Heinrich von Kleist war ein begeisterter Anhänger des französischen Aufklärers Jean-Jaques Rousseau, was in zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen dokumentiert ist. Ausgehend von Begriff und Bedeutung der Aufklärung wird in dieser Arbeit untersucht, ob Kleist das für einen Aufklärer fragwürdige Frauenbild Rousseaus in sein Erzählwerk übernommen hat, was zunächst ein früher Aufsatz von ihm, an seine Verlobte Wilhelmine gerichtet, vermuten lässt. Gefragt wird, ob er im weiteren Verlauf seines Schaffens nicht vielmehr darüber hinaus ging und ein für sein Werk charakteristisches Frauenbild entwickelt hat, das dem Grundanliegen der Aufklärung möglicherweise gerechter wird. Als Grundlage für diese Untersuchung sollen Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ sowie die drei genannten Erzählungen Kleists dienen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Begriff und Bedeutung der Aufklärung
3. Sophie als Prototyp für das Frauenbild Rousseaus
3.1. Die Erziehung zur Frau
3.2. Die Frau in Familie und Gesellschaft
3.3. Aufklärung für Sophie?
4. Die Frauen im Erzählwerk Kleists im Lichte der Aufklärung
4.1. Die Frau in der Gesellschaft
4.2. Der männliche Blick
4.3. Vertane Chancen
4.4. Aufklärung für die Marquise, Josephe und Toni?
5. Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Heinrich von Kleist war ein begeisterter Anhänger des französischen Aufklärers Jean-Jaques Rousseau, was in zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen dokumentiert ist.
Ausgehend von Begriff und Bedeutung der Aufklärung möchte ich in meiner Arbeit untersuchen, ob Kleist das für einen Aufklärer fragwürdige Frauenbild Rousseaus in sein Erzählwerk übernommen hat, was zunächst ein früher Aufsatz von ihm, an seine Verlobte Wilhelmine gerichtet, vermuten lässt.
Zu fragen ist, ob er im weiteren Verlauf seines Schaffens nicht vielmehr darüber hinaus ging und ein für sein Werk charakteristisches Frauenbild entwickelt hat, das dem Grundanliegen der Aufklärung möglicherweise gerechter wird.
Als Grundlage für diese Untersuchung sollen Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ sowie die drei genannten Erzählungen Kleists dienen.
2. Begriff und Bedeutung der Aufklärung
Das 18. Jahrhundert ist geprägt vom Begriff der Aufklärung.
Diese Zeit zeichnet sich durch kritisches Hinterfragen vorhandener Traditionen und autoritärer Überzeugungen aus, sei es in religiöser und politischer Hinsicht oder aber auch mit Blick auf das philosophische Denken.
Das Besondere, Neue in dieser Epoche ist die Proklamierung der Autonomie des Verstandes, die Hinwendung zum Menschen als Mittel- und Ausgangspunkt des Denkens.
Sowohl rationalistische als auch empirische Denkanstöße sind tragend für das Denken der Aufklärung. Der Glaube an den Fortschritt der Menschheit durch Erkenntnis der Natur und durch die Entwicklung der Wissenschaft ist der beherrschende Gedanke dieser Zeit.
Kaum ein anderes Jahrhundert war so tief durchdrungen und so enthusiastisch bewegt von der Idee des geistigen Fortschritts als das Jahrhundert der Aufklärung. Aber man verkennt den tiefsten Sinn und den eigentlichen Kern dieser Idee, wenn man den „Fortschritt“ hierbei lediglich in quantitativer Hinsicht als eine bloße Erweiterung des Wissens, als einen „ progressus in indefinitum “ nimmt. Der quantitativen Ausbreitung steht vielmehr stets eine qualitative Bestimmung zur Seite; der ständigen Ausdehnung über die Peripherie des Wissens entspricht eine immer bewußtere und entschiedenere Rückwendung zu seinem eigentlichen und eigentümlichen Zentrum.[1]
Dieses Zentrum ist die Einheit in der Vielheit. Die Vernunft stellt die Einheit stiftende Kraft dar. In Anlehnung an die Naturwissenschaft Newtons und Keplers favorisierten die Philosophen die Analyse als Methode der Philosophie.
