Bis heute hat die Geschichte von Schlemihl, der sich um jeden Preis Geld und das damit vermeintlich verbundene gesellschaftliche Ansehen wünscht, der schließlich seinen Schatten verkauft an den Mann im grauen Rock, nichts von seiner Faszination auf ein breites Publikum verloren. Noch Thomas Mann vertritt in seinem Chamisso zugeeigneten Aufsatz aus dem Jahre 1930 die Auffassung, der Peter Schlemihl gehöre „zu den liebenswürdigsten Jugendwerken der deutschen Literatur“ . Es muss etwas zeitloses an dieser Geschichte sein, deren Protagonist seine Gier nach Geld und Macht letztlich mit dem Verlust seiner bürgerlichen Identität bezahlt. Es ist sicher nicht allein die Faszination des Geldes, die Chamissos Leserschaft seit nunmehr fast zweihundert Jahren in ihren Bann zieht; vielmehr die Frage nach der Notwendigkeit der Eingliederung des Individuums in die menschliche Gemeinschaft, die Fragwür-digkeit beständig neu zu kodifizierender bürgerlicher Konventionen und nicht zuletzt die Frage nach jenen, die solche Konventionen als ungeschriebenes Gesetz zur Eingliederung des Individuums in ihr Kollektiv, doch auch zu einem – wie es scheint – jederzeit möglichen Ausschluss aus ihrem Verbund festzulegen geneigt sind. Dem Schattenmotiv vorangestellt ist das Geldmotiv, ist es doch nichts weniger als die Gier des mit-tellosen Peter Schlemihl nach unbegrenzten monetären Mitteln, die zum eigentlichen Auslöser für den fatalen Tausch wird und den Schattenverlust erst nach sich zieht. So wird in dieser Arbeit das Geldmotiv und seine Bedeutung im Vordergrund zu stehen haben; das Schattenmotiv soll auf eine marginale Rolle begrenzt bleiben, doch auch nur dort, wo es in kontextuellem Bezug erforderlich erscheint. Ergänzend wird ein intertextueller Bezug zum Volksbuch des Fortunatus unternommen, dem Chamisso das alles entscheidende Motiv des Glückssäckels entnommen hat, nicht ohne auf den monetären Einfluss in diesem wie dem anderen Handlungsverlauf zu sprechen zu kommen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Dilemma: Mittellosigkeit als Ausschlusskriterium aus der kapitalistischen Welt
2.1 Exposition: Mittellosigkeit
2.2 Die Gefahr eines einseitigen Kapitalismus in der frühneuzeitlichen Konsumgesellschaft
2.3 Der graue Mann als moderner Teufel oder Personifikation der frühkapitalistischen Konsumgesellschaft
3. Exkurs: Die Funktion des Geldes in Chamissos Vorlage: Das Volksbuch Fortunatus (1509)
4. Schlemihls Flucht aus dem Fluch: Wissenschaft als Weltabgewandtheit
5. Schluss
Literaturverzeichnis
Erklärung der Authentizität
1. Einleitung
Noch als der Ruhm seiner Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte Adelberg von Chamisso in weiten Teilen der Welt bekannt gemacht hatte, bezeichnete sie der Autor selbst in der ihm eigenen Bescheidenheit in einem Brief vom 24. Mai 1834 an seinen Verleger Johann Leonhard Schrag als seine „leichte Waare“[1]. Die Erzählung von dem Mann ohne Schatten war längst in fast alle europäische Sprachen übersetzt und hatte schnell sogar in Nordamerika begeisterte Leser gefunden. Auch Balzac hat die profunde Bedeutung von Chamissos Novelle noch zu dessen Lebzeiten herausgestrichen, indem er den Protagonisten seines Romans Illusions perdues[2], Lucien de Rubempré, eine deutlich von Lesespuren gezeichnete Ausgabe des Peter Schlemihl in einem Antiquariat finden lässt[3].
