Bereits im Arbeitstitel "Grundlagen der Mehrstimmigkeit an den Beispielen der Musica et Scolica enchiriadis und der Lehre des Guido von Arezzo" wird erkennbar, dass die Herausbildung der Mehrstimmigkeit Bücherbände füllt und hier nur Grundlegendes wieder gegeben werden kann. In der vorliegenden Arbeit soll anhand der Hauptschlagworte Organum, Musica et Scolica enchiriadis, Dasia-Notation, der Lehre Guido von Arezzos (990-1035) und anhand eines Exkurses über das Hexachordsystem der Einblick in die Entstehung der Mehrstimmigkeit erleichtert werden. Die mehrfache Bedeutung und Verwendung des Begriffs Organum spielt bis in das ausgehende Mittelalter eine Schlüsselrolle und ist bisher musikhistorisch schwer darzulegen.
Sprache und Musik wurden zunächst mündlich überliefert. Die Notation von Musik ist vergleichbar mit der Schrift, die aus dem kleinsten Element unseres Alphabets, des Buchstabens, besteht. Der Wunsch bzw. das Bedürfnis, Musik greifbar und in schriftlicher Form fassbar zu machen, ist unter anderem dem Mönch und Musiktheoretiker Guido von Arezzo gelungen. Durch seine Solmisationstechnik wird ein Verfahren eingeführt, das nicht nur das Vom-Blatt-Singen ermöglicht, sondern der Musik mathematische Regeln zuordnet. Eine weitere Notationsform, die sich entwickelt, ist die Dasia-Notation. Sie wird in dem anonymen musik-pädagogischen Traktat Musica et Scolica enchiriadis erklärt.
Durch das Niederschreiben von Musik in den sich auf vielfältigster Weise ausgebildeten Notationsformen bricht für die abendländische Musikentwicklung eine neue Zeit an. Dank der Sängerschulen und Lehrsystemen, beispielsweise dem Hexachordsystem, verbreiten Musiktheoretiker wie Guido von Arezzo, Johannes Affligmensis (um 1100), Jacobus Leodiensis von Lüttich (1260-1330) oder Johannes de Muris (1290-1361) die mehrstimmige Musik außerhalb der Klostermauern. Das "Machen von Musik" ist an jedem Ort möglich und Musikstücke bleiben mit Hilfe der Notationssysteme für die Nachwelt erhalten.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Das Organum
1. Terminologie
2. Die Bedeutung in der Bibel, im antiken Sprachgebrauch und in der mittelalterlichen Musiklehre
III. Die Musica und Scolica enchiriadis – Ansätze der Organumlehre
IV. Die Dasia-Notation
1. Terminologie und Ursprung
2. Die Tonordnung
3. Die Darstellungsweise der Dasia-Notation
4. Das Ende der Dasia-Notation
5. Probleme im praktischen Umgang mit dem Organum
V. Guido von Arezzo (990 – 1035) – Praxis und Lehre
1. Zur Person
2. Musikgeschichtliche Bedeutung
3. Musik- und Gesangslehre
4. Sichtweise auf die Mehrstimmigkeit
VI. Exkurs: Das Hexachord
1. Terminologie
2. Das System
3. Vergleiche zu Guido von Arezzos Lehre
VII. Abschluß
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Teilbereichen des umfassenden Gebietes der Notation. Beginnen möchte ich mit Erklärungen über das Organum, danach bespreche ich die Ansätze der Organumlehre in der Musica und Scolica enchiriadis und beziehe mich auf die Darstellungsform der Dasia-Notation. Dann schließt eine Besprechung über das Leben und Wirken des Musiktheoretikers Guido von Arezzo an. Zum Schluß definiere ich in einem Exkurs das Hexachordsystem. Die Seminararbeit soll einen Einblick in die Anfänge der Mehrstimmigkeit geben.