Somit erlangte der Begriff der Vernunft eine neue, bescheidenere Bedeutung.
Während bis dahin galt: „...jeder Akt der Vernunft versichert uns der Teilhabe am göttlichen Wesen, schließt uns den Bereich des Intelligiblen, des schlechthin-Übersinnlichen auf“[2], verstand man nun Vernunft „als Begriff nicht von einem Sein, sondern von einem Tun“[3]
Jean Jaques Rousseau, einer der Vetreter der französischen Aufklärung, zeichnete sich besonders durch seinen sozialkrititschen Schwerpunkt aus. Sein Focus lag auf der Besinnung auf die Natürlichkeit des Menschen. Rousseau sah im Privateigentum das Grundübel der sozialen Ungleichheit zwischen den Menschen, was nur mit der Republik als neuer Gesellschaftsordnung zu beheben sei. So wäre der Übergang vom Natur- in einen Kulturzustand des Menschen möglich.
Die natürliche Gleichheit der Menschen, die durch das Privateigentum nicht mehr gegeben ist, wird in einer neuen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens als qualitativ neue Gleichheit wiederbelebt.
Immanuel Kant hat explizit formuliert, was er unter Aufklärung verstand:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.[4]
Das bedeutet, jeder Mensch hat die Freiheit, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen. Eine Einschränkung dieser Freiheit ist immer nur im Sinne der Gesellschaft notwendig (Gehorsam gegen Vorgesetzte, Steuerabgaben etc.). Kant bezeichnet dies als privaten Gebrauch des Verstandes.[5]
Freiheit bedeutet öffentlichen Gebrauch des Verstandes, damit sind bevorzugt Gelehrte gemeint, die das geistige Vermögen und die Möglichkeiten haben, ihr Gedankengut öffentlich zu machen. Kant war es dabei wichtig, dass zwar das Gedankengut dem Denken des Gelehrten selbst entspringt, also nicht, wie es noch in der Scholastik üblich war, ein Rekurs auf bereits vorliegende Schriften ist, aber in seiner Aussage und Wirksamkeit der gesamten Menschheit diene.[6]
3. Sophie als Prototyp für das Frauenbild Rousseaus
Mit seinem 1762 erschienenen philosophischen Roman „Emile“ schließt Rousseau an seine in vorherigen Veröffentlichungen dargelegte Gesellschafts- und Kulturkritik an, begibt sich aber mit den Figuren Emile und Sophie auf die Ebene des Individuums.
Ein umfangreiches Kapitel widmet er der Darlegung seiner Überlegungen zur Erziehung und Lebensweise der Frauen sowie zur Ehe und Familie.
Anhand der Entwicklung eines Erziehungsmodells soll der Versuch unternommen werden, die Selbstbestimmung des Individuums in einer komplexen Gesellschaft zu gewährleisten.
Die Erziehung soll aber für Knaben und Mädchen nicht gleichermaßen gestaltet sein. Rousseau stellt fest, dass Mann und Frau sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede aufweisen. Die Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen seien in der Art, die Unterschiede dagegen im Geschlecht begründet. So baut sich das Ideal des moralischen Zusammenlebens der Geschlechter resultierend aus der dynamischen Sexualität, aus Aktivität und Passivität auf.
Diese Ähnlichkeiten und diese Unterschiede müssen einen Einfluß auf die Moral haben; diese Folgerung ist eindeutig, der Erfahrung gemäß und zeigt die Eitelkeit des Streits über den Vorzug oder die Gleichheit der Geschlechter, so als ob ein jedes von beiden, da es nach seiner besonderen Bestimmung den Endzwecken der Natur entgegenstrebt, darin nicht vollkommener wäre, als wenn es dem anderen mehr gliche. [...]. Bei der Vereinigung der Geschlechter dient ein jedes dem gemeinschaftlichen Ziel, aber nicht auf die gleiche Art. Aus dieser Verschiedenheit entspringt der erste bestimmbare Unterschied in der inneren Haltung des einen und des anderen. Das eine muß aktiv und stark, das andere passiv und schwach sein; es ist notwendig, daß das eine wolle und könne, es ist genug, daß das andere wenig widerstehe.[7]
3.1. Die Erziehung zur Frau
Diese von Rousseau als „anerkannter Grundsatz“[8] bezeichnete Feststellung ist für ihn Anlass, gewissermaßen Erziehungsziele für die Frau, respektive für Sophie, zu formulieren. Ziele, die eine von der Erziehung zum Mann völlig verschiedene Methode erfordern.
