In der vorliegenden Arbeit soll am Beispiel Madrids die Bedeutung des Problems Großstadt in der modernen spanischen Literatur untersucht werden.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse von Romanen, die in der Zeit nach dem Bürgerkrieg entstanden sind, und deren Handlung vorwiegend im Madrid dieser Zeit spielt. Ausgewählt wurden bekanntere zeitgenössische Autoren, die lange Jahre in der spanischen Hauptstadt verbracht haben oder dort noch leben und somit als profunde Kenner der Stadt gelten können. Werke ausländischer Schriftsteller oder von Spaniern im Exil wurden nicht berücksichtigt.
Der Roman als komplexeste Erzählform dient am ehesten dazu, die Vielfältigkeit des Lebens in einer modernen Großstadt literarisch zu verarbeiten. Allerdings gestaltet sich der Versuch der Definition des Großstadtromans schwierig, da eine Abgrenzung zu anderen Romantypen nur schwer möglich ist. In der Regel ist das Problem Großstadt ein Aspekt bzw. Motiv des Romans unter vielen anderen. Daraus folgt, daß ein Werk Gesellschafts-, Psycho- oder Kriminalroman ist, und „die erzählte Stadt“ erst in zweiter Linie thematisiert wird. Dies trifft auch auf die hier ausgewählten Werke zu, in denen jedoch das Leben in der spanischen Metropole in irgendeiner Form den Verlauf der Handlung bestimmt.
Die Stadt Madrid hat im 20. Jahrhundert wohl nie eine solche Bedeutung für die Literatur gehabt wie z. B. Berlin oder New York. Diese beiden Städte inspirierten auch die meiner Meinung nach bedeutendsten Großstadtromane der Moderne: Manhattan Transfer (1925) von John Dos Passos und Berlin Alexanderplatz (1928) von Alfred Döblin.
Das Thema Stadt hat aber nicht erst in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts Eingang in die Prosaliteratur gefunden, wie uns ein kurzer historischer Abriss der Geschichte Madrids und seiner Literatur verdeutlicht.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich in den europäischen Großstädten einschneidende soziologische Veränderungen als Folge der industriellen Revolution, die auch zu einer veränderten Sichtweite der Stadt in der Literatur führte. Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel hat sich in seinen Schriften intensiv mit den Folgen dieser Umwälzungen in Bezug auf das Großstadtleben auseinandergesetzt, weswegen diese kurz nach der Jahrhundertwende entstandenen Überlegungen in dieser Arbeit dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
0. Vorwort
1. Einleitung
1.1.Arbeitshypothese
1.2.Großstadt und Roman
1.3. Großstadtleben
2. Madrid
2.1. Madrid in der Moderne
2.2. Madrid in der Literatur
2.2.1. Mesonero Romanos und das Madrid des Costumbrismo
2.2.2. Pérez Galdós und der Realismus
2.2.3. Pío Baroja und der Roman um die Jahrhundertwende
2.2.4. Ramón Gómez de la Serna und das modernistische Madrid
3. Voraussetzungen für die Romananalyse
3.1. Kultur und Literatur nach dem Spanischen Bürgerkrieg
3.2. Vorstellung der Autoren und ihrer Werke
3.2.1. Camilo José Cela - La colmena
3.2.2. Juan Garcia Hortelano - Nuevas amistades.
3.2.3. Luis Martín-Santos - Tiempo de silencio
3.2.4. Carmen Martin Gaite - Fragmentos de interior
4. Romananalyse
4.1. Betrachtung formaler Aspekte der Romane
4.1.1. Aufbau und Zeitstruktur
4.1.2. Erzähler und Erzählsituation
4.1.3. Sprache und Stil
4.2. Inhaltliche Analyse
4.2.1. Die Romanfiguren - Menschen in Madrid
4.2.2. Die Handlungsorte - Räume in der Stadt
4.2.3. Themen der Großstadtwahrnehmung
5. Tendenzen des Großstadtromans der 80er und 90er Jahre
6. Schlussfolgerungen
7. Bibliographie
7.1. Primärliteratur
7.2. Sekundärliteratur
0. Vorwort
Madrid, die spanische Hauptstadt seit dem 16. Jahrhundert, hat seit Jahrhunderten eine besondere Faszination auf Schriftsteller verschiedener Nationalitäten ausgeübt, die über und in der Stadt geschrieben haben. Trotz dieses Interesses von Literaten aus aller Welt blieb die Madridliteratur lange Zeit wenig beachtet. Erst in den letzten 10 Jahren sind in Deutschland drei Anthologien mit Texten über diese Metropole erschienen.
Madrid wurde nie ein richtiger Ort der Weltliteratur, wie dies der Fall war bei anderen Hauptstädten Europas und Amerikas. Die spanische Metropole, fernab vom Meer gelegen, stand lange in Rivalität zu Barcelona, das "Europa näher" war und lange Zeit als offener für kulturelle Neuerungen oder avantgardistische Bewegungen galt.
Für das Verständnis der Madridromane nach dem Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) ist es unerlässlich, einen Blick zurück auf traditionsreiche Vorläufer einer Stadtliteratur zu machen, die sich seit dem 19. Jahrhundert artikulierten und die verschiedenen Entwicklungsphasen dieses Ortes auf der kastilischen Hochebene literarisch verfolgten.
Die vorliegende Arbeit zeigt anhand von ausgewählten Beispielen, welche Art von Großstadtliteratur sich unter der Repression des autoritären Francoregimes entwickeln konnte. Die Themen in den Romanen, die in einer Zeit entstehen, als sich Spanien -zumindest geistig-kulturell - weitgehend in der Isolation befindet, werden ebenso eingehend analysiert wie die verwendeten innovativen Erzähltechniken.
Schließlich wird auch auf einige Madridromane nach der transición eingegangen, die von der einer neuen Generation von Erfolgsautoren verfasst wurden. Dabei ist anzumerken, dass gerade zu diesem Zeitpunkt in den achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts Madrid mit seiner movida große Attraktivität, nicht nur für unermüdliche Nachtschwärmer, sondern auch als eine Kulturhauptstadt Europas besitzt.
Die vorliegende Publikation basiert auf einer Magisterarbeit am Fachbereich Neuere Fremdspachliche Philologien der Freien Universität Berlin, die aktualisiert und ergänzt wurde. Prof. Dr. Dietrich Briesemeister gilt mein Dank für seine geduldige Betreuung.
Belo Horizonte, im Dezember 2007
Volker Jaeckel
1. Einleitung
1.1.Arbeitshypothese
In der vorliegenden Arbeit soll am Beispiel Madrids die Bedeutung des Problems Großstadt in der modernen spanischen Literatur untersucht werden.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse von Romanen, die in der Zeit nach dem Bürgerkrieg entstanden sind, und deren Handlung vorwiegend im Madrid dieser Zeit spielt. Ausgewählt wurden bekanntere zeitgenössische Autoren, die lange Jahre in der spanischen Hauptstadt verbracht haben oder dort noch leben und somit als profunde Kenner der Stadt gelten können. Werke ausländischer Schriftsteller oder von Spaniern im Exil wurden nicht berücksichtigt .
Der Roman als komplexeste Erzählform dient am ehesten dazu, die Vielfältigkeit des Lebens in einer modernen Großstadt literarisch zu verarbeiten. Allerdings gestaltet sich der Versuch der Definition des Großstadtromans schwierig, da eine Abgrenzung zu anderen Romantypen nur schwer möglich ist. In der Regel ist das Problem Großstadt ein Aspekt bzw. Motiv des Romans unter vielen anderen. Daraus folgt, dass ein Werk Gesellschafts-, Psycho- oder Kriminalroman ist, und "die erzählte Stadt" erst in zweiter Linie thematisiert wird. Dies trifft auch auf die von mir ausgewählten Werke zu, in denen jedoch das Leben in der spanischen Metropole in irgendeiner Form den Verlauf der Handlung bestimmt.
