgeprägt. Es besteht ein starkes Kollektivbewusstsein, das kaum Platz für Individualität lässt. Der einzelne Mensch ist ein unselbstständiger Teil der Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaftsform sind die sozialen Bindungen der Menschen untereinander eher schwach ausgeprägt, die Solidarität der Gesellschaftsmitglieder beruht auf deren Ähnlichkeiten, das heißt, er wird durch gemeinsame Weltanschauungen, Sitten und Gefühle in die Gesellschaft integriert. Durkheim nennt sie mechanische Solidarität. Das geltende Recht ist das repressive Recht. Es gilt als Indikator für die Ausprägung des Kollektivbewusstseins. Da ein stark ausgeprägtes Kollektivbewusstsein besteht, wird eine Tat sofort als Angriff auf das Kollektivbewusstsein verstanden. Zur Abwehr des Angriffs beruht dieses Recht auf Strafe. Durkheim nannte als Beispiel für die segmentär differenzierte Gesellschaft einfache Stammesgesellschaften. Diese bestehen aus vielen nebeneinander stehenden kleinen Gruppen, wie Horden und Klans, welche alle eine ähnliche, wie oben beschriebene, soziale Struktur aufweisen und dennoch untereinander nur wenig Kontakt haben (vgl. Durkheim 1999, S. 230; S. 232; S. 492).
Im Laufe der Zeit verändert sich diese Gesellschaftsform. Durch Bevölkerungswachstum und Zuwanderungswellen kommt es zu einem erheblichen Anstieg der sozialen Dichte, womit auch ein Anstieg der sozialen Kontakte verbunden ist (vgl. Brock/Junge/Krähnke 2002, S.115). Da die Zahl der einander ähnlichen Menschen sich somit erhöht, geraten diese zunehmend in eine Konkurrenzsituation. Um dieses Problem zu überwinden, beginnen sie sich zu spezialisieren, was sich in einer ausgeprägteren Arbeitsteilung niederschlägt. Dies hat eine ansteigende Individualisierung zur Folge. Die Menschen unterscheiden sich immer stärker voneinander. Das Maß der funktionalen Differenzierung steigt somit an, was als die Unterscheidung der Individuen nach ihren Fähigkeiten und Funktionen innerhalb der Gesellschaft verstanden werden kann (vgl. Durkheim 1999, S. 492-493). Durch die zunehmende Individualisierung geht das Kollektivbewusstsein zurück: nicht mehr die Gesellschaft übt Einfluss auf das Individuum aus, sondern das Individuum ist ein mitwirkender Teil der Gesellschaft. Das restriktive Recht wird vom restitutiven Recht abgelöst. Verstöße gegen das Gesetz werden nicht mehr grundsätzlich als ein Angriff auf das Kollektivbewusstsein gewertet, darum wird auf Wiedergutmachung statt auf Strafe Wert gelegt. Die mechanische Solidarität wandelt sich nach und nach zur organischen Solidarität: trotz der immer weiter fortschreitenden Individualisierung wird der Zusammenhalt immer stärker (vgl Brock/Junge/Krähnke 2002, S. 114–117). Das liegt daran, dass die Menschen durch die Spezialisierung ihrer Funktionen plötzlich abhängig voneinander sind: „ Der Beweis läuft über das bekannte Phänomen, dass in primitiven Gesellschaften infolge ihrer segmentären Struktur die Auflösung und Neugründung sozialer Gruppierungen (Sezession) leicht fällt, dass dagegen Schuster ohne Schneider nicht leben können“ (Durkheim 1999, S.25).
Die Arbeitsteilung ist also für die neue Solidarität verantwortlich. So gesehen ist die gesellschaftliche Entwicklung ja durchaus positiv. Das Individuum wird autonomer und trotzdem wächst der Zusammenhalt der Individuen untereinander (vgl. Durkheim 1999, S. 492-493). Wann aber tritt Anomie ein?
2.2 Pathologische Erscheinungen der Arbeitsteilung
Durkheim hat sowohl im Bereich der Arbeitsteilung als auch in seiner Selbstmordstudie Indikatoren für anomische Zustände gefunden. In seinem Werk über die Arbeitsteilung sieht Durkheim den anomischen Zustand als eine Ausnahmeerscheinung an, die nur unter bestimmten Bedingungen auftritt, beziehungsweise wenn bestimmte Bedingungen nicht gegeben sind (vgl. Durkheim 1999, S. 421). Diese Einstellung soll sich später ändern, worauf später genauer eingegangen wird.