Sobald einmal erwiesen ist, daß der Mann und die Frau in Charakter und Temperament nicht gleich geartet sind noch sein sollen, so folgt daraus, daß sie auch nicht die gleiche Erziehung erhalten dürfen. Den Anweisungen der Natur zufolge sollen sie einvernehmlich handeln; sie sollen aber nicht das gleiche tun. [...] Nachdem wir uns bemüht haben, den natürlichen Mann zu bilden, wollen wir, um unser Werk nicht unvollständig zu lassen, uns überlegen, wie auch die Frau erzogen werden soll, die sich für diesen Mann eignet.[9]
Die ganze Erziehung der Frauen muß sich also auf die Männer beziehen Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und ehren lassen, sie aufziehen, solange sie jung sind, sie umsorgen, wenn sie groß sind, ihnen raten, sie trösten, ihnen das Leben angenehm und süß machen, das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, und das muß man sie von ihrer Kindheit an lehren.[10]
Die Erziehung zur Frau hat also einzig den Zweck, auf die Männer ausgerichtet zu sein. Es geht nicht darum, die individuelle weibliche Persönlichkeit zu fördern, sondern ein Komplement - besser noch: ein Supplement oder einen Appendix - für den Mann heranzubilden. Die Frau wird „niemals aufhören, entweder einem Manne oder den Urteilen der Menschen unterworfen zu sein.“[11]
Rousseau argumentiert mit vermeintlichen Naturanlagen des weiblichen Geschlechts, indem er beispielsweise bereits die Putzsüchtigkeit kleiner Mädchen als typisch weibliche Neigung zu gefallen stigmatisiert.
Die Knaben lieben Bewegung und Lärm: Trommeln, Kreisel, kleine Wagen. Die Mädchen haben lieber das, was ins Auge fällt und zum Zierrat dient: Spiegel, Schmucksachen, Flitter, vor allem aber Puppen. Die Puppe ist der besondere Zeitvertreib dieses Geschlechts. Da sieht man sehr augenscheinlich dessen nach seiner Bestimmung ausgerichteten Geschmack. Das Greifbare der Kunst zu gefallen besteht im Putz; [...] sie lebt ganz in ihrer Puppe, sie wendet alle ihre Koketterie an, sie wird es nicht immer dabei bewenden lassen, sie wartet auf den Augenblick, selbst ihre Puppe zu sein.
Das ist also eine erste ganz entschiedene Neigung.[12]
Diese Neigung gilt es nun von vornherein zu lenken und im Zaum zu halten. Ebenso soll die Wissbegierde der Mädchen unterdrückt werden, es soll verhindert werden, dass sie die ihnen angeborene Schläue nutzen. Sie sollten nicht fragen, sondern eher gefragt werden, damit sie lernen, unterhaltsam zu plaudern. Allenfalls die schönen Künste, wie z.B. die Malerei, dürften Mädchen sich zum Zeitvertreib aneignen, aber auch das nur als Belohnung und nur auf Verlangen, niemals als Angebot.
Es entsteht der Eindruck, als habe Rousseau genau gewusst, wozu Frauen in der Lage sind, wenn sie frei und ungehindert lernen und entscheiden könnten. Womit sollte sonst diese auf das Dienen und Unterordnen ausgerichtete Erziehung zu rechtfertigen sein? Heidemarie Bennent spricht sogar von der „Angst des Mannes vor naturmächtiger Weiblichkeit“.[13]
Die Frau soll folgsam sein, was man mit „zur Gewohnheit gewordenem Zwang“[14] erreichen kann.
