Das Vorhaben, die ursprünglich sechs Mitgliedsländer umfassende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit dem Beitritt vorwiegend strukturschwacher Staaten Mittel-und Osteuropas auf eine Europäische Union (EU) von bis zu 30 Mitgliedern und mehr zu vergrößern, wirft nicht nur die vielerorts zu vernehmende Frage auf, ob der europäische Staatenbund mit seinen Entscheidungsverfahren und -mechanismen handlungsfähig bleiben wird. Zweifelhaft erscheint auch, ob künftig alle Mitgliedstaaten den Gesamtumfang der Rechte und Pflichten wahrnehmen bzw. leisten können, die sich aus der zunehmenden Integration ergeben.
Einen möglichen Ausweg aus dem beständig wachsenden Widerspruch zwischen zunehmender Heterogenität in der EU und einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration bietet ein Sonderweg, von dem die Europäische Gemeinschaft (EG) erstmalig bei den schwierigen Verhandlungen zur Sozialpolitik in Maastricht 1992 Gebrauch gemacht hat. Die neoliberale britische Regierung unter Thatcher war derzeit nicht bereit eine gemeinschaftliche Sozialpolitik mitzutragen, und gefährdete damit eine substantielle Erweiterung der Union. Aus diesem Grund wurde in Maastricht einer so genannten europäischen Pioniergruppe das gemeinschaftliche Handlungsinstrumentarium zur Verfügung gestellt, um eine partielle Integration in der Sozialpolitik voranzutreiben, und dem zurückbleibenden Mitgliedstaat die Option eingeräumt, sich zu einem späteren Zeitpunkt den Entwicklungen anzuschließen. Nach diesem Vorbild wurde seither in verschiedenen Politikbereichen der Europäischen Union eine Integration verschiedener Abstufungen geschaffen.
Ziel dieser Untersuchung ist, anhand der bisherigen Anwendung und Weiterentwicklungen der Differenzierungsinstrumente die Chancen und Probleme zu veranschaulichen, die sich aus einem Europa verschiedener Geschwindigkeiten ergeben. In Ansätzen werden die historischen Bezugspunkte und Perspektiven der Regierungen dargestellt, die zu verschiedenen Integrationsabstufungen führten, sowie die diesbezüglichen Bestimmungen, die Eingang in die Europäischen Verträge (EuV) fanden.
Gliederungsverzeichnis
1 Einleitung und Gang der Untersuchung
2 Ursprung und Entwicklung der Diskussion über eine differenzierte Integration
2.1 Die Pariser Rede Willy Brandts
2.2 Der Bericht Leo Tindemans
2.3 Fortgang der Diskussion
3 Die Differenzierungen von Maastricht und Amsterdam
3.1 Maastricht: Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform
3.1.1 Opt-Out und Opt-In
3.1.2 Der britische Beitritt zum Sozialabkommen
3.1.3 Die Differenzierungen von Maastricht und ihre Bedeutung für den Integrationsprozess
3.2 Maastricht und die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion
3.2.1 Der Delors-Plan
3.2.1.1 Opt-Out Dänemarks
3.2.1.2 Opt-Out Großbritanniens
3.2.1.3 Opt-Out Griechenlands
3.2.1.4 Opt-Out Schwedens
3.2.1.5 Konsequenzen für die Opt-Out-Staaten
3.2.2 Entstehung eines partiellen acquis communautaire
3.3 Amsterdam und die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres
3.3.1 Das Schengener Abkommen und die Amsterdamer Reformen
3.3.1.1 Opt-Out Großbritanniens und Irlands sowie Dänemarks
3.3.1.2 Konsequenzen für die Opt-Out-Staaten
3.3.2 Der britisch-irische Teilbeitritt zum Schengen-acquis
4 Nizza und die Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit
4.1 Schäuble/Lahmers-Papier
4.2 Kohl-Chirac-Brief 1995
4.3 Fischers und Chiracs Zukunftsvision
5 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1 Einleitung und Gang der Untersuchung
Das Vorhaben, die ursprünglich sechs Mitgliedsländer umfassende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit dem Beitritt vorwiegend strukturschwacher Staaten Mittel- und Osteuropas auf eine Europäische Union (EU) von bis zu 30 Mitgliedern und mehr zu vergrößern, wirft nicht nur die vielerorts zu vernehmende Frage auf, ob der europäische Staatenbund mit seinen Entscheidungsverfahren und –mechanismen handlungsfähig bleiben wird. Zweifelhaft erscheint auch, ob künftig alle Mitgliedstaaten den Gesamtumfang der Rechte und Pflichten wahrnehmen bzw. leisten können, die sich aus der zunehmenden Integration ergeben.