Durkheim unterscheidet in seinem Werk über die Arbeitsteilung drei verschiedene Typen von Anomie.
2.2.1 Anomische Arbeitsteilung
Zum ersten die anomische Arbeitsteilung. Diese Form entsteht, wenn sich bei der Entwicklung zur funktional differenzierten Gesellschaft die entstandenen Organe und Funktionen so schnell entwickelt haben, dass sich noch keine Regeln der Kooperation bilden konnten und damit auch die Erhaltung der Solidarität erschwert wurde (vgl. Kaesler 1999, S. 159). Durkheim zeigt, dass dieses Phänomen sowohl in der Industrie als auch in der Wissenschaft vorkommt.
Im Laufe der Entwicklung zur funktionalen Gesellschaft verändern sich die Beziehungen zwischen „Kapital und Arbeit“. In den segmentären Gesellschaften ist die Beziehung zwischen Erzeugern eines Produktes und den Verbrauchern sehr eng. Der Erzeuger weiß über die Bedürfnisse des Verbrauchers Bescheid und kann danach seine Produktion ausrichten. Produktion und Verbrauch sind im Gleichgewicht. Im Laufe der Entwicklung der funktional differenzierten Gesellschaft erweiterten sich die Märkte, es kommt zur Bildung von neuen Märkten, die Zahl der Verbraucher steigt an und die Produktion hat keine Grenzen mehr. Da aber die Erzeuger den großen Markt und die Wünsche der Verbraucher nicht mehr überschauen können, ist es auch nicht mehr möglich, nach deren Bedürfnissen entsprechend zu produzieren. Ein solcher Zustand führt unweigerlich zu wirtschaftlichen Krisen, welche die Auswirkungen der anomischen Arbeitsteilung sein können. Durch das rapide Anwachsen des Marktes verändert sich auch die Beziehungen zu den Arbeitern. Während in den segmentären Gesellschaften Meister und Gesellen aufgrund der großen Ähnlichkeiten relativ gleichgestellt waren, so bildet sich mit der Zeit eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Sie bilden sich zu Gruppen mit unterschiedlichen Bräuchen und Regeln und einer eigenen Ordnung heraus. Je weiter die Spezialisierung fortschreitet, desto größer wird die Entfremdung zwischen diesen Gruppen. Die erhöhten Bedürfnisse der Arbeiter, die das Wachstum des Marktes mit sich bringt, können aufgrund der Unüberschaubarkeit nicht erfasst werden. Die Vergrößerung des Marktes vollzieht sich zu schnell, als dass auf die Arbeiter eingegangen werden kann. Damit ist auch die Bildung sozialer Bande unmöglich. Statt der Vermehrung der Solidarität zwischen Arbeitern und Vorgesetzten kommt es immer mehr zu einer Feindschaft dieser beiden Gruppen, wie sie in der Zeit der Industrialisierung zwischen den Arbeitern und den Kapitalisten zu beobachten war. Dieses gespannte Verhältnis wird durch die wirtschaftlichen Krisen noch schlimmer. Die Bildung von Solidarität ist nicht möglich. Der Arbeiter isoliert sich in seiner speziellen Tätigkeit immer mehr und führt den einzelnen Arbeitsschritt monoton aus, ohne das gesamte Werk zu beachten. Der Zusammenhang seiner Funktion mit den Funktionen der anderen Arbeiter wird nicht mehr wahrgenommen. Es kommt zur Desintegration der Arbeiter (vgl. Durkheim 1999, S. 422-424).
Das gleiche Problem ist im Bereich der Wissenschaft zu beobachten. Dadurch, dass sich die Gelehrten nur noch auf ein wissenschaftliches Teilgebiet oder ein bestimmtes Problem konzentrieren sollen, verlieren sie den Bezug zur Gesamtwissenschaft. Sie wird zusammenhangslos und bildet „kein solidarisches Ganzes mehr“(Durkheim 1999, S. 425). Die Gelehrten wissen nicht mehr, wozu die Forschung auf ihrem Spezialgebiet letztendlich dient, die soziale Verbindung zu anderen Wissenschaftlern wird immer mehr eingeschränkt (vgl. Durkheim 1999, S. 424-425)
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- Peggy Reichel (Author), 2004, Die Anomietheorie nach Emile Durkheim, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66206
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