In vielerlei Hinsicht nimmt Lübeck unter den deutschen Städten des Mittelalters eine Sonderstellung ein, sowohl aufgrund seiner ökonomisch und politisch hervorgehobenen Stellung als einer der Hauptakteure der Hanse, als auch durch den für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich hohen Grad an früher Schriftlichkeit und sein damit verbundenes wichtigstes nichtmaterielles Exportgut, das lübische Recht.
Lübeck gilt ferner als Prototyp einer bürgerlichen Stadtgemeinde, aus deren Mitte sich früh ein oligarchisch abgeschlossener, obrigkeitlich regierender Rat herausgebildet hatte, der lange als machtpolitischer und später als traditioneller Mittelpunkt der Stadt bis ins 19. Jahrhundert in dieser Form existierte.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frühphase dieses Rates, mit seiner Entstehung, Transformation und Konsolidierung, und fragt im zweiten Teil nach dem Charakter seiner Herrschaft im 13. Jahrhundert.
Gliederung
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
1.2. Quellenlage
1.3. Forschungsstand
2. Die Herausbildung der Ratsgewalt
2.1. Heinrich der Löwe und die Stadtgründung
2.2. Frühe Formen der Selbstverwaltung: Marktbehörde
2.3. Das Jahr 1201: Von der Marktbehörde zum Rat
2.4. Der Rat 1201-1240: Vom Exekutivorgan zur Körperschaft
3. Der abgeschlossene Rat
3.1. Herrschaft vs. Teilhabe: Ratsoligarchie oder genossenschaftlicher Konsens
3.2. Zusammensetzung des Rates
3.3. Binnendifferenzierung
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
5.1. Quellen
5.2. Literatur
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
In vielerlei Hinsicht nimmt Lübeck unter den deutschen Städten des Mittelalters eine Sonderstellung ein, sowohl aufgrund seiner ökonomisch und politisch hervorgehobenen Stellung als einer der Hauptakteure der Hanse, als auch durch den für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich hohen Grad an früher Schriftlichkeit und sein damit verbundenes wichtigstes nichtmaterielles Exportgut, das lübische Recht.[1]
Lübeck gilt ferner als Prototyp einer bürgerlichen Stadtgemeinde, aus deren Mitte sich früh ein oligarchisch abgeschlossener, obrigkeitlich regierender Rat herausgebildet hatte, der lange als machtpolitischer und später als traditioneller Mittelpunkt der Stadt bis ins 19. Jahrhundert in dieser Form existierte.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frühphase dieses Rates, mit seiner Entstehung, Transformation und Konsolidierung, und fragt im zweiten Teil nach dem Charakter seiner Herrschaft im 13. Jahrhundert.
1.2. Quellenlage
Der Historiographie des 19. Jahrhunderts ist es in erster Linie zu verdanken, dass die entscheidenden schriftlichen Quellen allgemein zugänglich sind. An erster Stelle stehen dabei die Urkundenbücher der Stadt und des Bistums Lübeck, die leicht zugänglich den wichtigsten Urkundenwechsel von Rat und Kapitel dokumentieren.[2] Gerade zu Fragen nach Stellung, Kompetenzen und Selbstverständnis des Rates stellen die Urkunden die entscheidende Quellengattung dar.
Von ebenfalls großer Bedeutung sind die frühen Rechtsquellen Lübecks, und dort in erster Linie das erste Stadtrecht in seinen verschiedenen Fassungen seit den 1220er Jahren.[3]
Zur frühen Lübeckischen Geschichte existieren zusätzlich mehrere Herrscherprivilegien, deren Überlieferungssituation so kompliziert ist, dass sie genauer beschrieben werden muss.
Es handelt sich um die Verleihung von Rechten und die sogenannte Ratswahlordnung Heinrichs des Löwen[4], das „Barbarossaprivileg“ Friedrich I. von 1188 (LUB 1, 7), das beinahe gleichlautende Große Privileg König Waldemars (LUB 1, 12), die Bestätigung des Privilegs seines Vaters durch Friedrich II. (LUB 1, 34) sowie dessen Reichsfreiheitsprivileg von 1226 (LUB 1, 35). Nur die letzten beiden Urkunden existieren in ihrer ursprünglichen Form.