Die Stadt Madrid hat im 20. Jahrhundert wohl nie eine solche Bedeutung für die Literatur gehabt wie z.B. Berlin oder New York. Diese beiden Städte inspirierten auch die meiner Meinung nach bedeutendsten Großstadtromane der Moderne: Manhattan Transfer (1925) von John Dos Passos und Berlin Alexanderplatz (1928) von Alfred Döblin.
Das Thema Stadt hat aber nicht erst in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts Eingang in die Prosaliteratur gefunden, wie uns ein kurzer historischer Abriss der Geschichte Madrids und seiner Literatur verdeutlicht.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich in den europäischen Großstädten einschneidende soziologische Veränderungen als Folge der industriellen Revolution, die auch zu einer veränderten Sichtweise der Stadt in der Literatur führte. Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel hat sich in seinen Schriften intensiv mit den Folgen dieser Umwälzungen in bezug auf das Großstadtleben auseinandergesetzt, weswegen diese kurz nach der Jahrhundertwende entstandenen Überlegungen in dieser Arbeit dargestellt werden.
Die Anlage der Arbeit implizierte die Beschränkung auf ungefähr ein halbes Dutzend Autoren und die gleiche Anzahl von Romanen als Textkorpus der Untersuchung. Hierbei liegt zwar durchaus eine subjektive Auswahl zugrunde, die aber doch versucht, so beschränkt die Möglichkeiten bei einer so geringen Zahl von Werken sind, den Fragestellungen nach den Veränderungen der Stadt, ihrer Gesellschaft und den Auswirkungen auf die Romanliteratur gerecht zu werden. Dabei soll die Zeit nach dem Ende des Bürgerkrieges und die gegen Ende der Franco-Diktatur gegenübergestellt werden. Bei diesem Vergleich werden natürlich auch Fragen aufgeworfen, die sich zunächst nicht direkt auf das Phänomen Großstadt beziehen, die aber für die Bewertung der Romane insgesamt von Bedeutung sind.
Der Vergleich und die Analyse der nachfolgend genannten Werke sollen sowohl Veränderungen in der Sprache, den Erzähltechniken als auch Unterschiede bei der Auswahl der Romanfiguren, der Handlungsorte und der Themen erfassen. übergeordnete Kriterien sind die Stadtwahrnehmung durch die verschiedenen Autoren und die Vermittlung von Großstadt im Erzähltext. Andere Aspekte, die aufgegriffen werden sollen, sind der Stadt-Land-Gegensatz, literarische Einflüsse spanischer und ausländischer Autoren, aber auch die Übertragungsmöglichkeiten des beschriebenen Mikrokosmos auf den Zustand der spanischen Gesellschaft insgesamt. Die genannten Anhaltspunkte der Untersuchung dienen der Erstellung eines kleinen Querschnitts durch die verschiedenen Sichtweisen und Darstellungsmöglichkeiten des Themas .
Bei der Suche nach geeigneter Sekundärliteratur stellte sich folgendes Hindernis: Trotz der Existenz einer ganzen Reihe nicht unbedeutender literarischer Werke, die Madrid zum Gegenstand haben, ist die Forschung auf dieses Problemfeld bisher wenig eingegangen. Soweit dem Autor bekannt ist, fehlen immer noch umfassende monographische Studien zu diesem Thema, wenn man einmal von der sehr oberflächlichen Zusammenstellung Lacartas[1] absieht.
Einige Hispanisten haben zwar versucht, das Bild Madrids in bestimmten Romanen zu erforschen, beschränken sich dabei aber auf Einzelaspekte,[2] während La colmena und Tiempo de silencio schon zu den modernen Klassikern zählen und daher die Fülle der Sekundärliteratur zu diesen Werken beeindruckt, haben die neueren Romane bisher weniger Beachtung gefunden. Aus diesem Grunde wurde versucht, mit einer reduzierten Zahl von möglichst aktuellen Arbeiten auszukommen.
Beim Rückblick auf die Madridliteratur vor dem Spanischen Bürgerkrieg sind vierAutoren hervorgehoben, die einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung des Genres ausübten: Mesonero Romanos, Pérez Galdós, Pío Baroja, Ramón Gómez de la Serna.
Volker Klotz behandelt in seinem grundlegenden Werk zum Großstadtroman[3] nur insofern Madrid, als er Lesages Le Diable Boiteux bespricht, also einen französischen Roman.[4] Auch die 1990 erschienene Studie Gotzmanns lässt die spanische Großstadtliteratur unberücksichtigt. Diese Untersuchung gibt anhand von acht Autoren und vier Großstädten eine Anschauung von Begriff und Vorstellung der Großstadt in der Literatur.[5] Die Form der ästhetischen Gestaltung ist bedingt durch die Art der Wahrnehmung der Autoren.
"Die großstädtische Wirklichkeit läßt sich nicht in gedrechselten Perioden erfassen. Nach hierarchischen Prinzipien, etwa durch das grammatische Äquivalent der Hypotaxe, können die Wirklichkeitselemente nicht angemessen in einem Bezugssystem erfahren werden."(Gotzmann 1990, 14).
Erstaunlich ist die Tatsache, dass Madrid als Topos der Literatur weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als dies bei anderen Weltstädten der Fall ist. Unter Umständen lässt sich das relativ geringe Interesse an Madrid in der Literatur dadurch erklären, dass diese Stadt sich erst in den Jahren nach dem Ende der Franco-Diktatur einen Platz als Kulturmetropole erkämpfen konnte, während sie im internationalen Vergleich vom Ende des Siglo de Oro bis in die 70er Jahre dieses Jahrhunderts eher im Schatten anderer europäischer Kulturzentren wie z.B. Paris, London, Wien und Berlin stand.
Auch innerhalb der Iberischen Halbinsel ist die Position Madrids als Ort von Literaturproduktion und Literaturvermarktung erst in letzter Zeit gestärkt worden. Die Mehrzahl der großen spanischen Literaturverlage hat noch immer ihren Sitz in Barcelona und eine große Zahl der erfolgreichsten spanischen Schriftsteller wohnt in der katalanischen Metropole und macht sie zum Schauplatz ihrer Romane (z.B. Juan Marsé, Eduardo Mendoza, Manuel Vázquez Montalban, Javier Tomeo oder auch Carlos Ruiz Zafón als weltweiter Bestsellerautor in jüngster Zeit).[6]
1.2. Großstadt und Roman
Volker Klotz weist eine besondere Affinität zwischen Großstadt und Roman nach. Er kommt zu dem Schluss, dass der Roman die poetische Gattung sei, die für die literarische Verarbeitung des "Vorwurfes Stadt" am geeignetsten sei und argumentiert mit dem geringen Abstraktionsgrad des Romans:
"Er läutert den Gegenstand zu keiner Idee, verengt ihn auf keinen Einzelaspekt, er sucht vielmehr seinen Aspektreichtum, seine Totalität. Wie aber anders käme gerade Stadt ohne Substanzverlust zu Wort?" (Klotz 1969, 19).
Der Roman als epische Großform bietet die Geräumigkeit zum Erfassen der Vielfalt des Stadtlebens. Es sind in ihm Einschnitte, Sprünge, Wiederholungen, Abschweifungen und eigenständige Episoden möglich, die die Erzählbarkeit der großen Stadt erst ausmachen. Außerdem verfügt der Roman über drei Darbietungsweisen, die er im Wechsel einsetzen kann, den Bericht, die Beschreibung und den Dialog, um das Massengebilde Stadt in seiner Vielsträngigkeit und Perspektivenfülle literarisch zu verarbeiten (vgl. Klotz 1969, 18 f.).
Klotz lehnt es ab, den Stadtroman als einen festumrissenen Typus zu begreifen und wendet sich gegen eine stoffbezogene Auffächerung der Gattung Roman. Für ihn ist bei der Auswahl entscheidend, inwieweit ein Roman auf den "Vorwurf Stadt" abzielt und perspektivisch und stilistisch davon geprägt ist.
Wenn wir diese Kriterien ebenfalls auf die Madridromane der nach dem Bürgerkrieg anwenden, werden wir feststellen, dass die Zahl der Romane, die die genannten Anforderungen voll erfüllen, nicht groß ist, und auch bei den hier besprochenen wird dieser Sachverhalt sehr genau zu prüfen sein. Demzufolge kann ein halbes Dutzend Romane doch repräsentativ sein.