Man lasse nicht zu, daß sie einen einzigen Augenblick in ihrem Leben keinen Zaum mehr kennen. Man gewöhne sie daran, sich mitten in ihren Spielen ohne Murren unterbrechen zu lassen und sich anderen Aufgaben zu widmen. Die bloße Gewohnheit ist auch hier genug, weil sie nur die Natur unterstützt.[15]
Rousseau behauptet, die Frauen wären aus ihrer Naturanlage heraus geschaffen zu dienen, zu leiden, unterwürfig zu sein. Er postuliert, dass die Frau „gemacht ist, einem so unvollkommenen Wesen wie dem Mann zu gehorchen.“[16] Allerdings widerspricht er sich selbst, wenn in seinem Erziehungsprogramm diese angeblich natürliche Unterwürfigkeit durch pädagogische Maßnahmen unterstützt werden muss.
Heidemarie Bennent hinterfragt zu Recht den Naturbegriff Rousseaus:
Legitimiert er zum einen die soziale Zweitrangigkeit der Frau im argumentativen Rückgriff auf natürliche Providenz, so demonstriert er zum anderen, daß zentrale Charakterzüge dieses Mängelwesens durch restriktive Maßnahmen angezüchtet werden. Wird weibliche Natur derart, zumindest partiell, als Kunstprodukt präsentiert, dann drängt sich von hierher die Frage nach dem Naturbegriff auf, den Rousseau seinem Erziehungsprogramm für die Frau unterlegt.[17]
Auch bei Silvia Bovenschen finden sich solche Überlegungen. Sie unternimmt einen Rekurs auf anthropologische Äußerungen Rousseaus in anderen Veröffentlichungen und arbeitet heraus, dass der Naturbegriff Rousseaus nicht eindeutig zu bestimmen ist. Der Rousseausche Naturzustand des Menschen schließt immer bereits seine durch die gesellschaftliche Entwicklung erfolgte Denaturisierung ein. Die Erziehung der Menschen soll deren Natürlichkeit aktualisieren, gleichsam auf ein qualitativ höheres Niveau befördern.[18]
3.2. Die Frau in Familie und Gesellschaft
Nachdem nun dargelegt wurde, wie Sophie und mit ihr sämtliche anderen weiblichen Wesen erzogen werden sollten, richtet sich nun das Hauptaugenmerk auf die Aufgaben, die einer solchermaßen herangebildeten Frau in der Gesellschaft, und hier besonders in der Familie, zukommen. Die Frau befindet sich in einem umfassenden Abhängigkeitsverhältnis zum Mann:
Die Frau und der Mann sind füreinander gemacht; ihre gegenseitige Abhängigkeit aber ist nicht gleich. Die Männer hängen von den Frauen durch ihre Begierden ab; die Frauen hängen von den Männern sowohl durch ihre Begierden als auch durch ihre Bedürfnisse ab.[19]
[...]
[1] Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998 (= Philosophische Bibliothek, 513), S. 4.
[2] Ebd., S. 15.
[3] Ebd., S. 16.
[4] Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung?. Aufsätze zur Geschichte und Philosophie. 4. Aufl., Göttingen 1994 (=Kleine Vandenhoek-Reihe, 1258), S. 55.
[5] Ebd., S. 56.
[6] Ebd.
[7] Rousseau, Jean Jaques: Emile oder von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen. 2. Aufl., Düsseldorf [u.a.] 1997, S. 467.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 474.
[10] Ebd., S. 477.
[11] Ebd., S. 484.
[12] Ebd., S. 480-481.
[13] Bennent, Heidemarie: Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur. Frankfurt (Main) 1985, S. 89.
[14] Rousseau, Jean Jaques: Emile oder von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen. 2. Aufl., Düsseldorf [u.a.] 1997, S. 484.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Bennent, Heidemarie: Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur. Frankfurt (Main) 1985, S. 84.
[18] Vgl. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt (Main) 1993 (= edition suhrkamp, 921), S. 169-171.
[19] Rousseau, Jean Jaques: Emile oder von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen. 2. Aufl., Düsseldorf [u.a.] 1997, S. 476.
- Quote paper
- Dietlinde Schmalfuß-Plicht (Author), 2006, Das Frauenbild bei Rousseau und Kleist. „Emile“, „Die Marquise von O...", „Das Erdbeben in Chili“ und „Die Verlobung in St. Domingo“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65225
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