II. Das Organum
1. Terminologie
Der Begriff organum geht auf die griechische Vokabel όργaυου zurück und wird übersetzt mit Werkzeug, Gerät, Instrument oder Apparat.[1]
2. Die Bedeutung in der Bibel, im antiken Sprachgebrauch und in der mittelalterlichen Musiklehre
In der Septuaginta, der griechischen Übertragung der hebräischen Bibel, steht όργaυου für ein (Musik-)Instrument oder für das, was Instrumente hervorbringen. Diese Verwendung stammt aus dem Lateinischen[2] und wird an drei Beispielen skizziert.
In der Vulgata ist mit organis das Instrument gemeint. Dies wird durch den angefügten Genitiv musicorum und durch die Aufzählung der einzelnen Musikinstrumente näher bestimmt.[3]
Andererseits kann Organum auch für ein bestimmtes Instrument stehen, denn die Vulgata unterscheidet nicht wie die Septuaginta in ein spezifisches und allgemeines Instrument. Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Lateinische geben verschiedene Wortinhalte wieder. So steht in Psalm 150, 4: „lobet ihn mit Saitenspiel und Schalmei“. Für Schalmei benutzt die Septuaginta όργaυου, in der Vulgata heißt es: „laudate eum in cordis et organo“. Was mit organum übersetzt wird, lautet im Hebräischen nebael und im Lateinischen nablum.
Die dritte Bedeutung des organums (die organa) bezieht sich auf das von den Instrumenten Hervorgebrachte. Organum wird bis ins späte Mittelalter in unterschiedlichen literarischen Gattungen benutzt.[4]
Für den mit Mehrstimmigkeit in Verbindung gebrachten Begriff organum sind in der Septuaginta und Vulgata Zusammenhänge von Instrument und Konstruktion aufgeführt. Hierfür werden vier Aspekte aufgezählt.
a. Die gedankliche und handwerkliche Handhabung von Instrumenten wird nach immer gleichen Schemen in der Schule gelernt. Schwerpunkte liegen nach Auffassung des Gelehrten Dominicus Gundissalinus (1110-1181) auf dem instrumentum, also dem Gegenstand an sich und der materia, den mit Händen zu bearbeitenden und geistig zu bewältigenden Stoff. Lambertus (um 1275) präzisiert die Instrumente in seinem Traktat accessus und ordnet sie der Musik zu. Er unterscheidet in theoretische Instrumente, die untersuchen (inquisitio) und beweisen (demonstratio) und in praktische Instrumente. Diese sind unterteilt in natürliche und künstliche Instrumente. Die natürlichen schließen die Organe ein, die die Stimmerzeugung ermöglichen wie die Lunge, Zunge, Kehle, Zähne; die künstlichen sind „ organa, vielle, cythara, psalterium et similia. “
b. Der römische Staatsmann und Philosoph Boethius (480-524) unterteilt Musik in seiner Schrift De institutione musica (um 500) in musica mundana (Makrokosmos), musica humana (Mikrokosmos) und in Musik, die in spezifischen Instrumenten eingerichtet ist. Für ihn erfüllen kennzeichnende Instrumente eine theoretische Funktion, weil sich in ihnen der Raum für gedankliche oder handwerkliche bestimmbare Töne wiederfinden.