Nach Klotz sind Roman und Stadt zwei ähnlich gelagerte Systeme, die als Ganzes und in ihren Teilen miteinander korrespondieren, was bedeutet, dass die Stadt ohne Substanzverlust in einen literarischen Status eingeht, und andererseits der Roman in der Stadt seine volle Kapazität ausschöpfen kann. Der Gegenstand Stadt erlaubt keine inhaltliche Kongruenz, so dass der Roman die Stadt nicht in ihrer Gesamtheit erfassen, sondern nur unterschiedliche Aspekte, die das Gesamtsystem repräsentieren, aufgreifen kann, gemäß dem Prinzip Pars pro toto (vgl. Klotz 1969, 438).
Die Erzählbarkeit von Stadt in der modernen Literatur und mehr noch in der postmodernen wird fraglich,
"wenn weder der Held des Romans noch sein Erzähler es schaffen, im Großstadtgebiet eine symbolische Ordnung herzustellen, die dem Erzählfluß des Romans Grenzen setzt, ihn reguliert und auf ein Bedeutungszentrum hinführt." (Scherpe 1988, 130).
In der Literatur der Postmoderne wird zunehmend: "eine raumgreifende Delokalisierung, Entgrenzung und Dekomposition der Großstadt als 'Zeichenstätte' zum beherrschenden Erzählprinzip." (Scherpe 1988, 130).
Auch sprachlich gesehen ist der Roman wegen seiner geschmeidigen Offenheit, die sich in der ungebundenen Prosasprache äußert, die Form, die am ehesten auf die verschiedenen Stillagen und Jargons eingehen kann, die sich in der sprachlichen Varietät der Großstadt finden lassen (vgl. Klotz 1969, 17 f.).
Historisch lässt sich die Entwicklung der Stadtliteratur ansatzweise bis ins Zeitalter des Barock zurückverfolgen, aber erst im 19. Jahrhundert, als das Bürgertum zum eigentlichen Macht- und Kulturträger in den Städten wird, ist es möglich, die Stadt in der Nahsicht zu verstehen. Die komplexe und geballte Wirklichkeitsordnung der Stadt konnte erst aus dem neu entwickelten Weltbild heraus verstanden werden, wie es sich nach der Aufklärung formte (vgl. Klotz 1969, 461 f.). Wir können beobachten, dass sich eine echte Affinität zwischen Stadt und Roman in den europäischen Nationalliteraturen erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts herauskristallisiert, indem einem totalen Bereich der prosaischen Wirklichkeit eine poetische Form gegeben wird. Die Freiheit des Autors ist nur durch die Grenzen des Gegenstandes eingeschränkt dessen Vielfalt er durch die Komposition des Werkes aus vielen selbständigen Einheiten gerecht zu werden versucht (vgl. Klotz 1969, 434 f.).
Bei der zeitlichen Determinierung des Erscheinens von Großstadtromanen in Spanien müssen wir nicht nur den Zustand der Städte und das Weltbild im Auge haben, sondern vor allem auch den Roman selbst. Nach dem "romanlosen 18. Jahrhundert" und dem Costumbrismo, der eine Hinwendung zur Provinzliteratur und den prosaischen Kurzformen brachte ("cuadros", "escenas"), gewann der Roman erst wieder im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge des Naturalismus und Realismus an Bedeutung.
1.3. Großstadtleben
Georg Simmel (1858-1918), ein deutscher Kulturphilosoph, beschäftigt sich in einem 1903 veröffentlichten Aufsatz eingehend mit den Grundlagen des Großstadtlebens. Er nennt "die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht", die psychologische Bedingung, die gerade die Großstadt schafft (Simmel 1984, 192). Pünktlichkeit, Berechenbarkeit und Exaktheit werden dem Bewohner durch das großstädtische Leben aufgezwungen und stehen in engem Zusammenhang mit der Geldwirtschaft, da hier der Kampf für den Nahrungserwerb nicht mit der Natur, sondern mit den Menschen stattfindet, und von ihnen der Gewinn gewährt wird (vgl. Simmel 1984, 201).
Der Typus Großstädter zeichnet sich durch seine Blasiertheit aus. "Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen Unterschiede der Dinge" (Simmel 1984, 196). Das Geld wird zum Nivellierer aller Dinge, da Bedeutung und Wert der Unterschiede als nichtig empfunden werden.
Die Reserviertheit mit einem Ton versteckter Aversion wird zur Form des Geisteswesens der Großstadt. Das Kleinstadtleben in früheren Zeiten (und in geringerem Umfang auch noch heute) legt dem Einzelnen Schranken der Bewegungen und Beziehungen nach außen auf, unter denen sich der moderne Großstadtmensch eingeengt fühlt. Die Großstädte als Orte des modernen Kosmopolitismus machen ihre Bewohner "frei im Gegensatz zu den Kleinlichkeiten und Präjudizierungen, die den Kleinstädter einengen" (Simmel 1984, 200). Die Großstadt besitzt eine funktionelle Größe, die über die physischen Grenzen hinaus ihrem Leben Gewicht gibt. Damit relativiert Simmel auch den Gegensatz zwischen Stadt und Land, der gerade in der spanischen Literatur bei den Naturalisten ein beliebter Erzählgegenstand war (z.B. bei Pereda).
Die Quantität der Wirklichkeitselemente, die auf den Bewohner oder Besucher der großen Stadt einstürmen, bedingt einen Orientierungsverlust. Das Wahrnehmungssystem kann die Vielzahl der neuen Dinge nicht unterbringen und zueinander in Beziehung setzen. Die Folge ist eine Sprengung des gewohnten Systems und die damit verbundene Desorientierung (vgl. Gotzmann 1990, 13 f.).
Das Leben in den Metropolen ist außerdem von der Schwierigkeit bestimmt, die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen, was mit der Kürze und Seltenheit der Begegnungen zwischen den einzelnen Menschen zusammenhängt und bewirkt, dass sich die Menschen möglichst charakteristisch zu geben versuchen (vgl. Simmel 1984, 202).
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Verhalten des Großstädters durch seine Verstandesmäßigkeit, seinen Zynismus, seine Blasiertheit und seine Reserviertheit, aber auch durch seine Rücksichtslosigkeit bis hin zur Käuflichkeit und skrupellosen Schlauheit bestimmt wird (vgl. Müller 1988, 23). Daher sind Prostitution und Korruption typische Erscheinungen des Stadtlebens als Folge der Indifferenz und Nivellierung durch die Geldwirtschaft; Simmel spricht in diesem Zusammenhang von der Trias Geld - Moderne - Großstadt (vgl. Müller 1988, 18).
Die Großstädte sind in bezug auf die Wandelbarkeit der Überzeugungen nicht nur Orte der Mode, sondern des Modischen, wobei hier unter Mode nicht die aktuelle Form der Kleidung, als vielmehr die soziale Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen, Gesten und Jargons zu verstehen ist (vgl. Müller 1988, 25).
Anschließend wird zu überprüfen sein, inwieweit diese von Simmel zu Beginn des Jahrhunderts aufgestellten Thesen auch für die Gesellschaft in Madrid nach dem Bürgerkrieg zutreffen. Die Frage ist, ob sich Simmels zu jener Zeit in Berlin gemachten Erfahrungen und Studien ohne weiteres auf eine andere Zeitspanne und einen anderen Kulturkreis übertragen lassen.
Volker Klotz konstatiert, dass die von Simmel beobachteten Verhaltensweisen der Stadtmenschen sich in den von ihm untersuchten Romanen größtenteils wiederfinden: die Flüchtigkeit und Indifferenz, die knappen und unverbindlichen Kontakte, die Ausbildung eines namenlosen und anonymen Kollektivs (vgl. Klotz 1969, 436 f.).