Die neuere Forschung geht davon aus, dass ein schriftliches Privileg Heinrichs nie existiert hat.[5] Wohl nach Vorlage einer Fälschung bestätigte Friedrich I. 1188 Heinrichs mündlich verliehene Privilegien.
Spätestens Anfang 1226, frühestens im September 1224, erfolgte im Auftrag des Rates eine Neuschrift der Urkunde Barbarossas - und einer inhaltsgleichen Urkunde auf den Namen Waldemars - durch den Lübecker Domherrn Marold.[6] Diese Fälschung ließ sich die Stadt im Mai 1226 von Friedrich II. bestätigen (LUB 1, 34). Unmittelbar darauf erweiterte ein zweites Privileg Friedrichs die Rechte und machte die Stadt reichsunmittelbar. (LUB 1, 35).[7] Die erhaltenen Privilegien Barbarossas und Waldemars erweisen sich also als Fälschungen des Jahres 1226, deren Ergebnis das Privileg Friedrichs II. ist.
An die Stelle der frühen Fälschung der Privilegierungsurkunde Heinrichs, die Grundlage des Barbarossaprivilegs war, tritt Ende des 13. Jahrhunderts die Fälschung der Ratswahlordnung Heinrichs, die eine vollständige Erfindung aus dem Umfeld des Rates ist.[8]
Folglich sind die Texte des 12. Jahrhunderts nur noch indirekt zu erschließen. Die erhaltenen Urkunden dokumentieren die politische Situation der 1220er Jahre bzw. des endenden 13. Jahrhunderts.
Die erzählenden Quellen sind von durchaus unterschiedlichem Wert. Für die Frühgeschichte der Stadt ist die Sachsenchronik Helmolds sowie ihre Fortsetzung durch den Lübecker Arnold von besonderer Bedeutung.[9] Trotz offensichtlicher Parteilichkeit Arnolds decken sich viele seiner Angaben mit Erkenntnissen aus anderen Bereichen und lassen ihn gerade für das 12. Jahrhundert zu einer wichtigen Quelle werden.[10]
Problematischer ist der Quellenwert der Lübecker Chronistik zu bewerten, die unter dem Namen Detmar zusammengefasst wird.[11] Die Chroniken sind maßgeblich an den Fehlschlüssen der Forschung zur Gründungsgeschichte Lübecks beteiligt, da sie mit relativ großer zeitlicher Distanz ein den Rat gegen Ende des 14. Jahrhunderts legitimierendes Geschichtsbild entwerfen.
Der Mangel an nichtschriftlichen und erzählenden Quellen außerhalb der offiziellen Chronistik stellt für die Frage nach den Formen mündlicher Herrschaftsausübung, realer politischer Teilhabe und bürgerlichen Selbstverständnisses ein großes Defizit dar. Aus allen erhaltenen schriftlichen Quellen zur Geschichte der Bürgerbeteiligung spricht das Selbstverständnis des Rates.
1.3. Forschungsstand
In der Forschung zur Geschichte des Lübecker Rates dominiert seit dem 19. Jahrhundert die verfassungsgeschichtliche Perspektive mit der Grundfrage nach der rechtlichen Verfasstheit des Vertretungsorgans der Bürgerschaft. Weitgehend unstrittig war dabei die Definition des Rates als Obrigkeit spätestens seit Ende des 13. Jahrhunderts.[12] Stark divergierende Modelle gab es zu Entstehung und Form der ersten Bürgerbehörde im 12. Jahrhundert.
Eine Bündelung der bisherigen Ergebnisse, ergänzt durch eigenständige Quellenarbeit mit vielen neuen, bis heute weitgehend unwidersprochenen Erkenntnissen lieferten Bernhard am Endes „Studien zur Verfassungsgeschichte“ von 1975, die in gewisser Weise einen (vorläufigen) Abschluss der Forschung unter formal – rechtlicher Perspektive bildeten.
In den letzten Jahren haben sich die Schwerpunkte bei den Forschungen zur mittelalterlichen deutschen Stadt weg von den inzwischen gut dokumentierten schriftlichen Rechtsquellen hin zur Verfassungswirklichkeit, zur Ritual- und Kommunikationsforschung und zu neuen Bewertungen städtischer Herrschaft und Teilhabe verlagert. Rolf Hammel - Kiesow hat in den ersten beiden Teilen seines Forschungsberichts zur Stadtgeschichtsforschung[13] darauf aufmerksam gemacht, dass eine Anwendung der neuen Erkenntnisse und Methoden für die frühe Lübecker Geschichte noch aussteht. Insofern stehen die Ergebnisse zur Verfassungsgeschichte Lübecks weitgehend unverbunden neben der neuen Forschung zur deutschen Stadt im Mittelalter.