Einen möglichen Ausweg aus dem beständig wachsenden Widerspruch zwischen zunehmender Heterogenität in der EU und einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration bietet ein Sonderweg, von dem die Europäische Gemeinschaft (EG) erstmalig bei den schwierigen Verhandlungen zur Sozialpolitik in Maastricht 1992 Gebrauch gemacht hat.
Die neoliberale britische Regierung unter Thatcher war derzeit nicht bereit eine gemeinschaftliche Sozialpolitik mitzutragen, und gefährdete damit eine substantielle Erweiterung der Union. Aus diesem Grund wurde in Maastricht einer so genannten europäischen Pioniergruppe das gemeinschaftliche Handlungsinstrumentarium zur Verfügung gestellt, um eine partielle Integration in der Sozialpolitik voranzutreiben, und dem zurückbleibenden Mitgliedstaat die Option eingeräumt, sich zu einem späteren Zeitpunkt den Entwicklungen anzuschließen.
Nach diesem Vorbild wurde seither in verschiedenen Politikbereichen der Europäischen Union eine Integration verschiedener Abstufungen geschaffen.
Ziel dieser Untersuchung ist, anhand der bisherigen Anwendung und Weiterentwicklungen der Differenzierungsinstrumente die Chancen und Probleme zu veranschaulichen, die sich aus einem Europa verschiedener Geschwindigkeiten ergeben. In Ansätzen werden die historischen Bezugspunkte und Perspektiven der Regierungen dargestellt, die zu verschiedenen Integrationsabstufungen führten, sowie die diesbezüglichen Bestimmungen, die Eingang in die Europäischen Verträge (EuV) fanden.
Der Einleitung folgt im zweiten Kapitel die Darstellung des Ursprungs und die Entwicklung der Diskussion über ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten. Im dritten Kapitel stehen die Differenzierungen in der Sozialpolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie des Schengen-acquis im Vordergrund der Untersuchung, während sich Kapitel vier mit den Reformen der Differenzierungsinstrumente in Nizza befasst. Die Schlussbetrachtung wägt die Vor- und Nachteile einer „verstärkten Zusammenarbeit“ von Mitgliedstaaten innerhalb der Union ab, und bietet einen Vorschlag zu dessen künftiger Handhabung an.
2 Ursprung und Entwicklung der Diskussion über eine differenzierte Integration
Der ideengeschichtliche Hintergrund eines Europas unterschiedlicher Integrationsgeschwindigkeiten reicht in die siebziger Jahre zurück. Der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt erläuterte am 19. November 1974 in Paris sein neues Konzept für die Fortentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), das stärker als zuvor die unterschiedlichen Integrationsmöglichkeiten und -wünsche der Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt rückte. Ein Jahr später konkretisierte der belgische Premierminister Leo Tindeman in einem Bericht die Forderung nach einer zukünftigen Politik zeitversetzter und abgestufter Integration innerhalb der Union.[1] Die Empfehlungen der beiden Politiker stellen den Ursprung der Debatte um moderne Differenzierungsformen in der EU dar.[2]
2.1 Die Pariser Rede Willy Brandts
Auszug aus der Brandrede:
Die Gemeinschaft sollte sich … die Einsicht zu eigen machen, dass sie nicht geschwächt, sondern gestärkt wird, wenn die ihrer Wirtschaftslage nach objektiv stärkeren Länder die Integration voranbringen, während andere Länder aufgrund ihrer objektiv abweichenden Lage hieran zunächst in Abstufungen teilnehmen.[3]