2. Madrid
2.1. Madrid in der Moderne
Für die Klassifizierung der behandelten Romane in die Subgattung Stadtroman ist die Erläuterung der historischen, städtebaulichen und demographischen Veränderungen in der spanischen Hauptstadt hilfreich. Der realistische Roman des 19. und 20. Jahrhunderts bildet immer ein Stück Wirklichkeit ab. Nur wenn man die tatsächlichen Gegebenheiten in Madrid kennt, kann man beurteilen, inwieweit die Autoren Großstadtrealität wiedergeben oder verfremden, Zugleich können wir etwas über ihre Motivation erfahren und eine Antwort auf die Frage finden, warum sich der Großstadtroman gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Spanien herausbildet, und für welches Leserpublikum er gedacht war.
In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Madrid eine Stadt von durchaus provinziellem Charakter. Sie ist schmutzig, und die Lebensbedingungen sind schlecht. Das Volk leidet unter der mangelhaften Versorgung mit Grundnahrungsmitteln (z.B. Brot, Milch, Fleisch), die teuer und von minderwertiger Qualität sind. Betrügereien waren in diesem Handelssektor an der Tagesordnung. Wenn man in Betracht zieht, dass die Löhne in Madrid weitaus niedriger lagen als in anderen europäischen Großstädten (vgl. Moral Ruiz 1974, 74), kann man sich eine Vorstellung machen von der Misere, in der sich die arme Bevölkerung befand.
Tagelöhner, Arbeitslose und Bettler prägen das Bild der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Notwendigkeit zur Bettelei ergibt sich aus der Tatsache, dass 1890 der Lohn für einen Arbeiter bei neun reales lag, eine dreiköpfige Familie aber mindestens zwölf reales benötigte, um überleben zu können, wobei die Ausgaben für Wohnung und Kleidung nicht mitgerechnet sind (vgl. Bahamonde Magro 1988, 175 f.).
Der industrielle Boom und die Umformung des alten Regimes in eine kapitalistische Gesellschaft läuten das Ende der traditionellen Armenkultur ein (Bettelei und karitative Einrichtungen), die nicht mehr ihre Aufgaben erfüllen konnten. Diese Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht einher mit der Ausbildung einer starken Arbeiterklasse (vgl. Elorza 1988, 99).
Im Stadtbild Madrids existieren zu Zeiten von Galdós und Baroja einige besondere Typen, die Eingang in die Literatur gefunden haben: Die Wasserträger versorgen die Haushalte mit Wasser aus den städtischen Brunnen, auch nachdem die Mehrzahl von ihnen über Wasserleitungen verfügt, da das Wasser aus den Aquädukten oft nicht trinkbar ist. Das Kanalisationssystem jener Zeit ist völlig unzureichend bzw. fehlt in vielen Stadtvierteln. Die Müllbeseitigung erfolgt durch die etwa 10.000 Lumpensammler, die jeglichen Hausmüll in den frühen Morgenstunden abholen, sortieren, verkaufen oder an ihre Haustiere verfüttern, die wiederum den Großstadtbewohnern als Nahrung angeboten werden.
Während die unteren Bevölkerungsschichten ein klägliches Dasein fristen, entstehen für das wohlhabende Bürgertum zusätzliche Möglichkeiten des Zeitvertreibs. Das Café wird in Madrid zum Symbol des modernen urbanen Lebens. Es ist der Ort der Kommunikation und des Informationsaustausches mittels des gesprochenen Wortes:
"El café tiene la virtud de ser abierto, tolerante, permitir a un tiempo compartir la lectura de la prensa con el intercambio de opiniones sobre lo leído y de plantear todas las cuestiones en una ola desordenada de cosas, gentes e ideas que se absorben por medio de la vista, el oído y la voz." (Moral Ruiz 1988, 113).
Erst im Laufe der Zeit wird diese Kommunikationsform von Zeitungen, Anschlägen und politischen Versammlungen abgelöst. Madrid wurde in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum des Pressewesens. So wurden 1888 164 Zeitungen in Madrid hergestellt, was ca. 43% der gesamten Zeitungsproduktion des Landes entspricht (vgl. Timoteo Alvarez 1988, 19). Die Zahl der Zeitungsausgaben und ihre Auflagenhöhe zeugen von einem hohen Interesse der gebildeten Bevölkerung an Politik, Kultur und Literatur.
Man kann davon ausgehen, dass die gesellschaftlichen Veränderungen im Madrid jener Zeit die Entstehung des Großstadtromans begünstigten. Die neue Mittelschicht, die bei Galdós eingehend porträtiert wird, besaß eine wichtige Funktion bei diesem Umgestaltungsprozess. Sie wird zum potentiellen Lesepublikum und gleichzeitig zum Erzählgegenstand der Romane. Madrid verändert sich in dieser Zeit von der Provinzstadt zur Metropole. Für diese Wandlung ist der Bau der Eisenbahn von großer Bedeutung, da der Standortnachteil Madrids in gewisser Weise wettgemacht wurde. So verkürzte sich die Fahrzeit von Madrid nach Paris durch die Fertigstellung der Strecke nach Irún von acht Tagen auf etwa 40 Stunden. Die Eisenbahn änderte grundsätzlich das Leben der Madrilenen, da Güter und Personen fortan erheblich billiger und schneller transportiert werden konnten. Es veränderten sich auch die Lebensgewohnheiten, da sich die Reisemöglichkeiten an die Küste und ins Ausland erheblich verbesserten. Für viele Madrilenen eröffnete sich zum ersten Male diese Chance, die meisten jedoch konnten sich diesen Luxus nicht erlauben.
Bis 1868 war Madrid immer noch von der 1625 errichteten Stadtmauer umgeben, die eine Ausdehnung der Siedlungsfläche verhinderte. Die Stadt besaß bereits über 300.000 Einwohner, die Ausdehnung betrug hingegen nur 777 ha, wovon 217 ha Grünflächen waren.[7]
Das entscheidende Datum für die räumliche Erweiterung ist das Jahr 1868, als die Stadtgrenzen auf 2025 ha erweitert wurden. Fortan gliederte sich das Stadtgebiet in drei Zonen: die innere, die Erweiterungszone und den Außenradius. Die Ausweitung der Stadt richtete sich in nördliche und nordöstliche Richtung, wo die neuen Stadtviertel Chamberi, Salamanca und Castellana entstanden.
Diese Wohngebiete des mittleren Bürgertums wurden nach dem Schachbrettmuster angelegt und von breiten Alleen durchquert. In den Außenbezirken entstanden wildwuchernde Vorstadtsiedlungen.
Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die bereits 540.000 Einwohner zählende Stadt zu einer Finanz- und Handelsmetropole. Es entstanden einige große öffentliche Gebäude internationalen Maßstabs (Banken, Hotels etc.).
Von 1917-1930 wurde die Gran Vía angelegt, die nördlich der Puerta del Sol als moderne und breite Avenida die Stadt durchquerte. Im Jahr 1928 entstand dort auch das damals höchste Gebäude der Stadt, in dem die Telefongesellschaft untergebracht wurde. Weitere Banken-, Versicherungs- und Verwaltungsgebäude und große Warenhäuser in dieser Zone vermittelten am ehesten den Eindruck einer kosmopolitischen Stadt.
Gegen Ende der 20er Jahre begann man in der Moncloa zum Manzanares hin die Universitätsstadt anzulegen. 1930 näherte sich die Einwohnerzahl Madrids der Millionengrenze. Zwei Jahre später wurde das erste Industriegebiet im Süden der Stadt fertiggestellt. Der erste große Industriezweig, der sich in Madrid niederließ, war der Flugzeugbau in Carabanchel. Später folgten chemische-, elektrotechnische- und Transportunternehmen. Noch zu Beginn der 30er Jahre wurden die Entwickungsperspektiven der Stadt von Fachleuten skeptisch eingeschätzt, da sie weder über Rohstoffe für die Industrie noch über ein urbanes Umfeld wie London oder Berlin verfügte.
Während des Bürgerkrieges war Madrid hart umkämpft, und ein Großteil der Stadt wurde zerstört. In den 40er Jahren schuf das autoritäre Franco-Regime die Bedingungen für den ökonomischen Boom, der sich in den 50er Jahren aufgrund großer Investitionen im industriellen Sektor vollzog. Trotzdem blieb Madrid eine Banken- und Dienstleistungsmetropole. 1975 gab es in der Provinz Madrid eine Million Beschäftigte im Tertiärsektor gegenüber 640.000 im Baugewerbe und in der Industrie.