Bis heute hat die Geschichte von Schlemihl, der sich um jeden Preis Geld und das damit vermeintlich verbundene gesellschaftliche Ansehen wünscht, der schließlich seinen Schatten verkauft an den Mann im grauen Rock, nichts von seiner Faszination auf ein breites Publikum verloren. Noch Thomas Mann vertritt in seinem Chamisso zugeeigneten Aufsatz aus dem Jahre 1930 die Auffassung, der Peter Schlemihl gehöre „zu den liebenswürdigsten Jugendwerken der deutschen Literatur“[4]. Es muss etwas zeitloses an dieser Geschichte sein, deren Protagonist seine Gier nach Geld und Macht letztlich mit dem Verlust seiner bürgerlichen Identität bezahlt. Es ist sicher nicht allein die Faszination des Geldes, die Chamissos Leserschaft seit nunmehr fast zweihundert Jahren in ihren Bann zieht; vielmehr die Frage nach der Notwendigkeit der Eingliederung des Individuums in die menschliche Gemeinschaft, die Fragwürdigkeit beständig neu zu kodifizierender bürgerlicher Konventionen und nicht zuletzt die Frage nach jenen, die solche Konventionen als ungeschriebenes Gesetz zur Eingliederung des Individuums in ihr Kollektiv, doch auch zu einem – wie es scheint – jederzeit möglichen Ausschluss aus ihrem Verbund festzulegen geneigt sind.
Das Schattenmotiv ist im Hinblick auf die Biographie des Autors Adelbert von Chamisso, dem Mann ohne Vaterland, der schon in früher Jugend im Zuge der Wirren der Französischen Revolution nach Preußen fliehen musste und sich zeitlebens im Niemandsland zwischen zwei Nationen als heimatlos empfunden hat, von der Literaturwissenschaft und ihren Interpreten[5]
als das zentrale Motiv der Novelle vielfältig besprochen, der biographische Bezug zu ihrem Autor eingehend erörtert worden. Nun kann jedoch der Schattenverlust auch von der Autorenbiographie unabhängig und als Projektion auf ein jedes, desintegriert in der Fremde lebendes Individuum betrachtet werden, wie dies Richard Benz getan hat: „der Schatten-Verlust will vom ganz Persönlichen her doch die Tragödie des Menschen bedeuten, der ohne Heimat, Volk und Vaterland gleichsam körperlos unter dem Gestirn des Himmels lebt“[6]. Dem Schattenmotiv vorangestellt ist jedoch – und hier lässt auch die hermeneutische Differenz denkbar wenig Spielraum – eindeutig das Geldmotiv, ist es doch nichts weniger als die Gier des mittellosen Peter Schlemihl nach unbegrenzten monetären Mitteln, die zum eigentlichen Auslöser für den fatalen Tausch wird und den Schattenverlust erst nach sich zieht. So wird in dieser Arbeit das Geldmotiv und seine Bedeutung im Vordergrund zu stehen haben; das Schattenmotiv soll auf eine marginale Rolle begrenzt bleiben, doch auch nur dort, wo es in kontextuellem Bezug erforderlich erscheint. Ergänzend wird ein intertextueller Bezug zum Volksbuch des Fortunatus zu untersuchen sein, dem Chamisso das alles entscheidende Motiv des Glückssäckels entnommen hat, nicht ohne auf den monetären Einfluss in diesem wie dem anderen Handlungsverlauf zu sprechen zu kommen.
2. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Dilemma: Mittellosigkeit als Ausschlusskriterium aus der kapitalistischen Welt
Es kann nicht ausbleiben, autobiographische Bezüge zwischen der Mittellosigkeit des jugendlichen Emigrantenkindes Adelbert von Chamisso und seinem späteren Protagonisten Peter Schlemihl herzustellen, die ebenso evident sind wie sie von den meisten Interpreten herausgestellt werden.[7] Mit dem Beginn der Revolutionskriege im Frankreich des Jahres 1792
hatte Chamissos Familie ihren Wohnsitz, das Schloss Boncourt, freiwillig verlassen[8]. Nach zweijähriger Irrfahrt über die Niederlande, durch Deutschland und Luxemburg, gelangte die Familie 1796 schließlich nach Berlin. Der Knabe Chamisso war fünfzehn Jahre alt, als er an dieser Stelle seines Lebens die Erfahrung machen musste, dass ihn trotz adeliger Herkunft die vorübergehende Mittellosigkeit der Familie zu niederer körperlicher Arbeit zwang: „Da saß er
nun unter fremden Menschen, wusch Pinsel, rührte Farben an, durfte dann und wann ein paar preußisch-blaue Punkte auf den Henkel einer Kaffeetasse setzen.“[9] Diese Erfahrung des Verlusts einer Anbindung an die frühkapitalistische bürgerliche Gesellschaft macht der Autor Chamisso Jahre später zum Ausgangspunkt für seinen Protagonisten in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte. So offensichtlich Parallelen aus der Novelle und dem realen Leben des Autors auch zu Tage treten, so gänzlich unzureichend bliebe jedoch auch eine die Vielschichtigkeit der novellistischen Motive missachtende Interpretation wie jene Chabozys aus dem Jahre 1879[10], der es unternommen hat, sämtliche Elemente der Geschichte einschließlich der Personen aus der Biographie Chamissos abzuleiten. Eine derart
unzulässige Simplifizierung, die das literarische Werk auf das Biographische reduziert, unterschlägt die dem Werk innewohnende Eigenständigkeit als Kunst [...] Daß er eigene Lebenserfahrungen in die Erzählung einbringt, bleibt unbenommen, aber sie gehen nicht in ihr auf.[11]
2.1 Exposition: Mittellosigkeit
Die Anlage der Exposition ist in erster Linie darauf ausgerichtet, den Protagonisten Peter Schlemihl als mittellosen Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft darzustellen und abzugrenzen. In diesem Sinne endet die von einem auktorialen Erzähler (er kennt u.a. Schlemihls Herkunft und persönliche Verhältnisse) vorgetragene Exposition mit Schlemihls Aufenthalt in der „Gartengesellschaft“ des Herrn John, und zwar im Augenblick des unmittelbaren Zusam-
mentreffens mit dem Mann, welcher in einen “altfränkischen, grautafftnen Rock“[12] gekleidet
4
erscheint. Im weiteren Handlungsverlauf wird dieser „graue Mann“, von den meisten Interpreten als „Teufel“ bezeichnet[13], obgleich im Text an keiner Stelle so genannt, zum Kontrahenten und Antagonisten Schlemihls werden; auf ihn wird an späterer Stelle näher einzugehen sein.
Die Novelle beginnt mit den Worten: „Nach einer glücklichen, jedoch für mich sehr beschwerlichen Seefahrt, erreichten wir endlich den Hafen.“ (PS, S. 18) Wenn im folgenden Satz der Ich-Erzähler (Schlemihl) von seiner „kleinen Habseligkeit“ spricht, so lässt sich leicht folgern, dass die Beschwerlichkeit der Seefahrt auf nichts anderes als mangelnde Bequemlichkeit infolge mangelnder monetärer Liquidität zurückzuführen ist. Es lässt sich leicht nachvollziehen, wenn infolge solcher Umstände der Ich-Erzähler froh sein muss, „endlich“ seine Beschwernisse beendet zu sehen. Wenn trotz alledem die Seefahrt „glücklich“ genannt wird, dann auch nur in der Retrospektive und hinsichtlich ihres erfolgten Endes. Sogleich begibt Schlemihl sich „in das nächste, geringste Haus“ (PS, S. 18), wo er von dem Hausknecht mit einem Blick taxiert und ihm sodann ein Zimmer unter dem Dach zugewiesen wird. So bekommt der erste Eindruck des Lesers sofort neue Nahrung: In der geringsten Herberge der Hafengegend von dem dortigen Bedienten unter das Dach und damit in die üblicherweise dort befindliche ärmste Kammer verbracht zu werden, als „Gast“ dadurch mit den Mägden und Dienstboten auf deren Stufe gestellt zu werden, kann keine andere Ursache haben als ein äußerst ärmliches Erscheinungsbild und Auftreten, kontextuell gewiss nicht zuletzt mit Schlemihls „kleiner Habseligkeit“ verknüpft, dem Umstand also, dass schon der geschulte Blick des Hausknechts unvermittelt erkennt, dass dieser Gast nicht mehr als das Geringste wird bezahlen können, da er nicht einmal über eine angemessene Menge Gepäcks verfügt.