Als der ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt in Paris seine Rede hielt, befand sich die EWG in ihrer bis dato schwersten Krise. Die im Jahre 1973 einsetzende Weltwirtschaftskrise stürzte die Welt in eine Rezession, und führte innerhalb der Mitgliedstaaten zu hoher Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit. Die Verwirklichung der ehrgeizigen Pläne einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion rückte zu dieser Zeit in weite Ferne. Insbesondere die wirtschaftliche Lage Italiens ließ die übrigen Mitgliedstaaten an seiner Fähigkeit zur künftigen ökonomischen Integration zweifeln.[4]
Die zum 1. Januar 1973 beigetretenen Länder Großbritannien, Irland und Dänemark machten darüber hinaus deutlich, dass sie einer Ausschöpfung der gemeinschaftlichen Handelsbefugnisse kritisch gegenüberstünden. Vor Allem Großbritannien erklärte, dass seine Bereitschaft zur Integration nicht in allen Bereichen gegeben sei. In der Folge erwiesen sich die Entscheidungsprozesse in der auf neun Staaten erweiterten Union als immer träger, und drohten im Fall weiterer Beitritte eine ausgewachsene „Eurosklerose“ zu entwickeln.[5]
Brandts Forderung nach einem zeitversetzten Voranschreiten unter Einhaltung des gemeinsamen Rahmens zielte darauf ab, innerhalb der Gemeinschaft eine Pioniergruppe der wirtschaftsstärkeren Mitgliedstaaten zu bilden, welche die übrigen in ihrer Integration zeitweilig weit hinter sich lassen konnte. Es galt, das Potential der integrationsfähigen Mitgliedsländer in den Aufbau eines starken Europa zu stellen, so dass die Geschwindigkeit der Integration nicht mehr durch die langsameren und zögerlicheren Mitgliedstaaten bestimmt würde.[6]
2.2 Der Bericht Leo Tindemans
Der Vorschlag Willy Brandts wurde ein Jahr später vom belgischen Premier Leo Tindeman mit einem Bericht konkretisiert, der vom Europäischen Rat in Paris im Dezember 1974 in Auftrag gegeben worden war, und indem es heißt:
1. dass Staaten, welche die Möglichkeiten haben, Fortschritte zu machen, auch die Pflicht haben, dies zu tun,
2. dass Staaten, welche vom Rat auf Vorschlag der Kommission als objektiv anerkannte Gründe haben, nicht weiter vorzurücken, dies nicht tun
wobei sie von den anderen Staaten Hilfe und Beistand erhalten, soweit diese dazu in der Lage sind, damit sie die anderen einholen können
und wobei sie in den Gemeinschaftsorganen an der Beurteilung der auf dem betreffenden Gebiet erzielten Ergebnisse teilnehmen.[7]
Der Grund für die vielstimmige Ablehnung Europas auf die Vorschläge Brandts und Tindemans war die Befürchtung, dass eine Avantgarde, die zunächst im Alleingang voranschreitet, bestimmen würde, in welche Richtung sich die EU entwickelt. Den Zurückbleibenden bliebe damit wenig Einfluss auf weitere Entwicklungen, obwohl die im Alleingang getroffenen Entscheidungen weitreichende Folgen für die Wirtschaft und Politik sämtlicher Mitgliedsländer haben würden.[8]
2.3 Fortgang der Diskussion
Trotz oder gerade wegen der vielfältigen Vorbehalte gegenüber verschiedener Integrationsniveaus innerhalb der Union, führte die angestoßene Diskussion unter Wissenschaftlern und Politikern zur Entwicklung neuer Konzepte, die vom „Europa à la carte“ ohne gemeinsame Zielsetzung, über ein „Europa der konzentrischen Kreise“ mit einem Kerneuropa in seiner Mitte, bis zum „Europa der variablen Geometrie“ reichten, wobei das letzte Modell die Industrie und nicht die Staaten in den Vordergrund rückt.[9]
Letztlich lehnte sich die Entwicklung zu modernen Differenzierungsformen an das Konzept an, dass in der Rechtsordnung der EU bzw. EGKS seit ihrer Entstehung verankert ist: Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das zeitlich begrenzte Ausnahmen bei der Verwirklichung der Integration vorsieht und zwei wichtige Vorraussetzungen der Gemeinschaftsmethode erfüllt: Es beteiligen sich alle Mitgliedstaaten an sämtlichen Politikbereichen und sie teilen dieselben politischen Ziele.[10]