Von 1948 bis 1954 vergrößerte sich die Fläche der Stadt durch die Eingemeindung von 13 Nachbarorten von 67 auf 607 km2. Die Industrieproduktion verzeichnete die höchsten Zuwächse des Landes.
Während Madrid seine Einwohnerzahl von Mitte der 40er Jahre bis Mitte der 70er Jahre von 1,1 auf über 3,25 Millionen verdreifachen konnte, wuchsen einige Dörfer in der Umgebung, die zu Satelliten- und Schlafstädten der in Madrid arbeitenden Bevölkerung wurden, in einem geradezu atemberaubenden Tempo: Getafe von 12.300 auf 126.000, Leganés von 5.900 auf 162.000 und Alcorcón von 800 auf 140.000 in den Jahren 1950-1980.[8]
Der heftige Industrialisierungsprozess, der sich in anderen europäischen Großstädten bereits im ausgehenden 19. bzw. zu Beginn des Jahrhunderts vollzogen hatte, setzte in Madrid erst nach dem Bürgerkrieg ein:
"A partir de la época de la posguerra, Madrid dejó de ser solo Villa y Corte y se convirtió en una metrópoli grande, moderna e industrial, aunque su función de capital y el desarollo del sector terciario, fueron y siguen siendo la fuerza motriz de la ciudad..." (Straszewicz 1982, 336).
Große multinationale Firmen wie Siemens, Philips, Osram, Telefunken oder Schering ließen sich in der spanischen Metropole nieder, vor allem in dem Industriegebiet zwischen Retiro, Mediodia und Arganzuela bis hin zum Tal des Manzanares. Das Anwachsen der Bevölkerung machte auch verstärkte Anstrengungen im Wohnungsbau notwendig. Von 1939-1960 wurden 285.000 neue Wohnungen fertiggestellt. Hierbei wurden ebenso wie bei der Konstruktion von Büro- und Geschäftshäusern schwere städtebauliche Sünden begangen. Die Zuwanderung von Spaniern aus allen Landesteilen brachte ein weiteres Problem mit sich, das nicht gelöst werden konnte, die Entstehung von Elendsquartieren an der Peripherie.
Der sich bereits im frühen 19. Jahrhundert herausbildende Gegensatz zwischen den reichen Wohngebieten des Bürgertums im Norden und Zentrum der Stadt und dem armen Süden hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten erheblich verstärkt. Nach neuesten Erhebungen gibt es in den südlichen Wohnbezirken der marginalisierten Bevölkerungsgruppen doppelt so viele Analphabeten und das Durchschnittseinkommen beträgt nur ein Fünftel von dem in den nördlichen Stadtteilen. Ungefähr 160.000 Menschen im Madrider Raum sind sehr arm, d.h. sie verfügen über ein Pro-Kopf-Einkommen von unter 140 DM. Viele von ihnen hausen in Wellblechhütten ("chabolas"), und nicht wenige der 20.000 Bettler schlafen auf der Straße (vgl. Tauber 1990, 60 ff.). Die Wohnungs- und Bodenspekulation trieb die Preise für Wohnraum in astronomische Höhen. So stiegen die Wohnungsmieten zwischen 1976 und 1988 um 718 % (vgl. MERIAN Madrid 1990, 8) .
Während der Francozeit konnte sich das kulturelle Leben nicht frei entfalten, da Zensur und Repression dies verhinderten. In Cafes, Tavernen und in den bekannten Tertulias war es jedoch regimekritischen Intellektuellen und Künstlern möglich sich zu versammeln und zu diskutieren. Es wird immer wieder behauptet, dass sich in Madrid eine besondere Cafekultur entwickelt habe, deren bekanntestes Beispiel das über 100 Jahre alte Cafe Gijón ist.
Das geistige Klima der frühen Franco-Zeit wird in Essays und Erinnerungen bekannter Schriftsteller gut erfasst. Die bedrückende Situation jener Jahre beschreiben z.B. Juan Benet in Otoño en Madrid hacia 1950 und Francisco Umbral in Amar en Madrid, der das Elend in den "chabolas" in seiner sarkastischen Art beklagt:
"En Tiempo de silencio, allá por los anos cincuenta, Luis Martín-Santos denunciaba el chabolismo madrileno. El libro ya está en la historia de nuestras letras. Pero el problema no ha cambiado mucho, lo que dice bien de la inutilidad de nuestra literatura. El sol. Las basuras. El olor. Las chabolas se agazapan entre la vía y las traseras de una fabriea. Hay otra fuente, donde dos mujeres llenan de agua sus calderos. Muy cerca crecen los grandes edificios (Umbral 1977, 102).
Im Gegensatz zu den in den Armenvierteln immer noch herrschenden Verhältnissen steht die Tatsache, dass Madrid in den letzten Jahren zu einer Stadt mit einem ausgeprägten Kultur- und Nachtleben geworden ist. Das Ambiente veränderte sich nach 1975 rasch, und die Stadt konnte endlich ihr provinzielles Image ablegen. Die inzwischen weltbekannte Movida hielt Ende der 70er Jahre ihren Einzug in Madrid.
"Die Movida war der Begriff für den nächtlichen Wirbel, den Künstler, Musiker und deren Gefolge in Madrid veranstalteten. Madrid war die Leidenschaft dieser Bewegung, denn die Hauptstadt erwachte nach über 40 Jahren öder Verwaltungsatmosphäre endlich wieder zum Leben." (Rhode 1988, S. 72) .
Im Zeitalter der parlamentarischen Monarchie tauchten neben der Bodenspekulation neue Probleme auf, die in dieser Form unter der Franco-Diktatur nicht bekannt waren oder wegen der Zensur nicht bekannt gemacht wurden. Zunächst ist das Problem des Verkehrs und der Umweltverschmutzung zu nennen. Auf Madrids Straßen fahren täglich 1,4 Millionen Fahrzeuge. Der Verkehr kommt nicht nur in der Innenstadt regelmäßig zum Erliegen. Jeder der 3,5 Millionen Madrilenen produziert pro Jahr 823kg Müll, die beseitigt werden müssen.[9] Neben dem Mangel an ökologischer Lebensqualität sorgte die Steigerung des Drogenkonsums und der Kriminalität für ständig neue Schlagzeilen. Vor allem das um die Plaza del Dos de Mayo gelegene Viertel Malasaña ist ein Dreh- und Angelpunkt des Nachtlebens und des Drogenhandels. Als eine der Ursachen für die verstärkte Nachfrage nach Rauschgift wird die enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Randgebieten Madrids angesehen, wo fast jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit ist (vgl. Tauber 1990, 63).
Licht und Schatten liegen in Madrid dicht beieinander. Während die Banken in den 80er Jahren die größten Gewinne verbuchen konnten, wuchs die Zahl der Beschäftigungslosen weiter an, und die Mehrzahl der davon Betroffenen kann sich nur durch Schwarzarbeit ihr Auskommen sichern. So hat sich im Schatten der Unternehmergewinne und hoher Wachstumsraten eine neue Wirtschaft entwickelt, die "economía sumergida", in der sich zahlreiche Arbeitskräfte zu schlechten Bedingungen verkaufen müssen. Der Drogenkonsum treibt nicht wenige Jugendliche in Kriminalität. und Prostitution.
Wie zuvor dargestellt, verlief die Entwicklung Madrids zur Metropole, verglichen mit anderen europäischen Großstädten atypisch, da der Ausbau der Infrastruktur spät einsetzte, und die industrielle Revolution nicht die treibende Kraft für die Veränderungen war.
Es bleibt zu prüfen, ob sich Madrid als literarisches Sujet von anderen Großstadtromanen unterscheidet. Für diese Prüfung ist es unerlässlich, einige bedeutende Autoren zu berücksichtigen, die auf die Großstadtproblematik eingehen und großen Einfluss auf den modernen spanischen Roman ausgeübt haben.