2. Die Herausbildung der Ratsgewalt
2.1. Heinrich der Löwe und die Stadtgründung
Bei der Untersuchung der Frühzeit der Stadt hat die Quellenlage in der Forschung lange für Verwirrung gesorgt. Einerseits war die Gründung der Stadt durch Graf Adolf II. von Holstein im Jahre 1143 bekannt (c. 57), andererseits sprechen sowohl die frühen Urkunden Lübecks, die ersten Stadtrechtsaufzeichnungen als auch die Lübecker Geschichtsschreibung von Heinrich dem Löwen als „primus loci fundator“. Erst mit der eingehenden Untersuchung des Materials lässt sich der Bezug auf Heinrich als Gründer als „bewusst wahrheitswidrig[e]“[14] Konstruktion des 13. Jahrhunderts erkennen.
Mit der bereits beschriebenen Fälschung der Barbarossaurkunde (LUB 1, 7) und der in der Folge erwirkten Anerkennung durch Friedrich II. (LUB 1, 34) gelang der Stadt die entscheidende Stärkung ihrer inneren Position gegen einen zukünftigen Stadtherrn, mit Friedrichs Reichsfreiheitsprivileg (LUB 1, 35) erwarb sie die Grundlage für eine Expansion nach außen.[15] Im Zuge dieser Machterweiterung war der Bezug auf den Welfen und die Verleugnung der Schauenburger Herkunft politisches Kalkül wider besseres Wissen.[16] Im Laufe des Jahrhunderts wurde der politisch bedeutungslos gewordene Bezug auf Heinrich Tradition und fand zwischen 1243 und 1257 Eingang in die Stadtrechtsschriften und um 1300 in die Fälschung der Ratswahlordnung. In dieser Tradition steht auch Johannes Rode[17], der - trotz des Wissens um die Gründung durch Adolf - erst mit Heinrich und der vermeintlichen Wahlordnung den Übergang des Dorfes zur Stadt sieht (c. 57).[18]
[...]
[1] Grundlegend ist der erste (und einzige) Band von Wilhelm Ebels breit angelegter Arbeit über das lübische Recht: EBEL, WILHELM, Lübisches Recht, Bd. 1, Lübeck 1971. Künftig zitiert: EBEL.
[2] Codex Diplomaticus Lubecensis. Lübeckisches Urkundenbuch, 1. Abt.: Urkundenbuch der Stadt Lübeck, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde, 11 Bde. (1843-1905). Künftig zitiert: LUB 1-11.
Urkundenbuch des Bistums Lübeck, Teil 1, hg. von WILHELM LEVERKUS (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 35) Oldenburg 1856. Künftig zitiert: BL 1.
Urkundenbuch des Bistums Lübeck. Band 2: 1220-1439, bearbeitet von WOLFGANG PRANGE (Schleswig - Holsteinische Regesten und Urkunden Band 13) Neumünster 1994. Künftig zitiert: BL 2.
[3] KORLÉN, GUSTAV, Norddeutsche Stadtrechte Bd. II: das mittelniederdeutsche Stadtrecht von Lübeck nach seinen ältesten Formen (Lunder Germanistische Forschungen 23) Lund 1951. Künftig zitiert: KORLÉN.
HACH, JOHANN FRIEDRICH (Hg.), Das alte Lübische Recht. Lübeck 1839, ND Aalen 1969. Künftig zitiert: HACH.
[4] Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern, bearbeitet von KARL JORDAN (Monumenta Germaniae Historica, C3: Laienfürsten- und Dynastenurkunden der Kaiserzeit, 1. Band, 1. Stück) Leipzig 1941, Nr. 63, S. 92f.
[5] Helmut Walther glaubt, dass von Heinrich „keine einzige Stadturkunde ausgestellt wurde“. WALTHER, HELMUT G., Heinrich der Löwe und Lübeck, in: ZVLGA 76 (1996), S.9-25. Künftig zitiert: WALTHER, hier: S. 20.
