„Verbrecher, Trinker, Unsittliche und Zivileheherren.“ Dies sind die Schlagworte einer Diskussion im Kaiserreich, die die Massenzuwanderung ländlicher Unterschichten ins Ruhrgebiet an Gewalt, Sittlichkeitsverbrechen und Alkoholismus koppelt.
Unter den Bedingungen einer entstehenden Einwanderungsgesellschaft mit all ihren Transformationen und Verwerfungen reagiert das deutsche Bürgertum seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Konzepten, die dem bundesdeutschen Angstmotiv „Ausländerkriminalität“ ähneln.
Es ist nicht so, dass Geschichte sich wiederholt. Die strukturellen Bedingungen und gesellschaftlich-sozialen Formationen in der Bundesrepublik sind mit denen des Kaiserreichs nicht zu vergleichen. Trotzdem führt der gekappte Traditionszusammenhang zu verblüffenden Doppelungen. Da die eigene Geschichte als `Einwanderungsland wider Willen´ aus dem kollektiven und dem politischen Gedächtnis getilgt scheint, beginnt die Diskussion um Zuwanderung, „Gastarbeit“, Integration und „Ausländerkriminalität“ an einem nur imaginierten Punkt Null.
Eine dieser Doppelungen ist die analytische Unschärfe des Begriffes `Ausländer´ und der Kategorie `Fremdheit´.
Im Gegensatz zur Bundesrepublik vollzieht sich im Kaiserreich jedoch dieser Prozess, mit dem `Fremde´ zu `Tätern´ werden, ohne ideologiekritische Einwände und ohne `politisch korrekte´ Sprachregelungen.
Umso aufschlussreicher sind die gesellschaftlichen und diskursiven Transformationen, in denen sich aus einer zuvor unbeachteten Gruppe fremdsprachiger Arbeiter ein Feindbild konturiert, das zum Objekt von Zuschreibungen wird, die zuvor anders kodiert waren.
Kriminalität bildet das Strukturmuster der neuzeitlichen Gesellschaften ab, „mit all den Ahndungsritualen, Sanktionseinrichtungen, aber auch den Gerechtigkeits- und Justizvorstellungen der Bevölkerung sowie den eigentümlichen sozialkulturellen Empfindlichkeiten.“
Eben diese Vorstellungen und Empfindlichkeiten sind der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ziel ist es, die diskursiven Prozesse im Feld `Kriminalität´ zu beschreiben, mit denen die bürgerliche Gesellschaft auf das Phänomen der Massenmigration ins Ruhrgebiet reagiert.
Wie wird aus proletarischer Kriminalität polnische Kriminalität? Wie entsteht aus den `Sicherheitspaniken´ der 1870er Jahre angesichts der durch deutsche Arbeiter verübten Gewalttaten die `Kroatengefahr´ des frühen 20. Jahrhunderts? Welche Entwicklungen sind für die Ethnisierung von Tätern verantwortlich?
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Fragestellung
- Aufbau der Arbeit
- Quellenlage
- Forschungsstand
- Migrationsbewegungen – Das Ruhrgebiet als Zuwanderungsgesellschaft
- Ost-West-Binnenmigration
- Transnationale Wanderung
- Staatsfeinde als Zuwanderer: die `Ruhrpolen`
- Polnische Marginalisierung – Die „Falle Nationalstaat“
- Institutionelle Kriminalisierung – „Polenüberwachung“
- Kriminalitätsdiskurs
- Kriminologischer Diskurs – Das Sprechen über Kriminalität
- Zeitungsdiskurs – der massenmediale Transport
- „Preußens Wilder Westen\" - Proletarsierung und Bürgerangst
- Konzepte vorindustrieller Kriminalitätsangst: der „Gauner“
- Proletarischer Habitus und bürgerliche Gewaltrezeption
- Wohnverhältnisse der Unterschichten – „Unsittlichkeit“ als Folge
- Freizeitverhalten, Arbeiterkultur und Alkohol
- Proletarische Delinquenz - statistische Befunde
- Körperverletzungen
- „Grober Unfug“
- „Jene slawischen Elemente“ – Ostzuwanderung und perzipierte Kriminalität
- Nationalisierung des Diskurses
- Biologisierung des Kriminalitätsdiskurses
- „Degeneration“ und „Minderwertigkeit“
- „Degeneration“ und „Rasse“
- Gewaltkriminalität, Alkohol und Zuwanderung
- Stereotypisierungen: „trinkende Polen“ und Gewalt
- „Rohe Messerhelden“ – Wahrnehmung `ausländischer' Gewaltkriminalität
- Lebensverhältnisse und Stigmatisierung – „Unsittlichkeit“ fremdsprachiger Zuwanderer
- Defizitäre Urbanisierung und „Polnische Wirtschaft“
- Wohnverhältnisse der Fremden - „Unsittlichkeit“ als Ursache
- Delinquenz der Zuwanderer - statistische Befunde
- Gewalt gegen Fremde – die Kehrseite der „Ausländerkriminalität“
- Ausblick und Schluss
- Literatur
- Literatur vor 1945
- Literatur nach 1945
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Wahrnehmung und Konstruktion von Kriminalität im Kontext der Ost-West-Migration im westfälischen Ruhrgebiet vor 1914. Ziel ist es, die diskursiven und sozialen Prozesse zu untersuchen, die zur Entstehung von `Ausländerkriminalität' als Angstmotiv führten. Die Arbeit analysiert die Rolle von Stigmatisierung, Proletarisierung und der Entstehung eines spezifischen Kriminalitätsdiskurses.
- Die Ost-West-Migration als Motor der Industrialisierung im Ruhrgebiet
- Die Konstruktion von `Ausländerkriminalität' durch die Stigmatisierung polnischer Zuwanderer
- Die Rolle des Kriminalitätsdiskurses im Kontext der sozialen und ökonomischen Transformationen des Ruhrgebiets
- Die Verbindung von Proletarisierung und Bürgerangst in der Wahrnehmung von Kriminalität
- Die Bedeutung von Stereotypen und Vorurteilen in der Konstruktion von `Ausländerkriminalität'
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die die Fragestellung, den Aufbau, die Quellenlage und den Forschungsstand der Arbeit darstellt. Kapitel 2 beleuchtet die Bedeutung der Ost-West-Migration für das Ruhrgebiet als Zuwanderungsgesellschaft. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Stigmatisierung und Kriminalisierung polnischer Zuwanderer im Kontext der deutschen Nationalstaatenbildung. Kapitel 4 untersucht die Bedeutung des Kriminalitätsdiskurses, der sich sowohl in der kriminologischen Forschung als auch in der öffentlichen Meinung niederschlägt. Kapitel 5 analysiert die Konzepte der Proletarisierung und der Bürgerangst in Bezug auf die Wahrnehmung von Kriminalität im Ruhrgebiet. Kapitel 6 beleuchtet die spezifische Konstruktion von `Ausländerkriminalität' im Kontext der Ost-West-Migration. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick, der die Bedeutung der Thematik für die heutige Gesellschaft hervorhebt.
Schlüsselwörter
Ost-West-Migration, Ruhrgebiet, Kriminalität, Kriminalitätsdiskurs, Ausländerkriminalität, Proletarisierung, Bürgerangst, Stigmatisierung, Polen, Stereotypen, Degeneration, Nationalismus, Industrialisierung, Zeitungsdiskurs, sozialer Wandel.
- Quote paper
- Bastian Pütter (Author), 2006, Kriminalität und Kriminalitätsdiskurs. Die Ost-West-Migration im westfälischen Ruhrgebiet vor 1914, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64657