2.2. Madrid in der Literatur
Madrid als Gegenstand in der erzählenden Literatur lässt sich bis auf den Schelmenroman und den höfischen Roman zurückverfolgen. Die Stadt und ihre Bewohner sind ein wichtiges Motiv u.a. in Quevedos El Buscón (1626) und in Mateo Alemans Guzmán de Alfarache (1599), um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen. Vor allem in El diablo cojuelo von Vélez de Guevara (1641) wird auf die Stadtthematik eingegangen.[10] Der pikareske Roman kann somit als Urahne des Großstadtromans in Spanien gelten, da er erstmals sozialkritische Akzente setzt. In unserem Zusammenhang ist allerdings nur die Entwicklung der Madridliteratur in den letzten 170 Jahren von Bedeutung.
2.2.1. Mesonero Romanos und das Madrid des Costumbrismo
Ramón Mesonero Romanos (1803-1883) verhalf mit seinem Hauptwerk, dem Panorama matritense (1832-1836) (44 Artikel) und den Escenas matritenses (1836-1842) (29 Artikel), dem Costumbrismo als neuer Gattung der Kurzprosa mit zum Durchbruch. Mit seinen Artikeln will er gegen die verfälschte und romantisierende Beschreibung der spanischen Verhältnisse durch ausländische Reiseschriftsteller angehen. Sein Ziel ist es, das authentische Leben in der spanischen Hauptstadt zu beschreiben ("lo castizo"), wofür er sich dem Zwang zur Objektivität unterwirft, die eine unparteiliche Schilderung ermöglicht (vgl. Laumeyer 1986, 123). Er spart in seinen Artikeln jede eigene Ansicht aus und versucht eine Momentaufnahme anzufertigen ("pintar un cuadro de costumbres"), in der das typisch Spanische herausgestellt wird; dabei kann es sich sowohl um Schauplätze in der Stadt als auch um Figuren und Themen handeln. Mesonero Romanos nimmt die Position eines unbeteiligten Beobachters ein, der das gesellschaftliche Leben in den Straßen und Vierteln der Stadt beobachtet (vgl. Laumeyer 1986, 125). Diese Haltung ist symptomatisch für die Costumbristen, die dazu neigen, in ihren Sittengemälden dadurch ein die Realität verzerrendes Bild zu entwerfen, dass sie das Malerische und Traditionelle hervorheben, aber Elend und Armut bewusst aussparen.
Die Topographie der Stadt und die vielfältigen kulturellen Einflüsse in ihr spielen bei Mesonero Romanos ebenso wie der Stadt-Land-Gegensatz eine wichtige Rolle. Somit haben wir bereits im Costumbrismo einige Elemente gefunden, die Merkmale der Großstadtliteratur sind.
Mesonero Romanos nimmt in seinen "cuadros de costumbres" eine Betrachtung der Gesellschaft Madrids vor, bei der die Unterscheidung zwischen dem reichen Norden und den ärmlichen Wohngebieten im Süden der Stadt bedeutend ist. In den letzteren spielt sich das Leben ungezwungener ab als in den noblen Wohnbezirken des Bürgertums.
Das gesellschaftliche Leben des Bürgertums findet auf den Tertulias, in Cafes und Theatern statt. Die reichen Madrilenen haben das Problem, wie sie ihre Freizeit verbringen sollen. Das Reisen ins Ausland kommt in Mode, und die Madrider Gesellschaft erkennt ihre Rückständigkeit im Vergleich zu anderen europäischen Völkern (vgl. Laumeyer 1986, 144).
Mesonero Romanos bemerkt eine negative Wandlung in der Bevölkerung: Aufrichtigkeit und Ehrgefühl gelten nichts mehr. Statt dessen ist das Verhalten von Materialismus und Vergnügungssucht bestimmt. Madrid wird zu einem Ort des Strebens nach Macht und Ämtern, in dem sich eine Mittelschicht von Emporkömmlingen formiert, die zum Teil aus anderen Regionen des Landes als Glücksritter in die Hauptstadt gekommen sind.
"Das andere Madrid", das der Prostitution, der Kriminalität, der Obdachlosenasyle und Armenhäuser erscheint als notwendiger pittoresker Gegenpart zum hochherrschaftlichen Norden und Zentrum der Stadt (vgl. Laumeyer 1986, 197 f.).
Mesonero Romanos gibt in seinen "escenas" einen Überblick über die Eigentümlichkeiten Madrids und seiner Bewohner, indem er auf soziale, städtebauliche und kulturelle Veränderungen eingeht. Ausgehend von der detaillierten Schilderung eines Einzelfalles kommt er durch das Zusammensetzen der mosaikartigen Szenen zu einem Gesamtbild (vgl. Laumeyer 1986, 204), das die einschneidenden Veränderungen der angestammten Lebensbedingungen jener Zeit erfasst.
Die Escenas matritenses sind ein Zeugnis der Konfrontation mit der anbrechenden Moderne. "Nie zuvor sah sich das Individuum so vielen Faktoren ausgesetzt, die seine
alltägliche Umwelt, zu bestimmen schienen" (Laumeyer 1986, 207). Mesonero Romanos versucht mit humorvollen Schilderungen oder durch Satire seiner Missbilligung für das Tempo, mit dem die Neuerungen auf ihn und seine Umgebung einstürmen, Ausdruck zu verleihen.
Andererseits engagiert er sich auch als aktiver Städteplaner, der das Problem der Hygiene und der Enge im Zusammenleben der Bewohner Madrids erkennt. In seinem Proyecto de mejoras, das er in seiner Eigenschaft als Stadtrat verfasst, zeigt er einige Lösungsvorschläge zur Verbesserung der städtebaulichen Situation auf. Dabei greift er auf seine Beobachtungen zurück, die er für die Anfertigung der literarischen Arbeiten machte und schafft somit eine Verknüpfung zwischen costumbristischer Literatur und Stadtentwicklungsplanung.
Wir können feststellen, dass sich gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur und im Stadtbild vollziehen. Mesonero Romanos wählt bewusst die Hauptstadt für seine costumbristischen Bilder und Szenen, da der gebürtige Madrilene das dortige Milieu am besten kennt, und sich auch die Gegensätze zwischen dem "alten" und dem "neuen Spanien" schärfer artikulieren als in der Provinz, wo das traditionelle Element noch lange Zeit vorherrschend bleibt, während die Metropole bereits eine Hinwendung zur Moderne vollzieht.
Das literarische Gattungssystem zu Zeiten von Mesonero Romanos bot keine Möglichkeit mehr, diese neuen Inhalte zu beschreiben. Der costumbristische Artikel als besondere Form der narrativen Gattung ist jedoch ein wichtiger Vorläufer des späteren Großstadtromans. Pérez Galdós gilt zurecht als derjenige Autor, der dieses Genre in der spanischen Literatur verankert hat.
2.2.2. Pérez Galdós und der Realismus
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den 70er und 80er Jahren, entwickelte sich der realistische Roman in Spanien zur dominierenden Gattung.
Galdós siedelt mehrere seiner erfolgreichen Romane im Madrider Milieu an: Rosalia (1872), La de Bringas (1884), Fortunata y Jacinta (1887) und Misericordia (1897). Am Beispiel des umfangreichsten und bekanntesten der genannten Romane, Fortunata y Jacinta sollen kurz einige Charakteristiken dieses Typus von Madridroman erläutert werden .
Die Handlung spielt im Milieu der Krämer und Händler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt die Verbindung der alten Aristokratie mit dem neuen Handelsbürgertum. Er macht Rückgriffe auf die Escenas matritenses, wenn er z.B. die gesellschaftliche Gliederung und das rasche Anwachsen der Stadt darstellt. Ähnlich wie Mesonero Romanos geht er von einer Nord-Süd-Teilung der Stadt in reiche und arme Wohngegenden aus. Auch der Gegensatz zwischen Metropole und Provinz und die damit verbundenen Spannungen werden bei Galdós in Anknüpfung an den Costumbrismo thematisiert.
