Das originäre Forschungsgebiet der Kriminologie ist die individuelle Kriminalität, gekennzeichnet durch das abweichende Verhalten einzelner Personen (Devianz). Indes werden die schlimmsten Verbrechen in den allermeisten Fällen nicht von abweichenden Einzelkämpfern begangen, sondern von Menschen, die in Kollektiven tätig sind und in diesen Kollektiven durchaus konform handeln. Das offenkundigste Beispiel hierfür dürfte der Nationalsozialismus sein. Gleichwohl wird die kollektive Kriminalität in der Kriminologie bislang nur stiefmütterlich behandelt. Diesem Missstand hatHerbert Jägerentgegengewirkt, der für die kollektive Verbrechensdimension den Begriff der „Makrokriminalität“ eingeführt hat. Darunter versteht er beispielsweise Kriegsverbrechen, Völkermord oder Staatsterrorismus, gemeint sind also die „Großformen des Verbrechens“ mit regelmäßig verheerendem Ausmaß. Gemeinsames Merkmal aller makrokriminellen Erscheinungen ist in der Terminologie Jägers aber nicht etwa die außerordentliche Schadensdimension eines Verbrechens, sondern die Größenordnung des Täterkollektivs. Mit „Makrokriminalität“ habe man es dann zu tun, „wenn sich die kollektiven Taten als Teilakte gesamtgesellschaftlicher Konflikte und Prozesse darstellen, Staat und Gesellschaft also durch ihre auslösende Bedeutung unmittelbar in die kriminellen Ereignisse involviert sind“6. Entscheidend ist also die Abhängigkeit der individuellen Handlung von den Geschehnissen der Makroebene, etwa von „politischen Ausnahmebedingungen“7.
Hier sollen nun am konkreten Beispiel des Dritten Reichs insbesondere zwei Phänomene näher untersucht werden, die dieser Makroebene zuzuordnen sind und als das Verbrechen begünstigende makrokriminelle Faktoren in Betracht kommen: einerseits die Sprache in der nationalsozialistischen Gesellschaft (III.) und andererseits die Gesetzgebung im nationalsozialistischen Staat (IV).
Gliederung
I. Einleitung: Der Begriff der „Makrokriminalität“
II. Sprache und Gesetze als Form der mittelbaren Gewalt
III. Gewalt durch Sprache (Propaganda)
1. Antisemitische Tendenzen vor der Machtergreifung
2. Gewalt durch Sprache im Nationalsozialismus: Propaganda
3. Beispiel: die polnischsprachige Propagandapresse im Generalgouvernement der Jahre 1939-1945 („gadzinówki“)
4. Wirkungen der Propaganda
IV. Gewalt durch Gesetze
1. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“
2. Die „Heimtückeverordnung“ und das „Heimtückegesetz“
3. Die „Nürnberger Rassegesetze“
a. Das Reichsbürgergesetz
b. Das „Blutschutzgesetz“
4. Auswirkungen der Gesetze
V. Ergebnis und Schluss
I. Einleitung: Der Begriff der „Makrokriminalität“
Das originäre Forschungsgebiet der Kriminologie ist die individuelle Kriminalität, gekennzeichnet durch das abweichende Verhalten einzelner Personen (Devianz)[1]. Indes werden die schlimmsten Verbrechen in den allermeisten Fällen nicht von abweichenden Einzelkämpfern begangen, sondern von Menschen, die in Kollektiven tätig sind und in diesen Kollektiven durchaus konform handeln[2]. Das offenkundigste Beispiel hierfür dürfte der Nationalsozialismus sein. Gleichwohl wird die kollektive Kriminalität in der Kriminologie bislang nur stiefmütterlich behandelt. Diesem Missstand hat Herbert Jäger entgegengewirkt, der für die kollektive Verbrechensdimension den Begriff der „Makrokriminalität“ eingeführt hat[3].
Darunter versteht er beispielsweise Kriegsverbrechen, Völkermord oder Staatsterrorismus[4], gemeint sind also die „Großformen des Verbrechens“[5] mit regelmäßig verheerendem Ausmaß. Gemeinsames Merkmal aller makrokriminellen Erscheinungen ist in der Terminologie Jägers aber nicht etwa die außerordentliche Schadensdimension eines Verbrechens, sondern die Größenordnung des Täterkollektivs. Mit „Makrokriminalität“ habe man es dann zu tun, „wenn sich die kollektiven Taten als Teilakte gesamtgesellschaftlicher Konflikte und Prozesse darstellen, Staat und Gesellschaft also durch ihre auslösende Bedeutung unmittelbar in die kriminellen Ereignisse involviert sind“[6]. Entscheidend ist also die Abhängigkeit der individuellen Handlung von den Geschehnissen der Makroebene, etwa von „politischen Ausnahmebedingungen“[7].
Hier sollen nun am konkreten Beispiel des Dritten Reichs insbesondere zwei Phänomene näher untersucht werden, die dieser Makroebene zuzuordnen sind und als das Verbrechen begünstigende makrokriminelle Faktoren in Betracht kommen: einerseits die Sprache in der nationalsozialistischen Gesellschaft (III.) und andererseits die Gesetzgebung im nationalsozialistischen Staat (IV).