3 Die Differenzierungen von Maastricht und Amsterdam
3.1 Maastricht: Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform
Die gemeinsame Sozialpolitik, die in der Zeit vor Maastricht in der Europäischen Integration eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, stand in Maastricht zeitweise im Zentrum der Verhandlungen über die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union. Elf der damals zwölf Mitgliedsländer waren sich einig darüber, den zu schaffenden Staatenbund mit einer gemeinsamen sozialpolitischen Komponente zu versehen. Eine Ausweitung der Integration auf die Sozialpolitik stand jedoch im grundsätzlichen Widerspruch zu dem im London verfolgten Konzept einer Deregulierung zur Stärkung der Wettbewerbsposition britischer Unternehmen. Da die britische Regierung aus diesem Grund das Ansinnen kategorisch ablehnte, kam es auf der Konferenz von Maastricht zu einem bis dahin einmaligen Kompromiss:
Es traten nur elf Mitgliedstaaten einer neuen Entwicklungsstufe in der gemeinschaftlichen Sozialpolitik bei. Diese Staaten nahmen die Verfahren und Entscheidungsprozesse der Europäischen Union für ihre gemeinschaftliche Sozialpolitik in Anspruch, während Großbritannien im Gegenzug von den Rechten und Pflichten, die aus der neuen Sozialpolitik resultieren, befreit wurde.[11]
3.1.1 Opt-Out und Opt-In
Nachdem sich die Regierung Großbritanniens gegenüber jeglichen weiterführenden Entwürfen zu einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik verschlossen gezeigt hatte, regte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors ein Opt-Out-Verfahren für Großbritannien an, das der britische Premier John Major ablehnte, so dass sich die Mitgliedstaaten einer anderen rechtlichen Konstruktion zuwendeten.
Anstatt eines Ausstiegs Großbritanniens schlugen Vertreter der deutschen und französischen Regierung den Eintritt der integrationswilligen Staaten in eine neue Phase gemeinschaftlicher Sozialpolitik vor. Diesem Opt-In aller Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens stimmte die britische Regierung schließlich zu.[12]
Da keiner Regierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft an einem dauerhaften Ausschluss Großbritanniens gelegen war, wurde der britischen Regierung das Zugeständnis gemacht, dass ihre Vertreter an den Verhandlungen und Gesprächen in den Ratssitzungen als passive Beobachter teilnehmen dürften. Des Weiteren wurde der britischen Regierung zugesichert, dass sie jederzeit mittels eines Opt-In zur Pioniergruppe aufschließen könne.
Seit Entstehung der Europäischen Verträge wurde den Mitgliedstaaten ein Abweichen von den gemeinschaftlichen Vorgaben gestattet, wenn sozioökonomische und damit objektiv nachvollziehbare Umstände den Schutz von Rechtsgütern erforderlich machen. Seit dem Vertrag von Maastricht existiert darüber hinaus eine Option zum Zurückbleiben aus politisch-subjektiven Gründen.[13]
[...]
[1] Vgl. Langner, S. 21.
[2] Langner, S. 22.
[3] Brandt-Rede, in Europa-Archiv 2/1975, S. 36.
[4] Vgl. Kellerbauer, S. 27.
[5] Vgl. Boldt, S. 23.
[6] Vgl. Langner, S. 20.
[7] Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76, S. 29.
[8] Vgl. Falkner, S. 100.
[9] Vgl. Forgó, S. 41ff.
[10] Kellerbauer, S. 30.
[11] Vgl. Kellerbauer, S. 47f.
[12] Vgl. Kampmeyer, S.49f.
[13] Vgl. Becker, S.29.
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- Nils Prinz (Author), 2004, Differenzierte Integration in der Europäischen Union - Von Maastricht bis Nizza, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64998
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