Madrid ist die Stadt der Intrigen und der Börsenspekulationen, in der die begüterten Bewohner ihr Geld für Luxusgüter und Vergnügungen ausgeben. Oftmals müssen sie auch einen sozialen Abstieg hinnehmen. Die neu entstandene Mittelschicht bricht die bisherigen Klassenstrukturen auf und wird zum Protagonisten der Romane von Galdós. Er zeigt dem Leser die großen Unterschiede im Einkommen und in der Lebensweise in einer vom Geld dominierten Gesellschaft.
Die Topographie der Stadt spielt in seinem Hauptwerk eine besondere Rolle. Farris Anderson zählt in Fortunata y Jacinta nicht weniger als 710 Erwähnungen von Madrider Straßen, Plätzen und Stadtvierteln. 145 Szenen des Romans spielen an 41 lokalisierbaren Orten der Stadt (vgl. Anderson 1985, 9). Galdós wird als erster Stadtromanschriftsteller Spaniens genannt, der Madrid als Quelle und Objekt der literarischen Organisation versteht: "...como matriz sobre la que puede montar su novela y también como prolífica colmena humana que debe analizarse y organizarse desde la novela." (Anderson 1985, 5).
Der städtische Raum ist eine Metapher für die menschlichen Erfahrungen im Roman, meint Anderson, der die Bedeutung der Bewegungen im Raum der Großstadt für den Ablauf des Romangeschehens untersucht.
Zweifelsohne kann man den realistischen Roman von Benito Pérez Galdós als eine entscheidende Weiterentwicklung der costumbristischen Szenen in Richtung auf die moderne Großstadtliteratur ansehen, da hier erstmals die Problematik des Stadtlebens in ein umgangreiches Erzählwerk eingebettet ist,
Galdós verarbeitet die vielfältigen Eindrücke, die auf den Stadtbewohner jener Zeit eindringen, wobei die eigentliche Romanhandlung in den Hintergrund tritt, und der Diskurs der Stadterzählung im Vordergrund steht. Dem Leser wird im Text eine Vorstellung vom Lärm der modernen Metropole vermittelt, von der erhöhten Sinnesreizung, der die Bewohner ausgesetzt sind (vgl. Kap. 1). Während die "escenas de costumbres" immer nur einen kleinen Ausschnitt, eine Momentaufnahme an einem bestimmten Ort waren, können wir bei Galdós an verschiedenen Ereignissen an verschiedenen Orten teilhaben. Der Erzähler führt uns durch Madrid und verwendet dabei verschiedene narrative Techniken wie innere Monologe, Rückblenden, Träume.
Außer in dem kurzen Kapitel, das die Hochzeitsreise von Jacinta und Jacinto beschreibt, ist Madrid ständig präsent als Handlungsort. Es ist jedoch zu unterscheiden, ob es sich um tatsächliche Handlungsorte oder um bloße Anspielungen und Erwähnungen topographischer Art handelt.
Es gelingt Pérez Galdós, die urbane Geographie mit dem Privatleben seiner Romanfiguren zu verbinden. Seine große Fähigkeit liegt darin, dass er das Einfangen des Madrider Ambientes in einer Beschreibung von Individuum und Kollektiv vollzieht (vgl. Ribbans 1988, 125).
Galdós kam 1862 von den Kanarischen Inseln nach Madrid, in einer Umbruchphase in Gesellschaft und Politik. Er stellt im Roman die Veränderungen in der Mode, die Einführung des Papiergeldes, Umstellungen im Bereich der Hygiene und vor allem das Emporstreben der Händler- und Kaufmannsschicht dar. Der Autor erweist sich nicht nur als genauer Kenner der Stadt, sondern auch als deren Liebhaber (vgl. Kottan 1971, 552). Im Gegensatz zu Baroja ist das Bild Madrids in Romanen von Galdós von Sympathie geprägt. Er sucht in den Personen, Bräuchen und Institutionen den Charakterzug der Güte und der Regeneration (vgl. Kottan 1971, 557).
2.2.3. Pío Baroja und der Roman um die Jahrhundertwende
Obwohl Pío Baroja in seiner Trilogie La lucha por la vida eine ähnliche Realität beschreibt wie Galdós, ist der auf den Leser ausgeübte Effekt ein anderer, was auf die Distanz des Autors zum Erzählgegenstand zurückzuführen ist. Baroja sucht die Misere der Madrider Vorstädte am Manzanares. Während Galdós ein optimistischer Republikaner war, hatte Baroja eine pessimistische Einstellung (vgl. Kottan 1971, 562f.).
Barojas Schreibweise ähnelt schon der "novela social", und man würde sein Werk heute als "litterature engagée" bezeichnen. Er reflektiert die ganze Bandbreite der ideologischen und sozialen Konflikte seiner Zeit und erzählt auch über ein weiteres Stadtgebiet und sein Umfeld. Er verzichtet dabei auf detaillierte Beschreibungen und eine psychologisierende Vertiefung der Hauptpersonen, wie dies bei Galdós zu finden ist, und bemüht sich eher um einen Realismus mit filmischer Objektivität.
Baroja führt den Leser zu den "chabolas" der Außenbezirke Madrids, wo es keine medizinische Betreuung und Hygienevorschriften gibt. Der moralische Verfall geht mit dem physischen einher. Die Bewohner der Wellblechhütten schlafen auf dem Fußboden, und es fehlt an Nahrungsmitteln. Diese Bedingungen sind der Nährboden für Prostitution, Zuhälterei, Alkoholismus, Bettelei und Gaunerei. Die Mädchen beginnen oft schon im Alter von 10-13 Jahren sich zu verkaufen. Die Jungen gründen Banden und stehlen unter Anleitung eines "golfo", der dafür einen Teil der Beute erhält. Der "golfo" hat in gewisser Weise die Funktion des Schelmen im pikaresken Roman des Siglo de Oro übernommen (vgl. Kottan 1971, 570).
Die Stadt Madrid erscheint in der Ferne als Gegensatz zu den Elendsquartieren am Stadtrand. Der Leser wird wenig mit der Stadtlandschaft des "alten Madrid" vertraut gemacht, wo das Bürgertum residiert. Die Stadtbevölkerung und das Subproletariat der Außenbezirke treffen auf den Volksfesten oder beim Stierkampf aufeinander.
Die erschütterndste Tatsache, die in den Vierteln der Unterschicht festgestellt wird, ist die Willenlosigkeit, die Ergebenheit dieser Menschen in ihr Schicksal. Sie protestieren nicht und kämpfen nicht gegen ihre elende Situation an.
Das Madrid Barojas ist grausam, die Gesellschaft ist unmoralisch, da sie sich aus grausamen und unmoralischen Individuen zusammensetzt. Die Zivilisation unternimmt keinerlei Anstrengungen, um die Not der armen Leute zu lindern. Die Ruhe und Schönheit der Natur werden mit der Unbarmherzigkeit und Grausamkeit der menschlichen Existenz kontrastiert. Barojas Werk ist insofern eine Kritik an der modernen Stadt, als er ihre sozialen Strukturen angreift und dem Leser das Scheitern der Stadtgesellschaft gegenüber der Gewalt des Einzelnen vor Augen führt (vgl. Kottan 1971, 575 ff.)
In La busca geht Baroja näher auf die Bettler ein, die durch ihre ständige Präsenz im Zentrum der Stadt auch die gut situierten Bürger an die Missstände am Stadtrand erinnern und so der Anlass für öffentliches Ärgernis sind. Wie weit sich Baroja in seiner Trilogie den tatsächlichen Lebensbedingungen im Madrid jener Zeit annähert, beweist eine Gegenüberstellung von Passagen aus Barojas Werk mit zeitgenössischen Zeitungsartikeln, die sich auf Armut, Elend, Bettelei, Kriminalität und mildtätige Einrichtungen beziehen.[11]
Ein großes Problem stellt die Landflucht dar, die die Menschen aus ihren Dörfern in die Armensiedlungen der Hauptstadt treibt, wo sie aber weder Arbeit noch Nahrung oder eine zumutbare Behausung finden. Wenn sie nicht verhungern wollen, können sie nur zwischen Bettelei, Gaunerei und Prostitution wählen und ihr Leben "en la busca" verbringen.