II. Sprache und Gesetze als Form der mittelbaren Gewalt
Vorab ist aber noch zu bemerken, dass allein durch Sprache und Gesetze der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung nicht erklärt werden kann. „Verantwortlich sind [am Ende] immer nur Menschen“[8], die die konkreten Tötungshandlungen und Gewalttätigkeiten ausführen, die in Sprache und Gesetz allenfalls abstrakt vorherbestimmt waren.
Auch erscheint eine Subsumtion der rein verbalen Attacke und des Erlasses diskriminierender Gesetze unter den juristischen Gewaltbegriff von vornherein ausgeschlossen. Jener ist nämlich gerade durch die Körperlichkeit der Gewalteinwirkung gekennzeichnet. Ein nur verbales Verhalten des Täters kann nach einhelliger Auffassung keine Gewalt im juristischen Sinne darstellen[9]. Im Strafrecht (etwa im Rahmen des § 240 StGB) gilt als Gewalt dementsprechend nur jede körperliche Tätigkeit, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden[10].
Dennoch scheint Sprache und Gesetzgebung für die Erklärung der Gewalt im Nationalsozialismus eine herausragende Bedeutung zuzukommen. Zwischen dem alltäglichen Sprachgebrauch und insbesondere zwischen der politischen Propaganda im Dritten Reich und der tatsächlich verübten Gewalt bestehen Wechselbeziehungen[11] und der „bürokratisch organisierte Massenmord“[12] an der jüdischen Bevölkerung scheint ohne eine entsprechende „rechtliche“ Regelung undenkbar.
Deshalb ist es angemessen diese beiden Phänomene aus den oben genannten Gründen zwar nicht als Fälle der direkten und unmittelbaren Gewaltanwendung, aber als Formen der mittelbaren Gewalt in Betracht zu ziehen.
III. Gewalt durch Sprache (Propaganda)
„Viele Wort, ein halber Mord!“ – so die Vermutung eines Sprichwortes. Dass darin mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit steckt, zeigt die Sprachwirklichkeit vor und während der Zeit des Nationalsozialismus und die damit in Verbindung stehenden Kriegsverbrechen.
1. Antisemistische Tendenzen vor der Machtergreifung
Nicht erst mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden Juden zum Ziel verbaler Entgleisungen. Schon im 19. Jahrhundert waren abfällige Sprichwörterreime ein zweifelhaftes Kulturgut. „Der Jude hat wohl des Menschen Gestalt / Doch fehlt ihm des Menschen inn’rer Gehalt!“ oder „Judentrug und Judenplag / Währet bis zum jüngsten Tag!“ und ähnliche Sprüche fanden sich schon damals in gängigen Sprichwörtersammlungen. Doch auch die damalige Wissenschaft war keineswegs frei von antisemitischem Gedankengut. So schrieb der deutsche Kulturphilosoph Paul de Lagarde (1827-1891) in einem seiner Werke den folgenden Satz: „Wobei man merke, dass die Heimat des Volkes, Palästina, 25000 Juden beherbergt, Preußen derer 366543, speziell Berlin 64355 enthält.“ Bereits hier zeigt sich an der sprachlichen Darstellung der Juden eine Tendenz zur Verdinglichung. Juden leben nicht etwa in Berlin, sondern Berlin enthält die Juden, vergleichbar einem Gefäß und dessen Gefäßinhalt[13]. Solche bereits in der Gesellschaft vorhandenen Tendenzen und Ressentiments konnten von den Nationalsozialisten später aufgegriffen werden und schon in den frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts trieben Redner der NSDAP die Entmenschlichung der Juden auf die Spitze: sie strengten nun offen die unterschiedlichsten Tiervergleiche und Vernichtungsphantasien an, indem sie etwa forderten, Juden seien wie ein Bandwurm auszurotten, man solle sie „wie einen Floh […] unschädlich“ machen[14].
[...]
[1] Vgl. Meier, Kriminologie, der in § 1 Rn 14 „abweichendes Verhalten“ und „Devianz“ als maßgebliche Begriffe der Kriminologie definiert.
[2] Walter, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, S. 81.
[3] Grundlegend Jäger, Versuch über Makrokriminalität, StV 1988, S. 172 ff; darauf aufbauend derselbe, Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989; zuletzt derselbe, Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts – Kriminalpoltisch-kriminologische Aspekte, in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 325 ff.
[4] Jäger, StV 1988, S. 172; derselbe mit vielen weiteren Beispielen, Makrokriminalität, S. 11.
[5] Thoss, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, S. 301.
[6] Jäger, in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, S. 327.
[7] Ambos, KritV 1996, S. 362.
[8] Reemtsma, Universitas 1996, S. 455.
[9] Vgl. Küper, Strafrecht Besonderer Teil, S. 167.
[10] Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, § 23 Rn 23 (Hervorhebungen von mir).
[11] Paul, Aufstand der Bilder, S. 260, spricht von der wechselseitigen Ergänzung von Gewalt und Propaganda im Nationalsozialismus: „Die Gewalt entfaltete selbst propagandistische Qualitäten, wie umgekehrt die Propaganda zu ihrer Durchsetzung der Gewalt bedurfte.“
[12] Reemtsma, Universitas 1996, S. 453.
[13] Gorr, Nationalsozialistische Sprachwirklichkeit, S. 70 ff.
[14] Zitiert nach Longerich, Politik der Vernichtung, S. 21.
- Arbeit zitieren
- Holger Hofmann (Autor:in), 2006, Makrokriminalität im Dritten Reich. Die Gewalt von Gesellschaften durch Sprache und Gesetze, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64386
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