[6] Der Nachweis dieser Fälschungen erfolgte durch Bernd am Ende, S. 9ff. AM ENDE, BERND, Studien zur Verfassungsgeschichte Lübecks im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Band 2) Lübeck 1975. Künftig zitiert: AM ENDE.
[7] Vgl. HOFFMANN, ERICH, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter: Die große Zeit Lübecks, in: GRASSMANN, ANTJEKATHRIN (Hg.), Lübeckische Geschichte, Lübeck 1988, S. 79-340. Künftig zitiert HOFFMANN, hier: S. 118.
[8] SCHULZ, KNUT, Wahlen und Formen der Mitbestimmung in der mittelalterlichen Stadt des 12./13. Jahrhunderts. Voraussetzungen und Wandlungen, in: REINHARD SCHNEIDER - HARALD ZIMMERMANN, (Hgg.), Wahlen und Wählen im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 37) Sigmaringen 1990, S.323-344. Künftig zitiert: SCHULZ, hier: S. 332f.
[9] Helmold von Bosau, Slawenchronik, hg. von BERNHARD SCHMEICHLER – HEINZ STOOB (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein – Ausgabe 19) Darmstadt 1973.
Arnold von Lübeck, Arnoldi abbatis Lubecensis chronica, hg. von JOHANN MARTIN LAPPENBERG (MG SS in us. schol. 14) Hannover 1868.
[10] Zu Arnold vgl. WALTHER, S. 9ff.
[11] Detmar von Lübeck, Chronik des Detmar von Lübeck, hg. von KARL KOPPMANN (Chroniken der Deutschen Städte 19) Leipzig 1884, S. 115-597. Künftig im Text zitiert mit Kapitelangabe.
Die Chroniken der niedersächsischen Städte, Lübeck, Bde. 1-5 (Die Chroniken der deutschen Städte Bde. 19, 26, 28, 30, 31) Leipzig 1884-1914. Künftig zitiert: CHRONIKEN 19, 26, usw.
Die Lübecker Chronik von 1105 – 1276 stammt von Johannes Rode aus dem Jahr 1348f. Sie wurde nach 1385 vom Lektor des Katharinenklosters Detmar im Auftrag des Rates fortgesetzt. Vgl. WALTHER 13f., vgl. HOFFMANN, S. 298ff.
[12] „Herrschende Lehre ist: Der städtische Rat handelte als Obrigkeit, die ihre Gewalt nicht auf ein Mandat der Bürgerschaft zurückführte, sondern kraft eigener Souveränität über gehorsamspflichtige Bürger herrschte.“ MEIER, ULRICH - SCHREINER, KLAUS, Regimen civitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften, in. DIES. (Hgg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7) Göttingen 1994. S. 11-34. Künftig zitiert: MEIER – SCHREINER, Regimen civitatis, hier: S. 12.
[13] HAMMEL-KIESOW, ROLF, Neue Aspekte zur Geschichte Lübecks: von der Jahrtausendwende bis zum Ende der Hansezeit. Die Lübecker Stadtgeschichtsforschung der letzten zehn Jahre (1988-1997). Teil 1: bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: ZVLGA 18, 1998, S.47-114. Künftig zitiert: HAMMEL – KIESOW, Stadtgeschichtsforschung 1.
DERS., Neue Aspekte zur Geschichte Lübecks: von der Jahrtausendwende bis zum Ende der Hansezeit. Die Lübecker Stadtgeschichtsforschung der letzten zehn Jahre (1988-1999). Teil 2: „Verfassungsgeschichte“, „Bürger, Rat und Kirche“, „Außenvertretung“ und „Weltwirtschaftspläne“, in: ZVLGA 80, 2000, S.9-61. Künftig zitiert: HAMMEL –KIESOW, Stadtgeschichtsforschung 2.
[14] AM ENDE, S. 89.
[15] Vgl. ebd.
[16] Noch im 14. Jahrhundert wussten die Lübecker „recht gut über die erste Stadtgründung 1143 [...] durch Adolf II. Bescheid“. WALTHER, S. 13.
[17] Johannes Rode wird in der Lübecker Chronistik unter dem Namen Detmars aufgeführt.
[18] Vgl. EBEL, S.225f.
- Quote paper
- Bastian Pütter (Author), 2002, Der frühe Lübecker Rat - Entstehung, Konsolidierung und Charakter der Herrschaftsausübung im 12. und 13. Jahrhundert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64659
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