Das nun folgende offenbart schnell Schlemihls Vorhaben, zu Geld und Ansehen zu gelangen, welches ihn nach an diesen nicht namentlich genannten Ort geführt hat. Er verfügt über ein Empfehlungsschreiben an einen gewissen Herrn John, nach dessen Wohnsitz er sich unverzüglich erkundigt, legt seine besten Kleider an, zuletzt seinen „neu gewandten schwarzen Rock“ (PS, S. 18), um sogleich bei Herrn John vorstellig zu werden. All dies verdeutlicht die
[...]
[1] Chamisso an Johann Leonhard Schrag, 24. Mai 1834. In: Bibliotheca Schlemihliana. Ein Verzeichnis der Ausgaben und Übersetzungen des Peter Schlemihl nebst neun unveröffentlichen Briefen Chamissos und einer Einleitung von Philipp Rath, Berlin 1919, S. 63.
[2] Honoré de Balzac: Illusions perdues. Publiée par les Bibliophiles de l’Originale, Paris 1972.
[3] Siehe hierzu auch: Werner Feudel: Adelbert von Chamisso. Leben und Werk, Leipzig 1980, S. 80.
[4] Thomas Mann: Chamisso. In: ders.: Adel des Geistes. Zwanzig Versuche zum Problem der Humanität, Berlin – Weimar 1965, S. 46.
[5] Siehe hierzu: René Riegel: Adelbert de Chamisso. Sa vie et son oeuvre, Paris 1934, S. 441 ff. sowie Jürgen Schwann: Vom ‚Faust‘ zum ‚Peter Schlemihl‘. Kohärenz und Kontinuität im Werk Adelbert von Chamissos, Tübingen 1984, S. 36-51.
[6] Richard Benz: Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung, Stuttgart 1956, S. 360.
[7] Siehe hierzu u.a.: Feudel: Chamisso, a.a.O., S. 65 f.
[8] Siehe hierzu auch: Louis Brouillon: Les origines d’Adelbert de Chamisso. In: Travaux de l’Académie nationale de Reims 127 (1909).
[9] Kurt Schleucher: Adelbert von Chamisso, Berlin 1988, S. 18.
[10] Fr. Chabozy: Über das Jugendleben Adelberts von Chamisso. Zur Beurtheilung seiner Dichtung Peter Schlemihl, München 1879, S. 20.
[11] Dagmar Walach: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814). In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, hg. von Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1981, S. 289.
[12] Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: ders.: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand und den Handschriften. Textredaktion Jost Perfahl. Bibliographie und Anmerkungen von Volker Hoffmann. Band I, S. 19 (Im Folgenden zitiert unter der Sigle PS und der Seitenangabe).
[13] Siehe hierzu u.a.: Jürgen Schwann: Vom ‚Faust‘ zum ‚Peter Schlemihl‘. Kohärenz und Kontinuität im Werk Adelbert von Chamissos, Tübingen 1984, S. 201 ff. sowie: Kurt Schleucher: Adelbert von Chamisso, Berlin 1988, S. 103 ff.
- Quote paper
- Matthias Mühlhäuser (Author), 2006, Die Verführungsmacht des Geldes in Adelbert von Chamissos 'Peter Schlemihls wundersame Geschichte', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64581
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