Die Gruppe der lasterhaften und korrumpierten Gestalten, die erst bei Einbruch der Dunkelheit in Erscheinung treten, wird in Mala hierha einer näheren Betrachtung unterzogen. Verschärfend kommt hinzu, dass das Verwaltungssystem vom Polizisten bis zum Minister marode ist, und gewissenlose Geschäftsleute mit betrügerischen Machenschaften die Not und Ahnungslosigkeit der Bevölkerung ausnutzen. Mala hierba gibt einen tiefen Einblick in die Welt des Glücksspiels, erzählt von der Problematik der Arbeitssuche und den unwürdigen Arbeitsbedingungen am Beispiel der Druckereien.
Gemäß dem linearen Aufbau von La lucha por la vida wird im letzten Buch der Trilogie, Aurora roja, die Konsequenz der Not und Ausgrenzung des Madrider Subproletariats gezeigt: der Weg in den Anarchismus. Baroja wählt die Anarchisten aus, um den Kampf der Arbeiter als Thema literarisch zu verarbeiten, weil er sie als die größeren Idealisten und als den Arbeitern am nächsten stehend sieht (vgl. Puértolas Villanueva 1971, 135). Die Anarchisten können sich nicht in demselben Umfang Gehör verschaffen wie in Barcelona und anderen Regionen des Landes. In Madrid bleibt der Sozialismus die unter der Arbeiterschaft am meisten verbreitet politische Anschauung.
Pío Baroja stellt seine negative Vision des Großstadtlebens dar. Hierin unterscheidet er sich von Galdós und Mesonero Romanos, die immer wieder die pittoresken Züge Madrids in den Mittelpunkt des Erzählens rücken und ihre Liebe zur Stadt zum Ausdruck bringen.
Baroja erweckt beim Leser Abscheu und Entrüstung über die in der spanischen Hauptstadt herrschenden Zustände. An die Stelle von träumerischen Spaziergängen durch das historische Madrid ist der Kampf ums Überleben getreten, den die verelendeten Bevölkerungsschichten führen. Das schnelle Anwachsen der Stadtbevölkerung durch die industrielle Revolution bedingt die Bildung neuer Armenviertel, die zum großen Teil nur aus Wellblech bestehen.
2.2.4. Ramón Gómez de la Serna und das modernistische Madrid
Ramón Gómez de la Serna wurde 1888 in Madrid geboren und verbrachte seine Kindheit in der spanischen Hauptstadt. Seine Kindheitserinnerungen sind eng verbunden mit den Straßen, Plätzen und Gebäuden in Madrid, welche nicht nur deutliche Spuren in seinem literarischen Werk hinterließen sondern auch von zentraler Bedeutung für seinen Werdegang als Schriftsteller sind (vgl. Mcculloch 2007, 1). Er wuchs in einer privilegierten Familie der städtischen Bourgeoisie auf und begann seine literarische Laufbahn im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, als sich Spanien nach dem Verlust der letzten Kolonien im Jahre 1898 immer noch in einer Phase geistiger, kultureller und politischer Dekadenz befand. Er leitet de facto von 1908 bis 1912 die Zeitschrift Prometeo, deren offizieller Herausgeber sein Vater ist. In dieser Publikation erscheint auch Marinettis erstes futuristisches Manifest auf Spanisch (1909) (vgl. Friedrich 2007: 37 u. 99).
Gómez de la Serna ist der erste modernistische Großstadtautor Madrids in einer Zeit, als Sexualität und Religion die Themen waren die das städtische Bürgertum am schnellsten aufbrachten. Er überzieht den Klerus mit verletzendem Hohn in einem Antiklerikalismus, der das Bürgertum mit blasmephischen Äußerungen schockiert (vgl. Daus 1971, 40).
Don Ramón hatte vermutlich Kenntnis vom Expressionismus in Deutschland und war sicherlich auch von Dadaismus in Zentraleuropa beeinflusst, was sich zumindest aus verschiedenen Referenzen vermuten lässt. Seine Rebellion gegen das Bürgertum durch eine abschreckende Literatur ist somit in gewisser Weise eine Parallelbewegung zur Literatur des Abjekten, wie sie von den jungen Expressionisten in Deutschland fast zeitgleich praktiziert wurde
El rastro ( 1914) ist sein erstes Werk, das der Madrid-Literatur zuzurechnen ist und stellt gleichzeitig seinen Durchbruch als Schriftsteller dar. Der berühmte Flohmarkt, der jeden Sonntag auf der Ribera de los Curtidores und ihren Seitenstraßen stattfindet, wo eine große Menschenmasse sich auf engem Raum drängelt, um alle erdenklichen gebrauchten und neuen Sachen zu erstehen oder nur, um auf dieser Straße auf- und abzugehen und zu beobachten. El Rastro ist ein kein symbolischer Ort, historisches Monument oder eine touristische Attraktion Madrids im engeren Sinne, die ein Fremdenführer erklären könnte oder wollte, sondern es handelt sich vielmehr um einen Ort mit einer besonderen Ausstrahlung:
El Rastro, en cambio, sí es como una gran playa a la que van a parar los restos de todos los naufragios y sí es un depósito vastísimo de objetos que nos invitan a sumergirnos en ellos. 'El Rastro', por su parte, no es un libro informativo, ni sentimental, ni escrito al dictado de un deber, ni ordenado, ni iconoclasta, ni retrospectivo (al revés, es puro presente y una gran abertura al futuro)[12]
[...]
[1] Lacarta (1986) geht von einem sehr "madridophilen" Standpunkt aus und fasst den
Begriff Großstadtliteratur allzu weit. Daher ist seine Arbeit hier nur bedingt hilfreich.
[2] Ein Beispiel hierfür ist die Studie von Anderson (1985), der den rein topographischen
Aspekt in Fortunata y Jacinta untersucht und dabei außer acht lässt, dass auch andere
Faktoren für den Großstadtroman entscheidend sein können
[3] Klotz (1969) geht auf ein Dutzend bedeutender Werke aus fünf Nationalliteraturen in
drei Jahrhunderten ein, die Großstadt in der für ihre Zeit typischen Weise lesbar machen.
[4] Dieser Roman ist in enger Anlehnung an Vélez de Guevaras' El diablo cojuelo (1641) entstanden, Lesage nennt Madrid, meint aber das Paris des 18. Jahrhunderts in seinen Schilderungen.
[5] Gotzmann (1990, 17) unterscheidet "Großstadt als ein offenes Raum-Zeit-Gefüge temporärer Totalitäten" (wie im Ulysses von Joyce) oder ein in Raum und Zeit determiniertes,
"geschlossenes großstädtisches Bezugssystem" (wie in Manhattan Transfer.)
[6] Einige Beispiele hierfür sind:
Eduardo Mendoza: La verdad sobre el caso Savolta (1973).
Eduardo Mendonza: La ciudad de los prodigios (1986).
M. Vázquez Montalban: Los mares del sur (1979).
Juan Marsé: Si te dicen que caí ( 1971).
Carlos Ruiz Zafón: La sombra del viento (2001)
[7] Straszewicz (1982, 323 ff.)geht von einem jährlichen Wachstum von ca. 5000 Menschen aus.
[8] Vgl. hierzu die Angaben von Straszewicz (1982, 334); Teran (1983, 157 ff.) und im Anuario EL PAÍS 1987
[9] Vgl. die Angaben im dtv MERIAN Reiseführer Madrid,, München 1990, S. 58. Demzufolge sind in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts 170.000 Bewohner aus den 18 Madrider Verwaltungsbezirken abgewandert, nicht zuletzt wegen der steigenden Wohn- und Umweltproblemen.
[10] vgl. zu den ersten Madriddarstellungen in frühen literarischen Texten Briesemeister 1998.
[11] Vgl. hierzu den detaillierten Vergleich von Moral Ruiz (1974), Puértolas Villanueva (1971).
[12] Luis López Molina, in der Einleitung der Ausgabe von El Rastro bei Espasa Calpe,(Madrid, colección Austral, 1998).
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