c. Im Terminus organum sind alle Bereiche des Instrumentalen vereint. Hier geht es um das Verhältnis zwischen einer vox principalis (des cantus), dem Ton eines vorgebenen Gesangs und der vox organalis, dem hinzugefügten Ton. Organum zielt ab auf die wirklich benutzten Zusammenklänge (Quarte und Quinte) aus dem Bestand der symphonen Klänge Quarte, Quinte und Oktave, die letztlich im Einklang münden. In Kapitel 18, betitelt mit „ De properietate symphoniarum “ („Eigentümlichkeit symphoner Klänge“) der Musica enchiriadis wird dieser Sachverhalt erläutert[5]
d. In der späteren Musiklehre wird Organum auf die ganze Stimme und das damit mehrstimmige Gebilde bezogen. Nachhaltig betont wird der Begriff durch das Wort diaphonia. Organum behauptet sich schließlich als wichtigster Ausdruck für die Mehrstimmigkeit.[6]
Abschließend muß gesagt werden, daß die Begriffsbestimmung und der Ursprung des Organums und die damit in Verbindung gebrachte Mehrstimmigkeit bisher auf Vermutungen und Spekulationen beruhen.[7]
III. Die Musica und Scolica enchiriadis - Ansätze der Organumlehre
Musica und Scolica enchiriadis sind die Zusammenfassung zweier anonymer Traktate aus dem 9. Jahrhundert.[8] Die Musica enchiriadis liegt in doppelter Form vor: der erste Traktrat als Lehrschrift mit der eigentlichen Bezeichnung Musica enchiriadis und als Kommentar zu dieser Lehrschrift, dem zweiten Traktat Scolica enchiriadis.[9] Dieser stellt einen Dialog zwischen Lehrer und Schüler dar und wendet sich an den musikalischen Anfänger.[10] Nancy Phillips beklagt die Unkenntnis, ob die beiden Traktate vom selben Autor verfasst wurden.[11] Dieter Torkewitz nimmt an, daß sie vom gleichen Autor stammen und zum selben Zeitpunkt geschrieben wurden, weil die Musica und Scolica enchiriadis zusammen eine Einheit bilden.[12]
Die Musica enchiriadis existiert in vielen Abschriften über ganz Europa verstreut, von denen heute circa fünfzig erhalten sind. Als Orientierung gelten lange Zeit die frühen Erstausgaben von Martin Gerbert, worauf sich dann die Ausgaben von Jean Paul Migne stützen. Erst seit 1981 liegt eine wissenschaftliche Gesamtausgabe des Traktats von Hans Schmid „ Musica et Scolica enchiriadis“ vor.[13]
Inhaltsschwerpunkte beider Traktate sind das Organum, die Kirchentonarten (toni) und die Konsonanzen (als „symphoniae“ bezeichnet).[14] Die Musica enchiriadis bezeichnet mit Hilfe der Dasia-Notation die Tonhöhen.[15]
[...]
[1] Max Haas, Art. “Organum”, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 7, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart: Metzler 1997, Sp. 853.
[2] Ebenda, Sp. 853f.
[3] Ebenda, Sp. 854: „dixit quoque David […] ut consti tuerunt […] cantores in organis musicorum nablis videlicet et lyris et cymbalis ut resonaret in exelsum sonitus laetitiae“ (Paralipomenon, Lib. I. 15.16. „Und David befahl […], sie sollen die Sänger […] antreten lassen mit ihren Musikinstrumenten, den Harfen und Lauten und Zimbeln, damit sie laute Freudenklänge ertönen ließen“, hier wiedergegeben in einer Übersetzung des hebräischen Textes)
[4] Max Haas, Art. “Organum”, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 7, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart: Metzler 1997, Sp. 854.
[5] Ebenda, Sp. 855.
[6] Max Haas, Art. “Organum”, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 7, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart: Metzler 1997, Sp. 856.
[7] Ebenda, Sp. 857.
[8] Nancy Phillips, Art. “Musica enchiriadis”, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 6, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart: Metzler 1997, Sp. 655.
[9] Dieter Torkewitz: Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit. Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 44, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart: Franz Steiner 1999, S. 11.
[10] Nancy Phillips: Notationen und Notationslehren von Boethius bis zum 12. Jahrhundert, in: Geschichte der Musiktheorie – Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang, hrsg. von Thomas Ertelt und Frieder Zaminer, Band 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Musikgesellschaft 2000, S. 302.
[11] Ebenda, S. 302.
[12] Dieter Torkewitz: Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit. Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 44, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart: Franz Steiner 1999, S. 11.
[13] Ebenda, S. 12.
[14] Nancy Phillips: Notationen und Notationslehren von Boethius bis zum 12. Jahrhundert, in: Geschichte der Musiktheorie – Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang, hrsg. von Thomas Ertelt und Frieder Zaminer, Band 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Musikgesellschaft 2000, S. 303f.
[15] Max Haas, Art. “Organum”, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil, Band 7, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart: Metzler 1997, Sp. 859.
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